Dauer, Kalender und UmsLänder

Ich füge den Schlagworten dieses Blogs „UmsLandSachsen“ hinzu. Neben den vielen unerledigten und halbfertigen UmsLand-Projekten liegt mir Sachsen besonders am Herz, wobei ich keine Ahnung habe, was da auf mich zukommt. Nuja, ein bisschen schon: Die ersten etwa 200 Radelkilometer ab der Bayerischen Grenze listen etwa 5500 Höhenmeter. So viel wie das gesamte Saarland auf seiner Runde. Dann jedoch folgt ein Stück von etwa 550 Kilometern Flachland im Osten und im Norden Sachsens und zum Abschluss gehts mit moderaten Höhenmetern noch einmal etwa 400 Kilometer weit zu meinem als Start- und Endpunkt ausbaldowerten Bahnhof in Gutenfürst. Ich weiß nicht, ob dort Züge halten. Ich weiß ohnehin so gut wie nichts über das östlichste Bundesland. Nichts plus X: Erzgebirge, Leipzig, Dresden, Oder, Landmarken zumeist und einige Dinge, die mir Künsterfreund DerEmil im Talk mitgeben konnte. Also schon einiges …

Es bleibt erst einmal eine Skizze, wie ich auch die beiden Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg auf meiner Liste der zu umradelnden Bundesländer habe (und auch schon uMaps dafür angelegt habe).

Hier die uMap UmsLandSachsen. Wann das Projekt stattfindet ist offen.

Projekte skizzieren ist immer gut. Es ist der Anfang. Das Bereitstellen von Möglichkeiten.

Nach dem letzten Blogbeitrag, in dem mir dämmerte, dass ich mich so gut wie nie um meinen Beruf kümmere, Kunst und Schreiben, habe ich mich ein bisschen am Riemen gerissen und wieder Zeit investiert. Dabei ist der Moorlander-Kalender 2026 entstanden und eben dieses Tuning zukünftiger UmsLand-Reiseprojekte. Wie sehr ich „raus“ bin aus meinem Beruf, wurde mir klar, als ich feststellen musste, wie mir die Software praktisch unter dem Hintern weg geupdatet wurde. Gimp, Inkscape und Scribus: glatt vergessen wie ich die für den Kalenderbau notwendigen Programme bedienen muss. Die uMap und OverpassTurbo sind nötig, um Landkarten zu skizzieren; auch da hat sich viel getan …

Nebenbei kam mir das Thema Dauer in den Sinn, als ich einen Getränkedosenrückgabeautomaten mit Getränkedosen fütterte und darüber wäre auch noch ein Artikel zu schreiben, also über Dauer, nicht über Getränkedosenrückgabeautomaten.

PDF Download Moorlander-Kalender 2026

Konditorialdarwinismus

Bearbeitet und publiziert am 21. Oktober 2025

Dumpfe Ahnung vom Untergang und vom Nicht-mehr-weiter-wie-bisher. Die falschen Typen am Stellwerk. Rückwärtsgewand, egoistisch, blind. Das perverse Verständnis, das ich für sie entwickele – ich hasse mich dafür. Ihre kapitaldarwinistische Denke. Mit Schrecken wie ein Blick in den Spiegel die (Selbst)erkenntnis, dass ihre „Idee“ funktioniert.

Die Gesellschaft ein Brot. Jemand ruft, Achtung, Schimmel, wir müssen abschneiden, bevor es zu spät ist. Am einen Ende die Mächtigen, die das Sagen haben, am anderen Ende die Machtlosen, über die entschieden wird, nein, das ist falsch, über den gesamten Brotlaib wird entschieden und es gibt darin viele kleine Stimmen, die – theoretisch – einen Konsens für alle finden müssten. Man muss sie entzweien, am besten mit der Angst vor Schimmel, jemand ruft „Schimmel, wir müssen es abschneiden“.

Aber es gibt keinen Schimmel. Nur die Angst davor wuchert im Gewebe.

Wo setzen wir den Schnitt? Bei den Unallgemeinsten, den Nichtkonformen, ganz klar, das tut nicht weh. Wir separieren sie zunächst durch Diffamierung, dann Schnitt und Ruhe. Bürgergeld, Gleichberechtigung, all das, was das Gros nicht betrifft, aber es ist nur der erste Schnitt, weitere werden folgen.

Scheibchen für Scheibchen schneiden wir den imaginären Gesellschaftsschimmel herunter bis weit hinein in die Mitte, bis nur noch Mächtige übrig sind, bis nur noch einer übrig ist, bis niemand mehr übrig ist. Das Brot, so vertilgt als wäre es niemals verschimmelt.

Ein unreife Geschichte.

Virtualisierung vergangener Leben geliebter Menschen

Ich lasse einen superreifen Apfelbaum zurück. Es ist zum Heulen, aber ich schaffe es nicht, das Obst aufzulesen, in Körbe zu packen und zur heimischen Saftpresse zu bringen.

Der alte Herr F. kommt mir in den Sinn. Nachbar im kleinen Dörfchen in der Nordpfalz, in dem wir lebten. Er überließ unserer Familie seine gepflegte Obstanlage, weil er, weit über 80, die Anlage nicht mehr pflegen konnte.

Ein frühes Beispiel, wie Menschen mit dem Vergehen und letztlich dem Tod anderer Menschen „mehr“ Menschen werden. Mein Vater war plötzlich nicht mehr nur Lehrer, sondern auch Obstbauer. Meine Mutter, meine Schwester und ich waren zu geringem Teil auch Obstbäuerinnen und -bauern, indem wir im Herbst bei der Ernte halfen.

In mir kumuliert nach so vielen Jahren alles an Menschenleben, was einst war, was verging und ich habe Schwierigkeiten, in dem Gewusel mich selbst zu finden. Mehr noch: Herr Irgendlink, mach dir diese Kunstbübchenrechnung doch mal klar. Wie soll das denn gehen, in die Rollen aller lieben Vergangenen zu schlüpfen in nur einer, nämlich deiner eigenen Lebenszeit? Denk doch mal nach. In Mathe warst du doch gar nicht so schlecht. Du kannst nicht der Obstbauer sein und der Forstwirt und der Chronist eines Tälchens in der Nordpfalz und Zeichner, Holzbildhauer, Serveradmin, Webseitengestalter, Hausmeister, Solarpunker und last but not least der schreibende Konzeptkünstler, der du womöglich tatsächlich bist.

Aber, sagt der schreibende Konzeptkünstler, wenn ich darüber schreibe und ein Kunstkonzept entwickele, dann könnte das durchaus klappen. Die Virtualisierung vergangener Leben geliebter Menschen in eine neue, nicht zeitaufwändige und nichtphysische Form bringen. Da mal drüber nachgedacht?

Von Soundso-Fischchen, Nachlässen und kompletten Menschenleben

Schwarzweißbild einer Abrissbaustelle am dörflichen Straßenrand. Dominant steht im Vordergrund links der Bildmitte noch eine zweiläufige Hauseingangstreppe, während dahinter schon neue Fundamente gelegt werden. Ein Baukran ist rechts im düsteren Bild zu sehen.

„Mit jedem Tod werde ich ein Mensch mehr“, kam mir heute Morgen in den Sinn. Nein, niemand ist gestorben im Verwandten oder Bekanntenkreis.

Ich ersticke in Zutuns. Das Atelier befindet sich im Umbau und Renovation. Ich komme endlich dazu, den zwar wenigen, aber insgeheim gehaltvollen Nachlass von Journalist F. zu sichten, den ich vor seinem Tod aus der zu räumenden Journalistenbude gerettet hatte. Damals, als noch Hoffnung bestand, er vorübergehend ins Pflegeheim kam, stets hoffte, wieder auf die Beine zu kommen, körperlich wie materiell und er eines Tages in eine Betreutes-Wohnen- Einrichtung umziehen könnte, wo er sich mit der geretteten Habe hätte gemütlich einrichten können. Es kam anders und nun ist es schon über zwei Jahre her, dass wir seine Asche bei einem Baumwunder namens Braut und Bräutigam unweit einer Kapelle im Saarland verstreuten. Eigentlich war das mit der Asche ein bisschen anders geplant, aber das ist eine andere Geschichte.

Mit jedem Tod landen Dinge in den Leben der Nächsten. Ganze Nachlässe, sentimentale Erinnerungen, hier ein Foto, da eine Schatulle, manchmal Reichtum, oft Pflichten – nein, ich habe die Dinge nicht vom Journalisten geerbt, ich bin nur derjenige, der sie verwahrt. Seine Erbin wollte kaum etwas. Selbst die Familienfotos, fein gerahmt, liegen noch in einer Kiste im Atelier.

Und die Kunstsammlung; die hat es in sich. Nicht dass die Kunstwerke extrem hohe Werte erzielen würden, aber doch, unter den Bilder finden sich einige bekannte Namen und viele Kolleginnen und Kollegen, die ich kenne, die Journalist F. im Laufe seines Journalistendaseins interviewte, deren Ausstellungen er besprach, die ihm hie und da etwas schenkten, denen er hie und da etwas abkaufte, das ihm gefiel. Es befinden sich sogar Irgendlinksche Werke in der Sammlung, die auch ihren Preis erzielen können. Vor allem aber ist die Kunstsammlung sehr schön, geschmackvoll, macht sich gut an Wänden in feinen weißen Wohnungen, wenn man denn eine hat. Die Künstlerbude selbst hängt leider A selbst schon voller Kunst und B sind die Wände nicht weiß genug, nicht groß genug, zu viele Spinnen allüberall, die ihre Notdurft auf den Rahmen hinterlassen.

„Hüte Dich vor dem Soundso-Fischchen“, sagte jüngst Galerist B. Das Soundso-Fischchen ist etwas größer als das Silberfischchen; er zeigte mit den Fingern und ich stellte mir vor, dass es etwa einen halben Zentimeter lang ist, schlank und dass es, wie der Galerist warnte, Papier frisst. Eine Unsumme Euro habe es einst in der Galerie verschlungen; er nannte Namen der KünstlerInnen, die vom Soundso-Fischchen gefressen wurden, „achja und der Spinnenschiss? Den kriegste einfach weggewischt“, sagte er. Das Soundso-Fischchen heißt eigentlich anders, aber ich habe den Namen vergessen. Und es spielt hier, auf dem von Spinnen und Bilchen umschwärmten einsamen Gehöft im Scheunenatelier zum Glück auch keine Rolle. Fotos frisst es nicht und auch keine komischen Objekte und keine Fahrradketten und ich habe auch noch nie ein Soundso-Fischchen gesehen. Ich stelle es mir schlank und silbrig vor und wenn man die Brille aufsetzt, um besser zu sehen, zappeln an dem kümmelkornförmigen Körper unzählige Beine und es besteht aus viel Maul, das es aufreißt, um Papier zu fressen.

Die Kunstwerke von Journalist F., viele aus Papier, sind tadellos erhalten. Ich entstaubte sie und vielleicht machen wir endlich einmal eine Ausstellung in der Galerie. Die Sammlung F.! Und es gibt eine Lesung aus seinem Buch und seinen Blogtexten, so wie es zu seinen Lebzeiten schon überlegt war.

Achje, die Zeit, wie sie uns immer ein Schnippchen schlägt, uns auf falschen Füßen erwischt, unsere Lebenszeitplanung durchkreuzt; auch ich bin betroffen.

Gestern bei einer Radeltour mit einem wortkargen aserbaidschanischen Künstler der Galerie (ich bin durch Zufall sein Buddy geworden, der ihm hilft für seine Residency in der Galerie Fuß zu fassen; andere Geschichte) kamen mir all die Toten der letzten zehn Jahre in den Sinn. Ich mache das manchmal, surfe gedanklich auf den Gräbern, die, einst frisch ausgehoben, nun überwachsen, die vergangenen Leben der Vorangegangenen  behüten. Ja, vielleicht könnten wir mal zum Journalsitenbaum radeln, dachte ich und dann: Wann hat das eigentlich angefangen mit dem andauernden Sterben im Verwandten- und Freundeskreis? Zehn Jahre her, ja, ich erinnere mich; plötzlich ging jedes Jahr einer der männlichen Verwandten, zack, zack, zack und dazwischen gleichaltrige oder gar jüngere Freundinnen und Freunde, Twitterbekanntschaften, die einem lieb geworden waren, Social Media-Buddys, Künstlerkollegen und -kolleginnen und Freunde und Freundinnen von Freunden und Freundinnen und und und und insbesondere mit den nahestehenden Gestorbenen oder noch Sterbenden werde ich jedesmal ein Mensch mehr, so dachte mein Hirn, kurbelnd im Bliestal … ja ja, ist es nicht so, mit jedem toten Nahen übernimmst du ein Teil seiner Lebensbürde, seines Wandelns in der Welt, Dinge und Pflichten gehen in deinen Besitz über. Eine kaputte Kettensäge vom Onkel, viele kaputte Geräte des Vaters, auch viele noch ganze Geräte natürlich; aber mehr noch, vielleicht geht das ja nur mir so, die Lebensträume der Vergangenen leben oft auch zu einem gewissen Teil in mir weiter und damit komme ich zum großen Problem: Es wird irgendwann einen finalen Overload geben, in dem ich, also wenn nicht ich es bin, der stirbt, von allen alles verinnerlicht haben werde und mich mühsam durchs Leben schleppe, versuchend, die Dinge zu richten.

Vielleicht kommt daher der rigorose Gedanke, falls mir mal etwas zustößt: Mietet einen Abfallcontainer, schmeißt alles rein, löscht die Festplatten, verscharrt mich so billig wie möglich und genießt euer Leben.

Tango mortale des Radreisens – Tag 24

Zum Bahnhof Hannover und per Zug nach Homburg/Saar

Ich schlingere nicht einmal wie sonst, wenn ich eine zwölf oder mehrprozentige Steigung hinauf kurbele. Stoisch, nein mantrisch gehts in die Abenddämmerung. Meinetwegen könnte die Steigung ewig so weiter gehen hinein in die Stille der Nacht, hinauf auf einen imaginären Simplon-Pass des langen Reisens. Irgendwo oben würde mich ein riesiger steinerner Adler erwarten, der seine Flügel ausbreitet und überm Dunst der großen Höhe wacht. Daneben tauch das Bild meines Freunds Marc auf, 2009 im August überquerten wir per Auto den Simplon auf dem Weg in sein „Hüsli“ im Tessin.

Zeiten schlagen über mir zusammen, treffen sich, winden sich, verweben sich. Es ist egal geworden, was jetzt ist, was vorhin war, was ich wann wo mal erlebte, alles findet gleichzeitig statt im eigenen Kopf. Das Früher ist das Später geworden und umgekehrt. Morgen war schon, ist lange her. Werde ich verrückt? Mitnichten.

Der Tag war der anstrengendste der Reise. Bei meinem Lager in einer Schutzhütte frühstückte ich Brot, Käse, gebackene Blutwurst, Haferflocken, Milch, Kaffee, alles vorhanden. ich müsste nur noch wenige Lebensmittel kaufen an diesem Samstag und ich könnte ein weiteres Wochenende überstehen auf dieser Reise, die mich irgendwohin führte, mich noch immer irgendwohin führt. Die Hütte ist groß genug, dass ich die Hängematte aufhängen konnte, in der ich abends ein wenig baumelte. Ist wie Sofa nur besser. Ich hatte fest vor, in der Hängematte zu übernachten, bis mich eine Stechmücke laut „sieend“ plagte, ich das Zelt noch aufbaute, nur das Innenzelt als Mückenschutz. Ich teilte mir den kiesigen Boden mit riesigen Käfern und einer Maus, aber besser, als in der Hängematte von der Stechmücke am Schlafen gehindert zu werden. Im Mülleimer der Hütte nehme ich eine Pfanddose ins Gepäck. Vier Glasflaschen lasse ich liegen. Hätte ich normalerweise auch noch eingepackt, aber meine Allestasche, in der ich eine einzige Muschel und allerlei Pfand aufbewahrte, hatte ich ja an der Elbe oder nördlich davon verloren. Hinein in den Tag, vorbei am Flughafen Hannover. Ab und zu ein Flugzeug. Grauer Himmel, Regenneigung. Rückenwind. Baumbewuchs um die Wege, über die mich das Navi lotste, ostwärts Richtung A7 und südöstlich ab Langenhagen Richtung Hannover. Die Tour ist noch immer in einem fragilen „es könnte sich so oder so entwickeln-Zustand“. Obschon ich sehr stark Richtung Bahnfahrt ab Hannover tendiere und das Navi auch zum Bahnhof programmiert habe. Das Navii zeigt: Ankunft etwa viertel vor zehn. Als ich aus dem Funkloch komme: eine Nachricht von Freund Ludwig, dass er etwa 13-14 Uhr Höhe Hannover auf der A7 südwärts fährt. Verlockend, wirklich verlockend. Ich liebäugele, kalkuliere, schaue Landkarte, rechne Kilometer und Zeit, will ja dieses Wochenende heim. Mit Ludwig bis ins Bayrische? Das wäre eine Möglichkeit. Kipppunkt der Reise, einmal mehr. Wenn ich mit Ludwig fahre, kann ich in Ochsenfurt raus, 45 Kilometer westwärts radeln bis Osterburken und dort in die S1 steigen nach Homburg. Aber ist die Strecke überhaupt schon wieder offen? Diese Version klingt jdenfalls sympathisch. Ich checke die S1. Sie fährt gar nicht. Die Bahnapp lotst mich mit Umstiegen von wo nach wo, bloß nicht die gute alte Direktverbindung, die drei Stunden oder mehr dauert vom Rande Baden-Wuerttembergs bis nach Homburg Saar. Ruckzuck verliert die Ludwig-Variante an Attraktivität. Verlockend wäre, mit ihm in die Finca jenseits Nürnbergs zu fahren zu Freund Leb. Das ist SEIN Tagesziel, aber das würde mich noch Tage weit weg von daheim bringen.

10:33 fährt mein Zug am Hauptbahnhof Hannover. Ein letzter Einkauf in einem Netto in Langenhagen, direkt am Wegrand. Banane und Pfandrückgabe. Ich erhalte 51 Cent zurück. Guter Tag. Auf dem Bahnsteig proppenvoll und es wird Minute um Minute noch voller. Zwei Männer in Warnwesten schicken alle Leute nach vorne, weiter weiter weiter bis zu Abschnitt A. Ich frage, wo ist das Radelabteil und einer antwortet, genau hier, also im weniger frequentierten Bereich. Habe Puls und Adrenalin. Die vielen Leute nach wochenlanger gefühlter Alleinsamkeit und nur ab-und-zuen Phasen der Dichtbevölkerung, die ich durchradelte wie Brei, tun mir nicht gut. Ich gottesurteile, wenn es nicht passt mit dem Einstieg, bleibe ich hier, rufe Ludwig an, fahre rüber zur Autobahn, warte auf ihn und verschiebe mein Zugfahrproblem nach Langenselbold oder Würzburg oder ich fahre doch mit zur Finca und denke tags darauf die Reise neu.

Der Einstieg klappt besser als erwartet. Die Metronom-Züge haben explizite Fahrradbateile, so dass sich keine sturen Leute irgendwo hinsetzen- oder stellen können. Habe sogar Sitzplatz. Bis Göttingen entspannt Zug fahren etwa ein zwei Stunden. Dort nächster Zug, nächstes übles Einsteigspiel. Auch da Glück. Zwei Radlerinnen auf dem Rückweg von einer einwöchigen Harz-Radreise wollen auch nach Frankfurt, sagen mir, dass es von Kassel keinen Zug nach Frankfurt gibt und man hinausradeln muss zur Wilhelmshöhe, dem Fernbahnhof. Nie durch Kassel ohne Wilhelmshöhe, denke ich. An der Wilhelmshöhe führt kein Weg vorbei. Fünf Kilometer sind zu überbrücken und der Anschluss fährt 14:14 Uhr. Gutso. Kann ich in ein Grünland pinkeln, denn das Zugklo ist ewig besetzt. Ich vermute Schwarzfahrende, die sich darin verstecken, oder einen Defekt. Wilhelmshöhe Brötchen gekauft in einem Backwerk, sonst wäre ich verhungert. Der Zug fährt nicht wie erwartet durch bis Frankfurt. Das bedeutet: ein weiterer peinvoller Umstieg in Fulda. Es ist immer aufregend und an diesem Samstag sind besonders viele Radelnde unterwegs. Junger Mann mit Kurierrucksack im Abteil. Wir plaudern. Er erzählt mir von Trekkingplätzen in der hessichen Röhn, die ein studentisches Hochschul-Projekt sind. Muss schick sein und nützlich. Eine zunächst mürrische Radlerin mit Chemo-bedingtem jungem Haarnachwuchs klinkt sich ein wegen des Trekkinghütten-Designs. Sie habe auch Design studiert und es interessiere sie als Wanderin. So plaudern wir bis Witzenhausen, wo der junge Mann aussteigt. Übrigens auch eine Art Europenner, der gerne wild zeltet, in Kassel und Hannover als Kurier arbeitet, im August will er nach Frankreich touren.

Adrenalin in Kassel und es klappt dennoch. Ich weiß gar nicht, was ich mich da immer anstelle, aber die Aufregung und die Sorge ist einfach in mir. Was kann schon passieren, außer dass ich nicht in den Zug komme und eine Stunde warten muss oder auch zwei. Es ist wohl dieses etwas partout wollen und es nicht sicher kriegen können, was das Leben so kitzelt. Frankfurt von Gleis 10 zu Gleis 20. Am Kopfbahnhof elendes Gewusel, kein Spaß natürlich. Gleis 20 zunächst schön leer, ich atme auf, könnte ein guter finaler Zug werden ins Saarland, ein Mann im Rollstuhl rollt vorbei, fragt um Geld. Ich gebe ihm ein zwei Euro-Stück, schaue ihm nach wie er weiter den Bahnsteig hinauf radelt, die Leute um Geld fragt. Eine Sackgasse natürlich, er muss auch wieder zurück. Muss an Journalist F. denken, denn der Mann hatte ein wundes Bein, genau wie mein toter Freund F., ach und sicher noch viel mehr Leid als nur das Bein. Gebe ihm auf dem Rückweg nochmal ein zwei Euro- Stück. Im Geldbeutel ist nun nur noch weißes Geld und ein symbolischer fünf Euro-Schein. Bahnsteig nun doch voll und als der Zug einrollt, stömen alle vom weit draußen Ende des Sackgassenbahnsteigs zurück, denn er ist nur halb lang. Mega Gerangel. Ich stehe zum Glück direkt beim Fahrradabteil hinter zwei anderen Radlern. Aussteigende und Einsteigende schlagen übereinander wie die Wellen von Nord- und Ostsee bei Skagen, denke ich und als ich endlich ins Abteil komme, ist da noch ein Radler, der raus will. Habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ja Reindrängler bin in dem Sinn, aber vor mir sind schon zig Leute da rein. Er siehts gelassen, unsere Taschen verheddern sich, es ist wie vermurkster Tanz, lösen sich schließlich und dann bin ich drin, er draußen. Tango mortale des Fahrradbabteilgerangels am Bahnhof Franfurt.

Die R3 kriegt einen weitere Wagen vorne angehängt, was der Zugführer schließlich kund tut, als schon alle im hinteren Wagen eingedost sind. Wem es zu voll ist, der kann umsteigen nach vorne. Ach ich Depp ohne Vertrauen! Aber konnte es ja nicht wissen. In Frankfurt ist der Sog nach Hause schon immens. Drei Stunden Fahrt und ich bin daheim. 17:28 geht es los. Der Zugführer hat Humor, lockert durch Ansagen wie etwa. Leider fahren wir seit Rüsselsheim hinter einem anderen Zug, der partout nicht vom Fleck kommt und verspäten uns deswegen, aber hey, sehen sie es gelassen, schneller als zu Fuß sind wir ja doch. Alle lachen. Im Abteil sitzt auch ein Sankt Wendeler Radler nach Kattegat-Umrundung. Von Rostock schiffte er nach Trelleborg, und radelte via Malmö, Göteborg usw. Er ist seit Flensburg heute früh in Zügen unterwegs. Was wohl nur dank ICE möglich war. Wir werden nicht so ganz warm. Wohl wirke ich wegen des konsequent getragenen Urbandoos auch etwas merkwürdig. Aber hey, das Gefühl, ein Minimum gegen mögliche Erkältungskrankheiten getan zu haben, tut mir dennoch gut. In den Zügen traf ich ein zwei Leute mit Maske. Der Rest schien unbesorgt. Es gab etliche Niesende, Schnupfende, Hustende. Und es war voll, so voll.

Bis Neunkirchen mit einer Gruppe Vorrentnerinnen meines Alters im Abteil, die sich einen schönen Irgendwohin-Tag gemacht hatten am Niederwalddenkmal und die tolle Geschichten erzählten von ihrer Tour. Offenbar gibt es da oben auch abenteuerliche Höhlen und man kann ein Kombiticket kaufen,  für 22 Euro, das für die Schifffahrt ab Bingen gilt und die Seilbahnen hinauf und hinunter zum Denkmal. Darüber mal nachdenken, falls man einen Ausflug dahin macht.

Neunkirchen, Umstieg wegen Verspätung verpasst. In der Unterführung zum Aufzug wate ich meterweit durch Urinpfützen. Zwei samstäglich angetrunkene Jungs mit mir im Abteil, eigentlich ganz nett, aber eben angetrunken. Ein Mädchen mit gleich aussehendem Schoßhund auf dem Arm steigt zu und ich muss schmunzeln ob des komischen Bilkds und als die Jungs lachen – das Mädchen kriegt es zum Glück nicht mit, muss ich auch lachen, hasse mich dafür, sollst doch die Minderheiten schützen und zu ihnen stehen, nicht über sie lachen und das Mädchen gerät mir insgeheim zur Galionsfigur für Minderheiten, obschon das natürlich quatsch ist, aber es ist diese Du bist nicht perfekt-Situation wie auch im Zug zuvor, als ich mit dem aussteigenden Radler den Tango Mortale tanzte. Ich treibe im Brei der Masse und werde auch in dieser Masse bewegt und wenn ich individuelle Bestrebungen hin zu einer für mich als besser empfundenen Welt machen will, dass habe ich diese Masse als Hinderungsgrund und widersetze du dich erst einmal dem kollektiven Lachen, das ist gar nicht so einfach, wenn einer anfängt und im Grunde ist es mit dem Gähnen ja so ähnlich.

Homburg bis heim, neun Kilometer, oft geradelt. In Kirrberg radele ich die Kalköfer-Weg-Bypassage, also nicht den schmalen Fußpfad mit den hinein ragenden Hecken vorbei am Obstgrundstück, sondern den Teerweg Richtung Heilbachhof, die zwölf Prozent, die ewig dauern dürften. Kurzes Stück Sickinger Höhe. In der Ski und Wanderhütte ist Janda, Hippiemusik und Gesang und dann daheim. Und wie zum Glück weiß ich, als ich vor der Tür stehe, wo ich den Haustürschlüssel versteckt habe. Ich hatte es vor der Abreise auch aufs Video gesprochen, aber kram du erst einmal die volle Speicherkarte hervor und hangele dich zum ersten Video durch.

Was bleibt: bald 2000 Kilometer irgendwohin und wieder heim, dieses Blog, viele Bilder, vierhundert GB Filme und Ideen, Ruhe, hoffentlich bleibt sie, Zufriedenheit, froh, es getan zu haben, froh, es geschafft zu haben, wieder mehr Lebensmut und noch mehr Gelassenheit.

Was die Tippfehler der Beiträge betrifft, die ich in den letzten Wochen schrieb, nun am Tresen der heimischen Draußen-Küche unterm Vordach des Ateliers, halb stehend, halb sitzend am Barhocker lehnend, ja, sie sind meiner Schludrigkeit und Hast beim Schreiben geschuldet, aber auch zu einem guten Teil dem Umstand, dass die Bluetooth-Übertragnung machmal hakt, dass die Tastatur springt, aber hey, sie taugt und „schneller als zu Fuß“ geht es ohnehin.