Zurück aus Mainz. Spätabendliche Autobahn. Unheimlich fetzte Nebel mit hoher Geschwindigkeit, während ich die letzten zehn Kilometer über die Sickinger Höhe fuhr. Szenen wie aus einem Horrorfilm. Für Sekundenbruchteile war mir, als stünde eine Frau auf der Straße unweit eines Dorfs namens Käshofen. Ich bremste, bemerkte die Illusion, beschleunigte wieder. Gerade genug Zeit, um im Stillstand zwischen Vollbremsung und Beschleunigung zu erkennen, wie schnell die Wolkenfetzen von Westen heran nahten.
Das Temperaturgefälle zwischen der Landeshauptstadt und diesem hintersten Zipfel von Rheinland-Pfalz ist frappierend: Mainz null, Kaiserslautern sechs, Zweibrücken vier Grad. Luftlinie sind das nur 100 km. Sie haben die WM-Werbeschilder an der Autobahn aufgebaut: Die Welt zu Gast bei Freunden. Obendrein weisen braune Tafeln den Kaiserslauterer japanischen Garten aus, ein Überbleibsel der Landes(oder Bundes-?)gartenschau. Ramstein: der Militär-Airport zischt gespenstisch im Dunkel. Megawattflutlichter machen die Nacht zum Tag. Verwirrt höre ich Rockland-Radio.
Zurück zur Sickinger Höhe, wo ich für den Bruchteil der Sekunde zum Stillstand gekommen bin, weil diese geisterhafte Frau im Nebel auftauchte, verschwand, mein Herz rasen machte. Das Leben passierte revue. Es hatte in Mainz begonnen und würde in Zweibrücken enden. Dazwischen ein kleines Glück namens Kaiserslautern. So ist das mit Straßen und Zeitlinien. Sie streben dem Ende entgegen. Sie kennen keinen Halt. Sie sind unerbittlich, schnell, und lassen über weite Strecken keine Entscheidung zu. Straßen haben den Vorteil, dass sie ab und zu eine andere Straße kreuzen. Dann kann man abbiegen. Das Ruder nochmal rumreißen. Den Kurs korrigieren. Das Leben zeigt sich unerbittlicher. Im Gegensatz zur Straße kennt es nur eine Richtung. Ich erinnerte mich meines ersten nächtlichen Aufenthalts in Mainz. Ist gut 15 Jahre her. Ich hatte mich verirrt. Mit dem Fahrrad durchquerte ich einen Torbogen am Fichteplatz, kam vor einer roten Ampel zum Stehen, fragte mich wo ich bin, erspähte ein Mädchen, fragte sie, welche Richtung ich einschlagen müsse, um in den Stadtteil Weisenau zu gelangen. Sie sagte, sie sei fremd und als die Ampel grün wurde, überquerte sie die Straße und verschwand im Park. Ratlos ließ ich einige Ampelphasen passieren. Ein Krankenwagen plärrte mit Martinshorn heran. Kein Mensch weit und breit, den man hätte fragen können. Also fällte ich meine erste Entscheidung in der Landeshauptstadt: Geradeaus. Das führte über die Goldgrube zur Göttelmannstraße, welche mir bekannt vor kam, weil sie an einem langen dunklen Park vorbei führte. Es war Frühling. In einer Seitenstraße lagen Kirschblüten über und über und überall. Die Welt war wunderbar in jener Nacht. Dessen erinnerte ich mich vorhin während der düstren abgeklärten Fahrt zwischen Mainz und Zweibrücken. Die Uhr hätte dürfen nie weiterlaufen, sagte ich mir. Es wäre gut, noch immer bei jener Ampel am Fichteplatz zu stehen, Phase um Phase, jung, unkundig, neugierig und verirrt.