Straße nach Gibraltar 013

anfang (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Zunächst hatte ich versucht, mein Zelt mit Blick auf den Lac de Kir in Dijon aufzubauen. Dann könnte ich in der Morgendämmerung hinusschauen aufs Wasser und den Dunst beobachten, wie er steigt und in der Luft aufgeht, oder wie er fällt und wieder zu Wasser wird. Doch es erwies sich als unmöglich, jenseits der Buchshecke, welche den Platz abgrenze zu zelten. Ich stellte mein Zelt auf Platz 32, unweit eines niederländischen Wohnmobils, in dem ein Rentnerpaar wohnte
Bei den üblichen Abendverrichtungen war ich unruhig: Essen kochen und schnell verzehren. Eigentlich wollte ich gerne den direkten Kontakt nach Hause aufzunehmen, um die Misere mit den Kreditkarten zu klären. Das günstigste Szenario wäre: die Kreditkarten liegen in meiner Wohnung auf dem Fußboden. Dann wäre wenigstens das Konto sicher. Schnell schlang ich eine Portion Spaghetti mit Tomatenmark und einigen rohen Karotten. Reiseessen ist einfach und zweckmäßig. Trank eine Kanne Tee. Dann wanderte ich hinüber zur Rezeption, wo zwei Telefone unter grellen Neonröhren hingen. Ich wählte meine Eltern an, doch niemand ging ran, also rief ich schweren Herzens bei S. an, in der Hoffnung, sie würde mir in meiner kritischen Kreditkartensache voll und ganz zu Diensten sein. „Hallo,“ klang sie fröhlich, um, nachdem ich mich zu erkennen gegeben hatte, in einen missmutigen Ton zu verfallen. Trotzdem erklärte ich ihr mein Anliegen: „Du hast doch noch den Wohnungsschlüssel, könntest Du nicht mal eben schnell …“ Herzklopfen und Stille. Es dauerte knappe fünf Franc (knapp 1Euro), dann sagte sie „Ja, ruf mich gleich zurück.“ Sie legte auf.

Was nun? An der Wand lehnen und warten. Die seltsame Kälte erloschener Liebe kroch, sie bemächtigte sich meiner. Andererseits, was hatte ich erwartet? Wir waren im Zwist auseinander gegangen. Vieles blieb ungeklärt. „Es wäre besser, wir sehen uns eine Weile nicht“, hatte sie gesagt und mich denoch zu ihrem Geburtstagsfest eingeladen (aus purer Höflichkeit hatte ich daran teilgenommen).

Nun stand ich in einer tristen Telefonzelle mitten in Frankreich und zählte die zehn Minuten, die sie benötigen würde, um zu meiner Wohnung zu fahren und den Fußboden nach den Kreditkarten abzusuchen.

Langsam verstrich die Zeit. Der Holländer kam in die Telefonzelle nebenan. Fröhlich meldete er die wunderbaren Abenteuer, die man als Reisender alltäglich erlebt nach Hause. Ich spitzte die Ohren. Er redete vom Wetter, und dass es Morgen besser werden sollte. Endlich Frühling. Ich versuchte, zu erfahren, mit wem er telefonierte. Vermutlich ein Mann, denn er flakste. Sein Burder? Vielleicht sein Vater. Es war eine Wohltat, einen glücklichen Menschen mit einem glücklichen Menschen beim telefonieren zu belauschen.
Im Lac de Kir plätscherte eine Fontäne. Die Stadt emittierte ein permanentes Hintergrundrauschen. Ein Martinshorn jaulte. Ein Schwarm Zugvögel zog mit 30 Stundenkilometern über den Campingplatz gen Süden. ihr Kreischen war unheimlich, wie nicht von dieser Welt.

Nach endlosen zehn Minuten wälhlte ich erneut S.s Nummer. Sofort ging sie ran, sagte: „Da ist nichts.“ Und noch ehe ich etwas erwidern konnte, legte sie auf.

Die Liebe kann ein einseitiges Geschäft sein. Ich gestehe, dass in dieser Nacht Tränen flossen. Auf dem Lac de Kir waberte der Dunst. Ein Maulwurf bohrte seine sture Nase direkt neben meinem Zelt durch die Erde. Die Luft roch gut.

Der Drive des Jazz

Die Spätnachtschichten der letzten Tage haben ihre Nachwirkung. Ich bin (1 Uhr) putzmunter.

Erinnere mich, in einem ruhigen Moment vorgestern mit Journalist F. vor der Tür des Backstagebereichs gestanden zu haben. Regen prasselte auf den Ü-Wagen des Rundfunks. Dicke Kabel waren, unter Blechen verborgen, bis auf die Bühne gestrippt. Wir rauchten eine Zigarette. Journailst F. atmete tief durch. Ich sagte: „Wir haben Glück. Man hat mir zwei Autoschlüssel in die Hand gedrückt. Von Neuwagen, die ich umparken muss, falls sie im Weg stehen. Man könnte sie über die Grenze bringen und verhökern.“ Journalist F. trumpfte: „Ich habe 12 Hotelzimmer von der Bigband. Die wollen später noch heim.“ Da konterte ich: „Hab nen Generalschlüssel von der Halle, man sagt, er passt auch für den Tresor.“ Wir lachten und pusteten den Rauch in die vernieselte Luft. Was waren wir reich. Auf der Bühne röhrte die Improvisation und dröhnte das Koks. Einige Alphamusiker hatten sich mit ihren Freundinnen im Backstageraum eingenistet. Es gab viel zu tun.

Straße nach Gibraltar 012

anfang (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Und also schrieb ich in mein Tagebuch

19. 4. 00, Dijon Talant

Die Rue de Mayance ist eine hässliche Industriestraße. Sie ist nach Dijons Partnerstadt Mainz benannt und ähnelt der Mombacher Straße dort. Nur der ewige Duft industriell gerösteten Kaffees fehlt. Wenn man hier nach dem Weg fragt, wird man ignoriert wie der Punkt in einer prämathematischen Welt. Eine Dame mit Hündchen starrte konsequent in die Luft, bis ich schließlich so laut mit ihr redete, dass es schon fast ein Schreien war. Ich muss wohl nicht sehr vertrauenerweckend gewirkt haben. Vorhin im Gewimmel der großen Straße wurde mir bewusst, wie skurril meine Erscheinung doch sein mochte. Ein schweißriechender vollbepackter Radler, der mit fremdem Akzent spricht, in einer Gegend, die man am Besten nur mit dem Auto durchquert.

Dann die Kreditkarten weg. Vorm Bankautomat sämtliche Taschen durchwühlt. Keine Ahnung, ob ich sie zu Hause auf dem Boden habe liegen lassen, oder unterwegs, vielleicht in Bayon auf dem Campingplatz, verloren habe? Somit auch keine Ahnung, wieviel bzw. ob überhaupt noch Geld auf dem Konto ist. Vielleicht wurde es geplündert? Mit einem Schlag zum Penner mutiert.

Nun hier auf dem Campingplatz am Lac de Kir. Meine Vermutung scheint sich zu bestätigen: ein Radweg führt entlang des Canal de Bourgogne, welcher direkt hier am Lac de Kir zu beginnen scheint.

Trotzdem keine große Lust, weiter zu fahren. Mein Geld könnte gerade noch reichen, um, in allen Genüssen schwelgend, die man sich als Reisender nur vorzustellen vermag, zurück zu radeln. Mit dem Zug wäre ich noch heute Abend wieder zu Hause. Was kommt heute im Fernsehen?

Ich muss nachdenken.

Ich muss telefonieren.

Straße nach Gibraltar 011

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Mittwoch, 19. April 2000, Dijon oder: wie man mit dem Fahrrad große Städte durchquert

Es liegt auf der Hand, dass man als Radler in großen Städten mehr oder weniger auf verlorenem Posten steht, vor allem in Frankreich. Die einzige Ausnahme auf der Welt dürfte Amsterdam sein, ein Paradies für Radler, mehr noch, Radler besitzen dort alle Macht der Erde. Nicht so in Dijon. Auf der stark befahrenen D 28 überquerte ich bei Ruffey den äußeren Stadtring, nichtsahnend, welche Hatz und Hektik mich in Dijon erwarten würde. Bei einem Supermarkt kaufte ich Lebensmittel, ein neues Tagebuch und die Michelinkarte Nummer 69, durch welche mich die nächsten beiden Tage mein Weg führen sollte. Ich folgte den Schildern Richtung Centre Ville, denn das ist stets meine Taktik bei der Durchquerung von Städten. Ich betrachte sie als Knoten, wobei die einzelnen Straßen ein willkürlich verknüpftes Gewirre darstellen. Der Gordische Knoten des Verkehrswesens lag in Form von Dijon vor mir. Ein Ende des Seils war die D 28, das andere der Canal de Bourgogne. Inbegriff des Südens, die Pforte ins Glück. Dort würde die Sonne lachen und das Radeln nur so eine Freude sein. Mein einfaches Stadtdurchquerungskredo lautete: Richtung Centre Ville, bis keine Centre Ville Schilder mehr zu sehen sind. Dann befände man sich logischer Weise im Zentrum. Der Kern des Knotens. Dort müsste ich nur noch die Richtung nach Draußen finden.

Bei einem Bankautomaten stoppte ich, denn meine Barvorräte waren bis auf 150 Franc verbraucht (ca. 20 Euro). Ich muss wohl ziemlich abgerissen gewirkt haben, denn die Passanten beäugten mich argwöhnisch: „Was will der? Den Automaten knacken, oder was?“ Ich zückte meinen Geldbeutel, fummelte nach der Kreditkarte, doch da war sie nicht. Im Pack-Chaos zu Hause musste ich sie wohl in irgendeine meiner Packtaschen geworfen haben. Zunächst durchforstete ich die Fronttasche, dort waren fein säuberlich in einem Umschlag Reiseschecks (mein Rettungsanker für die Rückreise) im Wert von 500 DM (250 Euro). Gut möglich, dass sich darin auch die Kreditkarte befände. Fehlanzeige. Ich filzte den Kulturbeutel und weitere Orte, an denen sich kleine Gegenstände wie Kreditkarten verstecken könnten. Ohne Erfolg. Langsam dämmerte mir, dass ich die Kreditkarte womöglich verloren haben könnte. Das wäre fatal. Nicht auszudenken, wer in der Zwischenzeit mein Konto geplündert haben könnte. Um sicher zu gehen, breitete ich sämtliches Hab und Gut auf dem Gehweg aus, zerlegte den Kocher, entrollte den Schlafsack, schüttelte das Zelt aus. Wie eine Explosionszeichnung lag nun mein gesamter Haushalt auf einer großen Straße in Dijon vor einem Geldautomaten. Das Fahrrad lehnte an einer Laterne. Die Passanten beäugten mich verwundert, doch das machte mir nichts aus. Ich wollte nur wissen, wo meine Kreditkarte ist. Nachdem ich alles mehrfach gecheckt hatte, war klar, die Karte ist irgendwo, nur nicht hier. Ich erinnerte mich, dass ich sie vor der Abreise auf den Fußboden geworfen hatte, dort wo sie hingehörte, zu allen für die Reise wichtigen Dingen. Sollte mir im verkaterten Zustand des Packens am Reisebeginn etwas entgangen sein?

Mittlerweile war es nach 18 Uhr. Hatte ich ursprünglich die Absicht, Dijon noch an diesem Tag zu verlassen, änderte ich nun meinen Plan und fuhr hinüber zum Campingplatz Dijon Talant. Dort würde ich nach Hause telefonieren, die Kreditkarte sperren und entscheiden, ob es überhaupt Sinn macht, die Tour fort zu setzen, mit nunmehr nur noch 500 DM in der Tasche.

Unterwegs durch die wunderschöne Altstadt murmelte ich einen Spruch, aus Jack Kerouacs On The Road: „Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer.“

Jazzer können länger

Wieder so spät. Bin nicht müde. Jazzfestival zweiter Tag. Die üblichen Backstageverrichtungen. Diesmal mit Englisch und Französisch- Einlagen. Die berühmte amerikanische Band kam viel zu spät. Ohne Soundcheck auf die Bühne. Das macht die Profis aus. Sie stellen sich hin, spielen und hören nicht mehr auf. Zwischendruch kam der Trompeter herunter in die Graderobe, um sich eine neue Flasche Rotwein zu holen. Retour ins Rampenlicht zur zweiten, dritten oder vierten Zugabe. Das Publikum war begeistert. Der Preis der Kunst ist hoch. Die Techniker und Serviceleute zahlen ihn. Nicht auszudenken, wie der Tontechniker im Blindflug abgemischt haben mochte. Er hat seine Sache gut gemacht. Die Chefin hing erschöpft auf einem Stuhl hinter der Bühne. Vermutlich betete sie bei jeder Zugabe, dass es die Letzte sei (versteht mich nicht falsch, sie spielten nicht schlecht, sondern lang). Später setzten sich die Musiker im Backstage fest wie Cholesterin in verhärteten Adern. Die Hausmeister lauerten auf dem Flur. Der Koch ging an Krücken. ich hatte den Kopf in die Hände gestützt, lauschte den abenteuerlichen Berichten des roten Tourmangers. Ein redseliger Schwabe mit dunkler Brille, der die halbe Welt gesehen hat. Der Trompeter verlangte nach einem Suppenteller und vergaß Suppe einzufüllen. Energisch schwätzte er mit dem Pianisten. Gegen Zwei räumten die Hausmeister mit Gepolter das Leergut vom Tisch, klapperten mit dem Schlüssel. Ich tat es ihnen gleich, räumte Dinge von A nach B und wieder zurück, um eine ungemütliche Athmosphäre zu erzeugen. Dann sprach sich herum, es werde gejammt in einem Club nebenan. Der Trompeter nahm sich eine Flasche Wein und alle Musiker eilten dorthin. Ich rede von über siebzigjährigen kernigen Typen. Man sagt, einer von ihnen müsse nach jeder Vorstellung zur Dialyse.