Vom Heiterwangersee zum Walchensee, nach Australien und Kolumbien | #UmsLand Bayern

Gitarre hinter Wohnmobil. Geschirr klappert. Ein dickes Brömm brömmt mit gespreizt sitzendem Fahrer die Uferstraße entlang. Forsttraktor schiebt sich durchs Bild. Das Zelt steht offen. Radel vor bleckendem Kiesstrand. Jemand wälzt ein Problem am Handy und gibt Befehle. Es geht um Geld, scheinbar. Um nicht mitgehört zu werden (oder die Familie im Wohnwagen zu stören), steht der Problemlöser draußen vor der Tür neben der Zeltwiese. Das ist das Vogelzwitscher-Gewecktwerden der streng getakteten deutschen Arbeitswelt. Hart erkämpft war diese Etappe vom Heiterwangersee zum Walchensee. Als ich morgens die Rezeptionistin am Campingplatz frage ’Wie kommt man denn am besten zum Plansee, südlich oder nördlich um den Heiterwangersee?’, sagt sie streng: ’Gar nicht!’ Es gebe keinen Weg. Und wenn doch, dann seien das verwurzelte Wanderpfade. Sie malt ein schreckliches Bild des Aberglaubens, wie es dem Mittelalter gut anstünde, als man die Menschen mit Geschichten abschreckte. Ihr strikter Ton macht mich vermuten, dass sie entweder gestresst ist, oder sie will nicht – wie einige in der Gegend – dass am See geradelt wird oder sie hat schlicht keine Ahnung …

Wie auch immer, ich entscheide mich für den südlichen Weg, der auf der Open Cycle Map als weiße halbgestrichelte Doppellinie eingezeichnet ist. Von den spanischen Vias Verdes bin ich so einiges gewöhnt und weiß, wie man ein Rad zur Not auch ein paar Kilometer schiebt.

Das Schieben bleibt mir erspart. Der Weg wäre sogar mit einem tiefer gelegten Opel Manta zu befahren. Bloß kurz vorm und am Plansee schmälert er sich und führt durch eine Geröllhalde und über eine schmale Fußgängerbrücke.

Zu dieser Zeit weiß ich noch nicht, was mir später noch bevorsteht.

Doch zunächst läuft alles nach Plan am Plansee. Rasant über Waldwege abwärts nach Griesen ins Loisachtal. Dort Loisachtalradweg bis Garmisch, sehr schön. Die Entscheidung, nicht in Garmisch rechts abzubiegen und über Radwege auf Straßen zum Walchensee zu radeln, sondern weiter abwärts bis Eschenlohe, rächt sich schon gleich nördlich von Garmisch.

Herr Irgendlink, präge Dir das doch einmal ein: Nie an Höhe verlieren! Und: der gerade Weg ist auch immer der steinige.

Egal. Zu spät. Durch eine etliche hundert Meter lange ‚Flaniermeile‘ vorbei an diversen Entsorgungsunternehmen führt der Radweg durch Staub und Schmutz, garniert mit Lastern, die das alles bringen oder holen.

Bei einem Unternehmen, das besonders abgeschottet wirkt mit Verbot, Gefahr, Video, unendlich verrottetem Bauschuttwall steht ein Laster, der wie ganz klammheimlich beladen wird. Die Phantasie geht mit mir durch und ich schustere einen kleinen Umweltkrimi, bis ich eine herzallerliebliche Wiesengegend erreiche, in der wie Tupfer kleine Feldscheunen verteilt sind. Als habe der Lieblichkeitsgott wahllos gewürfelt.

Lieblich gehts weiter Loisach abwärts bis Eschenlohe, wo ich einem Radweg rechts ab zum Walchensee folge.

Der sich als Mounbtainbikeroute entpuppt. Da nauf führts durch die Gachentodklamm, erzählt mir ein Wanderer. Kannst mit den Reifen nicht machen. Unbelehrbar, die spanische Vias-Verdes-Heldenreise im Hinterkopf, versuche ich es trotzdem. Schieben, schieben, schieben. Geröllweg hier, entwurzelter Baum da, toller, halb ausgetrockneter See auf halber Strecke. Kein Netz. Schutzhütte, wo bist du? Immerhin ab und zu eine Parkbank mit Dächlein. Gewitterwolken. Mehr ’kein Netz’.

Der Weg zieht sich zehn Kilometer weit. Finales Betthupferl: eine Bachdurchquerung, die Monsieur wie ein Hasardeur mit viel Anlauf nimmt, auf halber Strecke im Treibsand stecken bleibt, mit den höchst wasserdichten Schuhen zum Glück halt findet, aber was nützen wasserdichte Schuhe, wenn das Wasser bis über den Rand reicht.

Irgendwann dann doch Walchensee-Idyll. Total erschöpft checke ich auf dem Campingplatz ein, der ziemlich voll ist.

Als ich gerade aufgebaut habe, bauen direkt daneben auf der kleinen Zeltwiese vier Jungs ihre Zelte auf. Das heißt, zuerst schleppen sie den Bierkasten herbei, um den Claim abzustecken. Mir schwant Böses.

Doch zunächst ist es ruhig und ich dämmere gegen 22 Uhr in eine Art Halbschlaf, bis mich eine Stimme direkt vorm Zelt weckt. Jemand telefoniert und das Gespräch hört sich nicht gut an. Der Mann redet mit seinem Opa, beschwichtigt ihn, versucht den – so klingt es – völlig aufgelösten Mann zu beruhigen, Sprachfetzen, besorgte Stimme, ist doch nur Geld usw.

Einerseits bin ich neugierig, will andererseits weiterschlafen, da schreckt mich ein bobmarley-gesungenes Ayayay, ayayay, ayayay ya ya ya ya yay hoch. Oke. Das wird so nix. Schäle mich aus dem Schlafsack, geselle mich zu den vier Zeltnachbarn, die unter Vollmond schnatternd Bierflaschen halten Fast wie die drei Hexen aus Macbeth vielleicht.

Bier und Zigaretten. Wir freunden uns ein bisschen an. Die vier sind auf ihrem jährlichen Männerwochenende von überall in der Republik hier zusammen gekommen, haben die Schulzeit miteinander durchlebt und nun steckt einjeder in seinem Job.

Ich erfahre, dass der Opa, von dem, der vor meinem Zelt telefonierte, dem Enkeltrick aufgesessen ist. 15.000 Euro. Bar. Zack. Weg.

Opa, Enkel und andere Verwandte, die gerade telefonisch informiert wurden sind völlig von der Rolle. In der Tat tut auch mir das weh. So mies, die Welt, so weiß mein Herz …

Der Abend nimmt bibbernd, schwatzend, Bier trinkend, rauchend am Walchensee seinen Lauf. Die vier laden mich ein auf Ausflüge nach Australien, erzählen von ihren Traumberufen: einer möchte Hausmeister werden auf einem Berggrat in den Alpen. Kurzer Abstecher nach Kolumbien, wo das Bier nur 5 Cent kostet, um wieder nach Australien zurückzukehren, wo das Päckchen Tabak umgerechnet 40 Euro kostet.

Tja, Liebling, so war mein Tag, und da gäbe es noch viel mehr.

Um kurz nach eins sind wir alle müde, durchgefroren, halb bis ganz voll und verkriechen uns in die Zelte.

Abstand zum Mittelpunkt Bayerns 151 Kilometer.

Bete sieben Radler. Berechne x. #UmsLand Bayern

Kartenträume waren am Anfang. Kartenträume und eine Frage in die Tweetosphäre: Was liegt eigentlich alles Schönes am Wegrand auf meiner Runde um Bayern? Die Antworten kamen prompt. Museen, Klöster, Kirchen, Weltkulturerbes, aber auch Übernachtungsgelegenheiten und Zeltplätze oder ‚Da-hab-ich-als-Kind-Gewohnts‘ und anderes Persönliches. In einer Google Map verzeichnete ich die Tipps in der näheren Umgebung des Streckenplans, den ich als Grundgerüst für die Reise auf Basis von Radwegen des Bayernnetzes für Radler skizziert hatte. Das Faszinierende an Kartenträumen ist: Es regnet nie auf Radtouren, die man auf Karten träumt. Es geht nie steil bergauf. Es gibt keinen Frost, weder Hektik, noch Verkehrslärm und Holperstrecken. Alle Reiseziele liegen fein aufgereiht wie an einer Perlenschnur direkt am Weg, haben immer geöffnet. Es gibt Hotelzimmer zum günstigen Preis von x Euro, wobei x der eigenen Phantasie von einer schönen Hotelzimmerchenwelt entspricht. Alle Menschen sind freundlich. Kein Dieselrußgestank, kein knappes Überholen. Ein Kartenträumeschlaraffenland, in dem man mühelos von Ort zu Ort auf der Perlenschnur gelangt.

Ich schwitze jenseits des Rottalsees, ich schwitze hinauf nach Oy, fast tausend Meter hoch. Die Höhenlinien der Karte sind physisch erfahrbar, ich friere runter nach Nesselwang und schwitze raus aus Nesselwang, wo die Gegend geradezu vermärchenschlosst und man durch Nadelwälder auf schmalen Wegchen fährt, immer weiter in Richtung des Märchenschlosslands hinter Füssen. Ludwig. Ludwig und die sieben Radler, die sich vor mir einen Berg hinauf quälen. Welch feine Silhouette von kurbelnden Männlein in bunten Klamotten, hunderte Meter auseinander gezogen, das Feld. Ich der letzte. Der das alles beobachtet. Vorbei an der Scheune, am Baum, am einsamen Bänklein, umschmeichelt von Wiesen und unheimlich ludwig-märchenschlössigem Wald ziehen sie dahin. Die Hochspannungsleitung muss man sich natürlich wegdenken.

Aber, Moment mal, das ist gar keine Perlenschnur, das ist ein Rosenkranz aus Radlern. Bete sieben Radler, mein Sohn Irgendlink, und alle Deine Sünden sind Dir vergeben, scherze ich, keuche ich den anderen hinterher.

Im Grunde sind es zwei Gruppen von Radlern, die da vor mir den Rosenkranz geben: die vier Männer, die ich schon am ersten Reisetag getroffen hatte und drei weitere Männer, denen ich kurz zuvor in Nesselwang begegnet war. Sie fahren Ebikes und rauchen wie die Schlote. Schnaps war auch im Spiel.

Füssen. Ich kaufe ein. Das Ohr summt. Geht mir gar nicht gut. Der Tinnitus hat etwas Endzeitliches, wie er sich mit dem Straßenlärm mischt unter den Dächern des Sankt Mang Kolstera, aber dann raus aus der Stadt auf dem Lechradweg Richtung Fernpass. Der erste Radweg, der seinen Namen auch verdient. Zwar war die Route des Bodensee-Königssee-Radwegs durchs Allgäu durchaus radeltauglich, führte aber fast ausschließlich über – zwar kaum befahrene – Autostraßen oder – begleitend – an Hauptstraßen. Hier, am Lech, gibts Gravel-Piste, unbefestigt, aber wundervoll schmale Wege durchs Flussgebüsch vorbei an Geröllablagerungen. Der Lechfall ist bemerkenswert. Ein künstlicher Wasserfall oberhalb Füssens, dereinst geschaffen, weil ein verheerndes Hochwasser sämtliche Mühlen Füssens vernichtet hatte. Als Hochwasserschutzmaßnahme wurde der Fluss getunnelt und später als Kraftwerk ausgebaut.

Schnell ist man in Österreich. Hinter Reutte ist das Objekt meiner Begierde, der Kartentraum, den ich durch einen Blick über den Tellerrand Bayerns hinaus wahr werden lasse. Die Highline 179 ist eine spektakuläre Hängebrücke, die zwei Burgen miteinander verbindet und – vermute ich einmal – 179 Meter über dem Tal hängt. Der Umweg und das Verlassen der Bayernrunde lohnt alleine schon für den Anblick.

Gegen Abend erreiche ich das Wunder. Nicht viel los. Man kann täglich von 6 bis 22 Uhr zu den Brückenköpfen kraxeln und sich durch Lösen eines Tickets (8 Euro) Einlass verschaffen. Soll ich? Radel stehen lassen mit allem Gepäck und die zwanzig Minuten hinauf? Oder in der Klause nebenan fragen nach Zimmer? Hier nächtigen?

In der Rezeption des Gasthauses und Hotels sagt man mir, x=70. Das sprengt jegliche Schmerzgrenze. Also ächze ich eine weitere Steigung hinauf nach Heiterwang, wo es günstigere Unterkünfte geben soll, erhalte dort die Antwort in einer Radlerpension, x=60. Fast bin ich versucht, schon will ich einchecken, da reitets mich, es ist warm genug zum Zelten, noch beim Campingplatz vorbeizuschauen. Direkt am See. Auch dort gibt es Zimmer für x=97.

Schlussendlich lande ich auf der winzigen Zeltwiese, mit einem mitleidigen ‚Hoffentlich haben Sie einen guten Schlafsack‘ der Rezeptionistin. Hier ist x=19,5.

Die Nacht war frostig. Auf den Fahrradtaschen ist Raureif. Aber ich konnte gut schlafen (nachdem der Küchenjunge gegen 22:30 das Altglas im Müllraum unweit der Zeltwiese entsorgt und den Müll des Tages in einer elend knirschenden mechanischen Presse zerquetscht hatte).

Nun Frühstück im Zelt. Schneidersitzbüro. Vöglein zwitschern und die Sonne macht die schneebedeckten Berge im Westen glühen.

Wie der Hobble Frank und die Tante Droll den Rattenfänger von Hameln trafen #UmsLand Bayern

Gestratz, was für ein komplizierter Ortsname, sagt Frau SoSo im Gespräch mit unserer Wirtin gestern. Aber die Wirtin weiß Rat. Man kann sich das prima an dieser Anekdote merken: Während der Messe huschte einst eine Ratte, eine Ratz, wie man hier zu Lande sagt, um den Altar. Da hob der Pfarrer gebieterisch die Stimme und befahlt ‚Gehst Ratz, störe unsere Messe nicht‘. Diese und weitere Geschichten erfahren wir zwischen Tür und Angel, als wir das Zimmer bezahlen. Etwa, dass Gestratz mittlerweile auf Bundesebene beim Wettbewerb ‚Unser Dorf hat Zukunft‘, ehemals ‚Unser Dorf soll schöner werden‘ mitspielt. Das erklärt auch die gut fünfzig Banner, die an der steilen Straße hinauf zum Ortsteil Brugg aufgestellt wurden. Banner mit Wappen und Namen anderer Ortschaften der Gegend. Und vielleicht erklärt es auch das freie Wlan am Dorfplatz, denn man tut viel für die Bürgerinnen und Bürger in Gestratz. Internet ist Mangelware im östlichen Landkreis Lindau, stelle ich unterwegs fest. Weder Telekom, noch Vodafone betreiben hier Funkmasten von Rang und Namen und überall, wo man fragt, in Bäckereien und Läden, erhält man die gleiche verschämte Antwort, wir haben kein Wlan. Wir haben doch selbst nicht genug. Seit einem Jahr warten wir auf Glasfaserkabel …

Zack, im Sattel. Nach nur etwa drei Kilometern Welpenschutz kurbele ich serpentinös aus Röthenbach heraus. Landstraße. Baulaster ächzt, kaum schneller als ich, an mir vorbei. An mir und vier weiteren Radlern. Vorher im Dorf begegnete mir eine Reiseradlerin. Der Bodensee-Königssee-Radweg ist sehr beliebt, gilt, so weit ich weiß, als Premiumradweg.

Es geht mächtig zur Sache. Der erste Gang ist mein bester Freund. Die Landschaft? Hügelig grün, Kühe, einzelne Gehöfte, im Hintergrund garstige, schneebleckende Berge. Eisiger Wind.

Vier Grad, erzählt mir ein Wanderer. Wir begegnen uns in einer Art Hochtal zwischen Hohenstaufen und Alpsee. Die Schneefalllinie reicht bis fast zu uns herunter. Nachts habe es geschneit, sagt der Mann, es soll besser werden. Ein bisschen erinnert mich die Szene ans Dovrefjell an der E6, südlich von Kristiansand, nur in lieblich, in eng, in dicht besiedelt. Oft genügt ja ein winziger Impuls, um der Erinnerung Freigang zu verschaffen: Rinnsäler lösen sich aus Eis und Schnee und fließen lechzend ins Grün. Am Rand der Zeit lauert Frühling. Aber: eine zweispurige Bahnlinie, eine fette Bundesstraße, in jedem kleinen Ort ein Handel mit Traktoren, Schneescootern, Räumfahrzeugen, kaum ein Lebensmittellladen oder eine Bäckerei. In der Tat sind viele Auslagefenster von ehemaligen Läden verklebt mit Zeitung. For ever stengt, für immer geschlossen.

Der Wanderer ist Sachse und lebt schon seit 22 Jahren hier. Er klärt mich auf, dass man die Oberallgäuer niemals Bayern nennen soll. Das mögen sie genauso wenig wie die Franken, mutmaße ich, und weiter, womöglich gibt es in Bayern gar keine Bayern, sondern nur ein Konglomerat vieler Irgendwasanderer und die einzigen Bayern, die in Bayern Bayern genannt werden dürfen, sind die BAYERN, elf Männer, die vor Millionenpublikum einen Ball treten?

Ich scherze. Mein zweites Ich ist ein Clown, der mich stets bei Laune hält, wenn ich bei vier Grad Gegenwind bergauf kurbele und von irgendwo ein satter Regenschauer droht.

Ich taufe den Wanderer und mich Hobble Frank und Tante Droll und wir sind uns soeben in den Great Plains begegnet und haben, in alter Karl May-Manier, lauthals auf sächsisch losgeplaudert, als wir erkannten, dass wir beide aus Ratzeburg stammen.

Ne, da stimmt was nicht. Ich bin doch Pfälzer. Schluss jetzt, Kopfclown. Vorbei am Alpsee, welch Kleinod!

In Immenstadt kommt mein lustiges Gemüt wieder zur Raison. Endlich einkaufen (Schokolade). Zwei Männer vorm Discounter, der eine zum andern: Na, alles klar? Darauf der andere zum einen: Alles fest in deutscher Hand! Ich zu mir selbst: Endlich schnelles Mobilfunknetz!

Und was für eins. Durch eine kilometerlange Birkenallee bleibt mir das Netz bis weit jenseits der Iller ungefähr bis zum Berg Grünter treu.

Ich frage mich nach Zimmern durch. Am Rottachsee gebe es Restaurants. In Moosbach am Nordufer, nicht auf der Seite, an der der Radweg verläuft, solle ich mein Glück versuchen. Der Rottachsee ist eine gigantische Talsperre.

Ein zig Meter hoher, wiesenbewachsener Damm steht plötzlich vor mir, als ich mich verirrt hatte. Surrealerweise kommt gerade eine Gruppe von dreißig, vierzig Schulkindern aus einer Tür in diesem ansonsten nur grünen Damm. Ein Mann begleitet die Kinder und ich phantasiere, der Rattenfänger von Hameln bringt endlich die Kinder zurück. Mein Rattenfänger entpuppt sich als Mitarbeiter des Wasserwirtschaftsamts. Er erklärt mir, dass sie gerade unter dem Damm eine Führung in die Technik des Bauwerks gemacht hätten. Und nein, sie würden mir nicht helfen, das Radel die Treppen hinauf zu tragen bis zur Staumauer.

Also kurbele ich über Waldwege außen rum, spähe schon nach Wildzeltplätzen, denn man weiß ja nie bei solch potemkinschen Gästezimmern, was dahinter steckt.

In der Tat sieht die Rottachstubn ziemlich geschlossen aus. Ich finde eine Telefonnummer und, Gott seis getrommelt, das Hotel ist in Betrieb, nur das Restaurant ist zu. Für 59 Euro kaufe ich mich frei.

Entfernung zum Mittelpunkt Bayerns 169,3 Kilometer.

Weites, grünes Land #UmsLand Bayern

Verflixter Auftrag! Mit DEM Zweibrücker Barden per se soll ich per Radel rund um Rheinland-Pfalz ackern. Ein kleiner Privat-Fernsehsender ist unser Auftraggeber. Es gibt ein wenig Patte. Der schmierige Redakteur brieft uns, dass die Reise zuerst nach Steinbach geht, wo wir zum Privatleben des Schlagerduos Ernst und Erika recherchieren sollen. Erika sei kürzlich auf Mallorca gestorben und habe einen Haufen Steuerschulden hinterlassen.Beim Tourstart können der Barde (der die Radtour in mittelalterlicher Kluft absolviert) und ich uns noch nicht einmal die Socken anziehen.

Ich ziehe die Bettdecke zur Seite. Blick aus dem Fenster. Allgäuszene. Weites grünes Tal. Sattschwangeres Gewölk in den Hügeln südlich. Sehr gut. Das verdeckt die garstigen, schneebedeckten Berge, die sich dahinter befinden. Die Bregenzer Alpen. Oder die Vorarlberger? Rechts im Bild vermutet man den Pfänder, den wohl bekanntesten Berg nahe Bregenz. Gestern brachte mich Frau SoSo, die auch die Homebase für diese Blog-Reise-Expedition rund um Bayern sein wird vom Aargau in der Schweiz hierher. In der Gegend um Sankt Gallen hat man einen wunderbaren Blick auf die weiß gefleckte Gesteinswüste. Was heißt wunderbar? Das Herz sackt mir in die Hosentasche. In alle nur erdenklichen Hosentaschen und wir sausen hinab zum Bodensee über eine schiefe Ebene, immer wieder lenke ich dei Augen nach links, nach Norden, wo Lieblichkeit und Grün und Frühling liegt und immer wieder zieht eine sensationshungrige Macht den Blick nach rechts, hin zum Monster unterm Bett namens Mai-Winter 2019, skizziert Vorstellungen von ungeräumten, beschneiten Fernradwegen, die man schiebend im Schneegestöber …

Österreich dann. Chaotische Verkehrsführung über schmalste Sträßchen. Im Vorbeizischen erkennt man ellenlange Botschaften auf Schildern, kleine Romane, die der vorbeizischende Reisende niemals auf einen Blick lesen kann. Etwas mit Maut und Vignette und etwas mit Gewicht größer und oder kleiner 3,5 Tonnen. Nach dem dritten Schild ist die Botschaft endlich klar: Schwere Fahrzeuge müssen Maut zahlen und leichte Fahrzeuge brauchen eine Vignette. Aber da sind wir längst auf der Autobahn und steuern auf ein schwarzes Loch in einer zig Meter hohen Granitwand zu. Der Pfändertunnel. Jetzt klingelts. Ich erinnere mich an fiese Berichte über Autofahrer, die aus Deutschland in die Schweiz fahren, nur ein kurzes Stückchen und in diese elende Mautfalle tappen, weil alles viel zu schnell geht, alles so wischi-waschi. Egal, wenden unmöglich. Der Tunnel zieht sich, wir sind illegal. Grenzen. Andere Sitten. Scheiß Falle. Ich wittere hinter jeder Biegung, die der unendlich krumme, unendlich lange Pfändertunnel macht eine Radarfalle, Polizeikontrolle, Piefke-Abzocke. Hinterm Tunnel nehmen wir die erste Ausfahrt, weiter gehts über Land. Keine Ahnung, ob bald Post aus Österreich zu erwarten ist.

Wieder in Deutschland, in Bayern ertelefonieren wir dieses Zimmer auf einem Bauernhof in der Gemeinde Gestratz. Das ist die Nahtstelle meiner im letzten Sommer begonnenen Radtour rund um Bayern. Hier mündet meine Runde in den Wurmfortsatz, der auf dem Radweg Bodensee-Königssee hinunter führt nach Lindau. Ab hier beginnt also Neuland, wenn ich in die andere Richtung über Röthenbach nach Immenstadt weiter radele. Perfekt. Bei der Pension Prinz stelle ich fest, dass ich die Gegend kenne. Direkt unterhalb dem Weiler Schweineburg liegt unsere Unterkunft, fast direkt an der Strecke, die ich letzten Sommer geradelt bin. Tag sieben.

Nachher werde ich ab Dorfplatz Gestratz starten. Dort gibt es auch WLAN. Das ist die Hoffnung für die Reise, freie WLANs in den Ortszentren, denn weder Vodafone, noch Telekom decken die von Höfchen durchdrungene Gegend ab. Das Netz ist so schlecht, dass die Menschen, die in den Höfchen wohnen eine unendlich langsame Festnetz-Leitung haben und so gut wie abgeschnitten sind von der Weltweitenwebwelt.

Weites, grünes Land. Es klingelt. Das ist der Werbespruch des Donnersbergkreises, meiner alten Heimat. Weites, grünes Land. Vielleicht hatte ich deshalb diesen verrückten Traum, mit dem dieser Beitrag beginnt. Steinbach liegt am Fuße des Donnersbergs. Das ist weit weg. Und von Steinbach nach Erika ist die Assoziationskette auch klar. Etliche Wahlkampfschilder, die am Straßenrand mit dem Thema Heimat hausieren gehen, tun ihr Übriges. Das schwierige Anziehen von Socken durch Männer über Fünzig ist nur das Tüpfelchen auf dem I des Traums.

Apropos weit weg, zum Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg bei Ingolstadt zwischen Nürnberg und München sind es genau 174,4 Kilometer.

Wurde je ein gutes Buch auf der Autobahn geschrieben? #UmsLand Bayern

Es ist kompliziert. Dass ich mit dem Auto zum Einstieg in den zweiten Abschnitt meines Radreiseprojekts /Bayern anreise gefällt mir überhaupt nicht.

Jedoch ist es der einfachste Weg. Zugfahren ohne Gepäck ist gruselig genug. Mit Gepäck oder gar Fahrrad muss es der reine Horror sein.

In diesem vermaledeiten Jahr 2019 habe ich noch kaum eine Zugfahrt mit der DB mit geringerer Verspätung als eine Stunde absolviert. So scheint mir das Auto die beste Lösung. Für den eleganten Weg, die dreihundert zusätzlichen Kilometer von der Pfalz zum Bodensee zu radeln, fehlt mir leider die Zeit. Ich bin spät dran, habe schon drei Tage verloren, weil ich unbedingt das Projekt Radelgalerie während des Zweibrücker Straßentheaterspektakels durchziehen musste. Immerhin brachte die Aktion im Getümmel und dauerbeschallt von etlichen Kapellen, die nicht immer eingängige Musik spielten, auch ein paar Kröten in die klamme Künstlerkasse.

Nach dem Fest, sonntags war ich zu erschöpft, um wie geplant noch ins Basislager in die Schweiz zu fahren und schon montags nach Lindau zu fahren.

Die Wetteraussichten sprechen mich frei. Der Frost wird ab Donnerstag enden, wenn man den Apps glauben darf. Das Zögern arbeitet für mich.

Es wird schwer, die Zeit zu verlieren, das Werten, das Rechnen, all das, was das Menschsein mitunter ausmacht. Zeit und Geld, ach Ballast! Ballast, der den künstlerischen Prozess behindert. Es ist wie Brandung, die gegen Kaimauern schlägt. Zermürbend, unerbittlich. Wer sich dem aussetzt, wird zernagt. Sich dem zu entziehen ist fast unmöglich, es sei denn, naja, es sei denn, man lässt sich auf das Gegenteil ein, den Teufel namens Langsamkeit. Ein zwei Mal im Leben habe ich diese Erfahrung gemacht, nicht rechnen zu müssen, mich nicht nach Zeiten und Konventionen zu richten. Ein zwei Mal auf langen langen Radtouren, die schon Jahre zurück liegen. Es stellt sich irgendwann ein Gefühl der Unendlichkeit ein. Es sind diese kostbaren Momente, in denen man sich tatsächlich ein bisschen unsterblich fühlt, weil man keinen Anfang mehr kennt und kein Ende vermutet. Alle Zeit der Welt wird in Momente verwandelt. Die Uhren stehen still. Der Geldbeutel ist leer und voll zugleich und was sich darin befindet und nicht, spielt keine Rolle. Dann klappts auch mit dem Hirn. Das Denken nimmt eine ungeahnte Wendung und die Schreibe verändert sich und die Fotos, die du unterwegs – wie so ein Fischer – im Schleppnetz des Alltags einfängst zeigen das wahre Gesicht der Welt, nicht die geschönte, unheimlich langweilige Touristenversion.

Manchmal wünsche ich mir dieses Gefühl, das sich erst nach vielen Wochen Radfahren und ‚aus der Zeit gefallen sein‘ einstellt von Anbeginn einer Tour an. Diesen faszinierenden Alltag, in dem alles wie von selbst fließt, In dem Radfahren, Denken, Schreiben und Fotografieren nach geheimer Choreografie eine Art Tanz aufführen und sich ohne jegliches Zutun im Takt der Pedale ein stimmiges Gesamtkunstwerk entfaltet.

Geduld, Monsieur Irgendlink, Geduld. Die ersten Kilometer im Sattel werden dich schon weichklopfen und auf Linie bringen.

Wurde je ein gutes Buch auf der Autobahn geschrieben?