Frag nie nach dem Dorf, in dem der Mann mit den vier Ziegen wohnt

Vier Uhr zweiundfünfzig. Erstmals melde ich mich aus der Gegenwart. So sollte es immer sein. Mir ist bewusst geworden, dass ich bei meinem Liveblogbericht „Ums Meer“ nie direkt aus dem offenen Herzen der Literatur geschrieben habe. Immer nur fast. Und das war auch gut so. Die Ereignisse des Tages müssen sich setzen, sie müssen einwirken wie Handwaschmittel auf Schmutz.

Stockdustere Nacht. Kaum Viertelmond. Die Hähne des Dorfes, das mit E beginnt, läuten den neuen Tag ein. An allen Ecken und Enden kräht es. Ab und zu bellt ein Hund. Die ersten Wildvöglein erwachen. Stetig säuseln die Departementsstraßen, die sternförmig aus Cambrai hinaus führen. Ich habe schlecht geschlafen auf meinem Feldweg zwischen einem Maisfeld und einer Hecke. Zu spät war ich dran mit dem Zeltaufbau, zu achtlos habe ich mich auf das erstbeste huckelige Stück Land gelegt, das sich mir bietet. Als ob das in dieser Gegend nicht egal wäre. Sanft geschwungenes Gebiet voller Maisfelder, Weizen und Gerste. Die Ernte hat begonnen.

Ich erinnere mich, dass bei meiner Durchreise im April gerade Mal ein wenig Grün auf den Äckern sprießte. Nun liegen schon die Strohballen, frisch gepresst. Wie kurz doch ein Getreideleben ist.

Die gestrige Etappe war sicher eine der härtesten auf der gesamten 7000 km-Tour. Hitze ist mir schwieriger als Regen, Kälte, Gegenwind. Zudem haben es die unscheinbaren Anstiege und Gefälle in sich. Das wurde mir erst bewusst, als ich beim Rollen auf scheinbar ebener Strecke auf den Tacho schaue: 40 km/h. Ohne Zutun. Deshalb gerate ich also ins Schwitzen, wenn ich die Gegenrichtung nach den Mulden hinaufackere, dritter Gang, zweiter Gang, erster Gang. Beim Kloster Saint Élois, muss ich sogar schieben. Unter uralten Bäumen mache ich gegenüber dem riesigen, unheimlichen Turm eine Mittagspause. Parkbank, liegend. Der Turm ist eingerüstet, wird renoviert. Wenn das Gerüst nur in Zweimeter-Stockwerken gestellt ist, ist das Ding bald vierzig Meter hoch. Eine gelbe Röhre führt von oben nach unten in einen Container, in den die Bauarbeiter den Schutt fallen lassen. Ein verkabelter architektonischer Patient auf dem Sterbebett. Das Dorf Saint Élois wirkt so, als habe man aus dem einst riesigen Klosterkomplex, der auf einem markanten Hügel nördlich von Arras liegt, willkürlich Mauern entfernt, als habe man eine Abtei ausgebeint und ausgedünnt und nun stehen nur noch einzelne Häuschen, oder Häuserzeilen herum, in denen Weltliche ihr Unwesen treiben. Die Einsiedlerkrebse klerikalen Zerfalls suchen sich neue Zuhause.

Ich glaube, ich bin in der Champagne. Die Champagne ist dem gemeinen Menschen nur bekannt, als Weinbaugebiet. Hier kommt der Saft her, den wir zu festlichen Anlässen trinken. Dabei ist das Weinanbaugebiet selbst nur ein winziger Teil eines riesigen agrikulturellen Komplexes. Die Cerealienchampgne hat nichts romantisches im Sommer. Sie ist Reife, Gemetzel. Mähdrescher, Strohpressen. Traktoren durchqueren meinen Kopf auf dem Weg zum Acker, Immer muss ich bangen, dass jemand nicht alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen hat und irgendwo hinter dem Nutzfahrzeug eine Stange rausragt in die Spur des Radlers. Dass einer der riesigen Strohballen goldglänzend sich vom Anhänger löst und mich überrollt. In den Dörfern sieht man manchmal zig Meter weit eine Spur aus Stroh, das tatsächlich glänzt wie Gold – ob das die Überreste einer Traktorkatastrophe sind?

Abends peile ich den schnuckeligen Campingplatz an in einem Dorf etwa zwölf Kilomezer von Cambrai entfernt, der bei meiner Durchreise im April noch geschlossen war. Ein Gemeindecamping auf einem Sportplatz. Spartanisch. Vermutlich touristenfrei. Ganz nach meinem Geschmack. Ich weiß nur nicht mehr, wo der ist, wie das Dorf hieß. Das Netz ist so langsam, dass ich es nicht wage, den Bilderordner in Orte-Perspektive zu öffenen, meiner Brotkrümelspur vom April zu folgen.

Ich erinnere mich: ein Mann trieb seine vier Ziegen durchs Dorf. So bin ich verloren in Cambrai, welches größer ist, als ich auf der Hinreise empfunden habe. Steh du mal mitten in Cambrai und frage nach dem Dorf, in dem der Mann mit den vier Ziegen wohnt. Vollbepackt. Die weisen dich direkt ein. Ein Rennradler hilft mir. Wo willste hin? Da, zeige ich auf der Karte. Er versteht nicht. Osten. Metz. Aha. Und er erklärt, ich müsse nach Awoingt. Übern Markt bis zur Ampel, vorbei am Gymnasium, links bis zum Kreisverkehr, rechts den Schildern folgend. Hat prima geklappt. Aber Awoingt ist nicht das Dorf, das ich suche.

Hinter einer Milchproduktfabrik biege ich ab, vorbei an einem britischen Soldatenfriedhof. Bin ich hier eigentlich auf den Schlachtfeldern der Somme oder wo? Hab keine Ahnung. Zig Kilometer weit liegen die armen Teufel eines oder zweier Weltkriege in Reih und Glied. Es müssen Millionen sein. Amerikaner, Franzosen, Canadier, Deutsche. Wieviele Quadratmeter braucht ein Soldatengrab? Die Gegend trieft von Gemetzel. Nun hacke ich diese Zeilen um vier Uhr nachts. Die Prognose sagt Affenhitze voraus. Mir bleibt somit nicht viel Zeit zum Radeln heute. Siesta ist angesagt und die selbstzerstörerische Sehnsucht nach einem Leben als Getreide.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

2 Antworten auf „Frag nie nach dem Dorf, in dem der Mann mit den vier Ziegen wohnt“

  1. schlaflose grüßt schlaflosen ;-)
    „tja, man kanns ihm aber auch gar nicht recht machen mit dem wetter!“ so sagtest du am telefon. ich hoffe, du bewahrst dir heute einen kühlen kopf. finde einem see oder fluss und hüpf kurz rein!
    und ja, mach siesta! :-)

  2. Radler und landwirtschaftliche Fahrzeuge auf einer Straße, das passt nicht so recht zusammen. Das erlebe ich zur Zeit auch immer wieder auf einer sehr kurvenreichen engen Landstraße. Ich bekomme schon Schweißausbrüche, wenn ich hinter so einem Monster-Gefährt hertuckere und die angehängten Maschinen von rechts nach links hüpfen., Wie gestern ein Heuwender, der fast von der Anhängerkupplung gehüpft wär, weil er bei jeder Kurve ein paarmal pendelte bis er wieder in der Spur war und dann kam die nächtse Kurve.
    :-(

    Gutes Radeln, liebe Grüße, Szintilla
    ps.
    … und wenn du die vier Ziegen triffst, grüß sie von mir. :-)

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