Frühmorgens in Rendsburg. Die Reise „Ums Meer“ ist 4000 Meilen weit entfernt. Offenes Fenster, Sommermorgen, Pizzapension. Stadterwachen. Erste Vöglein zwitschern. Krähen krächzen.
Gedankenmühle malt.
Ich habe einen Fehler begangen: ich habe die Reise unterbrochen. Das live geschriebene Buch ist zu Ende, wird mir klar. War die Reise nicht von Beginn an eine Analogie für das Leben? Vom spritzigen Frühling Frankreichs und Britaniens hinüber in den Sommer Norwegens, die schlimmsten Passagen im Herbst der miesen Radwege irgendwo im Niemandsland zwischen Fredrikstad und Göteborg, nahtloser Übergang in den Winter der Reise, welche dem Winter des Lebens ähnelt – ein Wettlauf mit der Zeit und letztlich die Gewissheit, dass höhere Kräfte das Ende bestimmen. Im Leben wie auch auf der Reise, die nur so tut, als sei sie eine Analogie aufs Leben. Die letzten Reisetage so voller Erlebnisse und Ideen – seit dem Nachtlager hinter dem Sandhaufen am Deich sind sie ungeschrieben. Ich bin ein dementer, inkontinenter, ungepflegter, bettlägriger Kerl geworden – wie surreal im Wind wehende Vorghänge zieht sein „Leben“ an ihm vorbei. Das Sterbebett der feinen Künste. Immer wieder unternehme ich Anläufe, das Tagesgeschehen weiterhin zu dokumentieren. Aber im Würgegriff des Speedlifes habe ich keine ruhige Minute. Über Norddeich und Norden rasen Ray und ich gen Emden. Übernachtung im Garten einer Farm – alleine Friedrichs herzliche Gastfreundschaft und die Details unseres Aufenthalts in Upgant-Schott zu beschreiben … ich habe nicht mehr die Kraft dazu und nicht mehr die Zeit. Nicht dass die letzten Tage besonders hektisch gewesen wären. Sie waren diktiert vom größten aller Machthaber, der Zeit. Tickitick, Tickitick, Tickitick Tack Tack. Der schiefste Kirchturm der Welt – wie hieß noch das Dorf nördlich von Emden? Ray und ich stolpern mitten in eine Führung, die ein Mann macht, der kokett sagt, dass er so glaubhaft über die Sturmfluten des 17ten Jahrhunderts erzählt, dass ihm die Leute, denen er die Geschichte der Kirche und der Gegend erzählt, auch glauben würden, dass er persönlich die Fluten erlebt hat. Der Kirchturm ist im Buch der Rekorde als das schiefste Bauwerk der Erde verbrieft. Der Turm von Pisa ist geradezu senkrecht im Vergleich. „If I run“, sagt der Mann zu Ray, „you must duck and follow“. Wie ein Uhrwerk spult er die Geschichte seiner Kirche. Guter Takt. Im Innern des Turms hat man einen guten Blick in das von drei 75 Kilo Gewichten getriebene Uhrwerk des Glockenturms. Patinierte Zahnräder hinter Plexiglas. Kleinwagengroße Zeitmaschine. Unaufhaltsam. Tickitick.
Ray will weiter. Will an diesem Tag noch nach Holland. Tickitick. Ich habe die Zeittafel vom Emdener Bahnhof im Kopf tickitick, stündlich, immer um 18 nach fahren die Züge nach Oldenburg. Dass ich nachmittags bei Freund Schlager bin, habe ich versprochen, tickitick, betont vage. Nachmittag könnte alles heißen. Dreizehn Uhr? Achtzehn Uhr?
Dennoch drückt die Uhr. Schon sage ich Tschüss zu Ray an einem Radwegschild, das nach links auf die Nordseeroute zeigt, nach rechts einen Kilometer zum Hauptbahnhof Emden, kurz vor, tickitick, genug Zeit dahin zu radeln, dennoch das Gefühl im Gepäck, zu spät zu kommen. Umarmung, tickitick, save journey, tickitick. Ich vergesse, Ray die Brötchen und die Eier mitzugeben, die ich morgens bei Friedrich in der Küche eingepackt habe. Ich werde sie nicht mehr brauchen, da ich bei Freund Schlager in Oldenburg logiere.
Schlager kommt mir entgegen. Ich hatte mich verirrt. Oldenburg ist die Stadt der Scheinparallelen. Die Straßen führen unmerklich schräg voneinander weg, sternförmig, erklärt mir Schlager. Wenn man falsch abbiegt, glaubt man noch lange, man befinde sich auf einer Parallele zum Ziel, aber mit jedem Schritt entfernt man sich. Wie im Leben. Schnellstadtführung per Auto und zu Fuß. Schlager päppelt mich auf, spendiert Kebab, schenkt mir Hosen. Fährt mich am nächsten Tag zur Autovermietung, wo ich den Leihwagen hole für den Urlaub mit SoSo. Und rein ins deutsche Autobahngemetzel. Ich habe Glück. Wenig Verkehr. 200 km bis Hamburg oder gar mehr. Ich achte nicht auf den Kilometerstand. Flughafen Fuhsbüttel. Eine Stewardess, an der ich vorbei laufe, schaut auf ihre Armbanduhr. Plötzlich ist mein Blick geschärft für solche Details. Menschen starren auf die Tafel, die die Landungen anzeigt. Zürich ist pünktlich. New York seit sechs Stunden überfällig. Berlin 10 Minuten zu spät. Herr Tohlsen wird ausgerufen für den Flug nach Rom. Ich belausche Handygespräche, die das Lied von der Verspätung singen, im Refrain stets die verklärte Hoffnung auf Pünktlichkeit. Eine der großen Balladen unserer Zeit. Wenn alle Menschen gleichzeitig auf ihre Armband schauen würden in einer kollektiven, ruckartigen Bewegung, würde die Erde ins Trudeln geraten.
SoSo pünktlich aus der Abfertigungshalle. Wir fahren nach Rendsburg, wo wir uns in der Pizzapension eingemietet haben für zwei Nächte, in der wir schon letztes Jahr logierten. Übernachtung und Freipizza für nicht allzu teuer. Gestern bummeln durch Tag und Stadt. Ein Artwalk. Leckeis. Throwing Time Away, säuselt der Refrain eines Lieds in meinem Hinterkopf, ich glaube von einer Band namens Pere Ubu. Tot.
Per Telefon schlagen Sorgen ein. Meteore aus der Kälte, die mir nun den Nachtschlaf rauben. Schatz, ich bin zu Hause. Der Liveblogbericht „Ums Meer“ ist zu Ende. Vielleicht ist auch die Reise „Ums Meer“ zu Ende? Kann ich noch einmal einsteigen und im Schnellleben wie es die letzten Tage stattgefunden hat, wenigstens die Kunststraße zu Ende fotografieren?
Never skip an open end.
Der wievielte Reisetag? Ich muss im Blog nachschlagen. Tag 102. Die Stadt erwacht.
Lieber Irgendlink, willkommen zurück in der Welt der überdachten Unterkünfte und tickenden Armbanduhren. Es ist großartig und spektakulär, was du geschafft hast und ich habe dich manches Mal in Gedanken begleitet, wenn ich am liebsten alles hinter mir lassen wollte, wenigstens für eine Weile. Nun, die einen träumen davon, die anderen tun’s. Respekt vor deinem Mut und Durchhalten, auch wenn deine Rückkehr offenbar zwiespältige Gefühle auslöst. Erhol dich gut von deiner Erschöpfung, sei stolz auf dich! Gratulation zum Abschluss dieser ungewöhnlichen Reise. :-)
noch ist alles offen… so lese ich es wenigstens, wäre doch gut die Kunststraße zuende zu führen oder nicht?
eine gute Zeit dir und SoSo
Ach Irgendlink. Noch glaube ich nicht an das Ende – denn das Ende ist erst, wenn es Gut ist, oder?
Aber: ehrlich gesagt macht mich der Schluß des Textes trotzdem so abschiedstraurig … Die Andeutung einer Träne begleitet Dich und Deine Liebste in eurem Urlaub. Und ganz viele gute Wünsche.
Emil, die guten Wünsche kann ich gut brauchen. Danke dafür.