Was uns Pilger antreibt

Was könnte ich es so gut haben und gemütlich zu Hause neben dem Ofen sitzen und einen Nesbø- oder Vargas-Roman verschlingen. Ab und zu ein Mama-gebackenes Weihnachtsplätzchen und das surren eines Topfes Glühwein auf dem Ofen.
Hundegebell. Durchs Fenster blitzt im Halbsekundentakt das Signal eines Windrads. Sternklare Nacht. Multiples Menschenschnaufen. Martina schnarcht wieder wie ein unglückliches Schlossgespenst. Wie die unerlöste, kalte Seele in feuchtem Gemäuer. Im Dachgeschoss hat sich Apnoiker Carlos auf einer Matte langgestreckt. Sein Schnarchgewitter grollt im Treppenhaus. Obwohl wir seit wasweißich wievielen Tagen zusammen unterkommen, war er noch nie bei uns anderen im Zimmer. Er ist der rücksichtsvollste Pilger aller Zeiten. Thomas schläft bei Sardi draußen in der Garage, was öfter mal vorkommt. Selten erlauben die Hospitaleros Hunde in der Albergue. Meist aber bieten sie eine wenn auch unkomfortable Alternative.

Foncebadon ist, auf den ersten Blick, ein zerfallendes Bergdorf, in dem es nicht viel gibt, als diese urige Herberge. Im milden Abendlicht erreichen Martina, Chaeuk und ich den Ort. Vorpilgerin Alice hatte mich gestern per Kommentar (im Sofasophienblog und SMS*) warnen lassen, dass es schwer werden würde, den Berg zu erklimmen, dass die letzten 300 m bis zur Albergue eine halbe Stunde Quälerei wären.
Nichtsda. Gemütlich spazieren wir durch fast frühlingshaftes Land. Die Rückblicke nach Astorga, die schiefe Ebene hinunter sind unbeschreiblich. Wie durch dünne Haut auf Milch kann ich das Gefühl der Jugend und des erstmals erlebten Augenblicks fühlen. Eine Sache, die uns Menschen, je älter wir werden, desto mehr abhanden kommt.
In der Albergue treffe ich Laura wieder. Sie ist seit sechs Tagen hier, Hilfshositalera. Sie gibt uns den Stempel, trägt unsere Namen ins Herbergsbuch ein. Später zeigt sie Bilder auf der Digitalkamera. Der Pass muss noch vor wenigen Tagen tief verschneit gewesen sein. Überhaupt sei dies der erste Tag, an dem man hier richtige Fernsicht genießen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, eine unsichtbare Kraft räumt mir den Weg frei. Nicht nur hier, sondern im ganzen Leben. Alles laufe nach einem ausgeklügelten Plan. Zuckerbrot und Peitsche des Schicksals. War es nicht im Mai auf dem Weg nach Andorra genauso: kurz bevor der Schnee kommt, überquere ich den Mont Lozère; und die 2400 m hohe Porte de Envalira taut erste ein paar Tage bevor ich sie erklimme auf, so dass man mit dem Rad hinüber fahren kann.
Franks Frage, was uns Pilger antreibt, wollte ich beantworten. Ich kann es nicht. Vielleicht müssen wir den Camino einfach gehen. Es ist unser Schicksal, die wir hier zu sechst oder siebt heute Nacht in diesem Zimmer schnaufen. Die eigentlichen Gründe, warum wir überhaupt losgelaufen sind, sind so unterschiedlich, wie die schier unmöglichen Zufälle, warum wir als die geboren wurden, die wir sind. Der Camino als Parabel für das Leben ansich? Bist du erstmal unterwegs, lebst du erstmal, fragst du nicht mehr nach dem warum und nach der Kraft, die dich antreibt.
Sicher gibt es Feinheiten, die das Vorankommen begünstigen: Wetter, gute Laume, nette Mitpilgerinnen. Manchmal frage ich mich, ob ich den Weg auch ganz alleine würde laufen können. Ohne meine Pilgerfamilie. Man kommt so erschreckend langsam voran. Die Zweibrücken-Andorra Reise im Mai war zwar eine Reise von ähnlichem Ausmaß und dort war ich alleine unterwegs, aber es lässt sich nicht vergleichen. Ich radelte durch ein opulentes Frankreich und mein Antrieb war die Kunst.
Hier auf dem Camino spielt die Kraft der Kunst und des Schreibens eine untergeordnete Rolle. Ich fotografiere nebenbei, weil es sich anbietet. Genauso ist es mit dem Schreiben. Den Fluss dieser kraftvollen Reise bremst es weder, noch beschleunigt es ihn. Kunst und Schreiben fallen als Triebfeder weg. Sinnsuche ebenso. Wenn etwas antreibt, dann die Gemeinschaft mit den Anderen, doch auch sie ist kein richtiger Grund. Das Lemmingeprinzip. Wir alle laufen in einem gleichmäßigen Strom. Seit ich losgelaufen bin steht meine Zeit still. Die Vergangenheit ist wie ausradiert. Insbesondere die Alltagssorgen. Die Zukunft beschränkt sich auf das Erreichen der nächsten Albergue, der nächsten Bar, manchmal nur der nächsten Wegbiegung.
Was habe ich es doch so gut.

Foncebadon Ortseingang aus Rabanal kommend
———————————————————————————————
EDIT:
* siehe nachfolgender Kommentar von Sofasophia

6 Antworten auf „Was uns Pilger antreibt“

  1. Ich weiß nicht mehr wo es war, aber du hattest doch mal geglaubt, dein Blogdingsbums (ich weiß nicht genau wie es heißt) verloren zu haben und ohne das Teil nicht weitermachen zu können. Inzwischen ist offensichtlich diese Triebfeder weggefallen. Ich bin total beeindruckt. Die geheimnisvolle Kraft des Weges scheint wirklich zu existieren.

  2. triebfeder „liveblogging via iphone“ und kunst sind in den hintergrund getreten? hättest du selbst das je gedacht? :-)
    und doch werden deine texte und bilder täglich berührender. wohl ist das die wahre kunst, die absichtslos entsteht, kunstbübchen du.
    dank an frank für die inspiration zu diesem artikel.
    noch ein KORRIGENDUM zu obigem text: die an dich weitergeSMSste streckeninfo hat mir alice in ihrem blog kommentiert, nicht in meinem. und das erwähnte happiste stück ist vor el acebo, kommt also noch.
    buen camino weiterhin!

  3. Hallo Jürgen,
    das liest sich für mich gut und stimmig, freut mich.
    Hier in München gibt es den Spruch von Karl Valentin „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“. Beim Camino kann man glaube ich in dem Satz das Wort „Kunst“ durch das Wort „Pilgern“ ersetzen, und der Satz stimmt immer noch.
    Buen Camino Frank

  4. dünne haut auf milch- gefühl der jugend- erstmals erlebte augenblicke- wow.
    sinneseindrücke von einem sinngesegneten…danke dafür! was für ein glück, dass du alle sinne beisammen hast- und für diese so wohlklingende worte findest und illustrierende fotomotive!

  5. Ich denke, das mit dem Wandern ist der Reiz von dem Vielen, was einem im Alltag verwirrt, auf weniges umschalten zu können. In gewisser Weise eine Sehnsucht nach alten Zeiten, wo die Technik nicht so sehr am Ich gekratzt hat. Gut weiterwandern U.

  6. Heute bei den Kleinanzeigen in der Südd.Zeitung:
    Jakobsweg
    Ich gehe für Sie den Jakobsweg…mit einer Telefonnummer.
    Hast Du schon so jemanden, der in Diensten geht, getroffen?
    Das ist also auch ein Grund! Geld. Was der wohl dafür bekommt?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert