6. Mai 2010, Campingplatz Atlantis, Millau Plage. Immer noch kühl, immer noch trüb. Wenn vorhin nicht eine SMS aus der Homebase eingetrudelt wäre, das Wetter werde ab heute Abend besser, müsste ich ganz schön hart mit der Laune kämpfen. Um Gute Laune ringen bei bedecktem Himmel, zweiter Kaffee.
Ax-les-Thermes (2000), Millau (2010), Zweibrücken (2020) – so lauten die Übernachtungsplätze nach dem sechzehnten Tag auf Tour. Im Tagebucheintrag im Millau der Reise des Jahres 2010 regt sich mein damaliges Ich erst einmal über den verwahrlosten, überteuerten Campingplatz auf, der immerhin mit vier Sternen ausgezeichnet ist.
Habe ich es hier mit Geldschneidern zu tun? Je größer die Systeme, desto teurer und unpersönlicher werden sie. Sie faulen von innen heraus.
Schönglänzend dekoriert mit Sternen und romantischen Namen, verbirgt sich im Hintergrund eine von Menschlichkeit gelöste Maschinerie, in der es nur noch um Geld, Profit, Rentabilität geht. Hart segelnd am Wind. Jegliche Pufferzone die in Normalzeiten nicht nötig ist, wird abgebaut, ohne dabei an extremere Zeiten zu denken, in denen man diese Puffer gut brauchen könnte – gestern war wieder Assistenztag, wie ich es nenne. Einmal wöchentlich kaufe ich ein für Freund Journalist F., löse Rezepte ein, setze die Waschmaschine auf, bringe den Müll runter und räume die Wohnung auf.
Ein Besuch in der Hölle, wie ich es nenne, der Freund möge es mir verzeihen. Vermutlich kommt aber die mittelalterliche Vorstellung von Hölle dem recht nahe, was er durchmacht. Das größte Problem ist nicht einmal die Hilflosigkeit, beeinträchtigt nicht mehr alle Arbeiten des täglichen Lebens selbst erledigen zu können, das Problem ist der schreckliche Zustand, alleine gelassen zu werden und im medizinischen und behördlichen System an langer Hand in einem großen, weißen, leeren Raum der Nichtzuständigkeiten zappeln zu müssen. Wenn denn Zappeln so einfach wäre. So etwa die Pflegeversicherung, die ihn seit einem halben Jahr hinhält und die längst überfällige Einordnung in eine Pflegestufe wieder und wieder verzögert, was Anrufe, Emails, Widersprüche nach sich zieht, kraftraubende Anrufe, Emails und Widersprüche. Kraft, die der Freund nicht hat. Verschanzt hinter meterdicken Aktenmauern und Gesetzbüchern lässt es sich unsere Mitmenschlichkeit fettwanstig gutgehen, Hauptsache, wir hören die Schreie nicht derjenigen, die hinter den Aktenbergen um ihre Existenz kämpfen.
Was rede ich. Kafka hat doch mit ‚Das Schloss‘ schon alles gesagt.
Dieser Campingplatz scheint ein gutes Beispiel zu sein für ein faul gewordenes System. Viel investiert, das Ding groß und schick gemacht, die Kosten nun auf die Allgemeinheit verteilt, ohne dass die Leistung erbracht wird. Unpersönlich.
Hier soll man Ferien machen? Prima, wenn alles so unpersönlich ist, kann man selbst auch so handeln, unpersönlich, sich um nichts als das eigene Wohl kümmernd, wohl wissend, dass man sich in gemeinsamen Sphären bewegt, die gemeinsam gepflegt und sauber gehalten werden müssen. Die Meisten tun das auch. Die, die wegschauen, nichts tun außer profiteren verseuchen den gemeinsamen Ort wie ein Tropfen Öl eine Tonne Wasser. Das System produziert die Individuen, die der Führung des Systems entsprechen. Egoismus und Gleichgültigkeit machen sich breit und dahinter eine Lizenz, eine zur Verwahrlosung, eine zur Verrohung und eine zur Teilnahmslosigkeit. Vier Lizenzen und ein? Es ist wie in einen Strudel gesaugt zu werden: einer fängt an und mehr und mehr lassen sich mitreißen. Huch, da liegt Müll! Lege ich meinen dazu. Fällt ja nicht auf. Und: Den Schmutz der Anderen, den mache ich garantiert nicht weg! Es beginnt immer klein.
Die Allgemeinheit derjenigen, die diesen Platz nutzen, revanchiert sich mit wilder Müllablage, verschmutzten Spülen, dreckigen Toiletten.
Kurz vor zwölf betrete ich das Wartezimmer von Journalist F.s Hausarzt, um bestellte Rezepte abzuholen. Es ist leer. Wie vor zwei Wochen auch. Gutso. Ich trage eine Maske. Die Corona-Situation wird mir langsam mulmig. Am Liebsten würde ich das Haus gar nicht mehr verlassen. Ich glaube, die Arzthelferin hat hinter ihrer Maske gelächelt, als sie mir die handgeschriebenen Rezepte gibt. Die Apotheker ist direkt gegenüber der Praxis. Auch hier alles leer. Es dauert ewig, bis die Apothekerin die etwa acht Rezepte durch den Computer gejagt hat. Groteske Apotheke. Es arbeiten drei Apothekerinnen an drei Terminals, aber ich bin der einzige Kunde aus Fleisch und Blut. Alle anderen Rezepte kamen per Fax, Email, kontaktlos (darum hatte ich Journalist F. auch gebeten, aber ihm fehlt die Kraft, das System mit der App zu bedienen). Im Hintergrund an einem Schreibtisch sitzt der Chef und telefoniert. Manchmal hebt er die Hand. Es ist so grotesk. Als würde er bei einer Auktion für einen Telefonbieter mitsteigern. Die Glasplatten über den Verkaufstischen sind fast einen Zentimeter dick. Ob das echtes Glas ist? Schon bin ich versucht, dranzufassen, halte mich aber zurück. Glasplatten können ja so intim sein. Fast wie Aktenberge und Gesetzesbücher, denke ich. Eine junge, agile Frau auf dem Werbemonitor nimmt einen Schokokuss vor den Mund, will hineinbeißen, jemand klatscht ihn ihr ins Gesicht, sie lacht zwischen Schaum und Schoko, Filmschnitt, Produkt, klatsch! Wie oft habe ich den Clip schon gesehen in den letzten Monaten? Warum erinnere ich mich nicht an das Produkt? Weil es für junge, agile Frauen gedacht ist.
2. Mai 2000, Camping Municipal, 1,5 Kilometer südlich von Ax-les-Thermes. Gestern Abend war ich so müde, dass ich direkt nach dem Essen, halb zehn, eingeschlafen bin und erst um 3:20 Uhr wieder erwachte. Es war tiefer Schlaf. Nun, acht Uhr, Schneidersitzbüro. LKW rollen über die N 20 – das kann etwas werden! Heute muss ich von etwa 700 Metern auf – laut Karte – 2400 Meter klettern. Eine Hammeretappe also. 31 Kilometer steil berghoch und bei vermutlich viel Verkehr. Gestern: über Nebenstrecken nach Pamiers, Foix, Tarrascon. Etwa drei Kilometer hinter Tarrascon geht es dann auf die N 20, wobei der meiste Verkehr mir entgegen kommt, rückreisend aus Andorra.
Der Campingplatz ist spitze. Durch einen Felsen wird man vom Lärm der N 20 abgeschirmt. Das Rauschen der Ariège tut sein Übriges. Obschon der Gebirgsfluss etwas nach Kloake riecht. Waschhaus beheizt.Im Grunde liegt meine Hauptbeschäftigung doch darin, das viele Erlebte vorzusortieren, auszuwählen, und auf Papier und Zelluloid zu retten. Die unendlich größere Menge an Erlebtem bleibt außer acht. In diesem Buch ist keine Chance für das Flüchtige. […] Was bleibt von Tarrascon in meiner Erinnerung? Riesiges Bahngelände, eine Uhr, die noch nach Winterzeit gestellt ist. Was bleibt von Foix? Touristen in Massen. All die Dörfer mit ihren Brunnen, Dörfer deren Namen ich vergesse, sobald sie hinter mir liegen. Pamiers liegt schon fast zu weit zurück im länglichen Ort. Marktversagen. Bildversagen. Ein Bild ist nur dann ein Bild, wenn es gegenwärtig ist, wenn es erlebt wird.
Der Marker in der Karte? Wohin damit heute? Wieder zur Apotheke? Oder nach Atlantis (Millau)? Oder auf den Mond? Ich bin ratlos, wie ich auch in diesem Buch, das sich bedrohlich dem Ende nähert, ratlos bin. Müde bin ich. Erschöpft. Und ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Ich setze ihn nach Ax-les-Thermes. Das Tal wird eng. Es geht nur noch aufwärts, um in wenigen Stunden des Schwitzens in die ‚Vernichtung‘ der eigenen Reise überzugehen.
2. April 2420. Der längliche Ort taucht immer wieder auf in den Reiseberichten des Herrn Irgendlink. Als Kind in der Lunathek meines Urgroßvaters stöbernd, faszinierten mich diese rohen Relikte aus einer längst vergangenen Epoche, die vom Leben auf der Straße, dem grauen Band, das niemals endet handelten. Die ersten Lesevergnügungen, kaum acht Jahre alt war ich … es war wie die eigenen Träume in die große Schlacht gegen die Eintönigkeit schicken.
Die Vorstellung, man könnte ein Wohnzimmer als länglichen Ort von 1500 Kilometern Länge bewohnen und sich überall wohlfühlen bei Wind und Wetter, berauschte mich. Die Enge der Mondbasis stand im krassen Widerspruch zum dem, was im eigenen Kopf vorstellbar war und zu dem, was vielleicht tatsächlich einmal war, irgendwo da unten auf dem grünlich schimmernden Planeten, den man einst den blauen nannte. (Lind Kernig)
’Schmag das.
ich auch :o)
Dankeeee!
Radlos ratlos und erschöpft, ja, das verstehe ich gut. Diese Reise ist eine Reise von „Vor und Zurück“ (heißt übrigens das erste Buch von mir, dass ich nie veröffentlicht habe), ohne Rad, auf dem Schreibtischstuhl, voller Erinnerungen, angefüllt mit Jetzt, hin zu einem ungewissen Ziel, das viele Menschen gerade beschäftigt. Dieses unbekannte Ziel, dem wohin wir als Menschheit wirklich reisen.
Nachdem ich es heute geschafft habe mein Dunkeltal wieder zu verlassen, verbinde ich mich wieder mit meinen Visionen einer anderen Welt, jenseits von Profitgier, chicken, anonymen Campingplätzen ohne Sorgfalt, ohne Sorge tragende Menschen, hin zu mehr Menschlichkeit, Solidarität und einem höheren Bewusstsein, dass wir nur ein Teil der Natur sind, sie zeigt es uns gerade extrem drastisch. Ein gerader Rücken und ein klarer Geist sind gefragt, letzteres hast du in meinen Augen, ersteres wünsche ich mir, dass du ihn behälst.
Herzliche Grüße
Ulli
Danke liebe Ulli. Möge das Tal sich weiten und Licht einlassen!