Dinge verschwinden. Zuerst die Fahrradhandschuhe. Glücklicherweise kann Monsieur Irgendlink sie durch wollene Handschuhe mit Norwegermuster ersetzen. Das Künstlerhirn grübelt, dass irgendwo in der Künstlerbude noch weitere Handschuhe liegen sollten. Derweil verschwindet ein Huhn. Man hat es vor vierzehn Tagen gesehen aus dem Pferch ausbrechen, sich seiner Freiheit erfreuend, im Wald verschwindend, nie wieder auftauchend. Noch nicht einmal Federn fand man. Das Huhn mutiert zu Schrödingers Huhn. Gleichzeitig lebt es und ist tot. Ein quantenphysisches Problem. Keiner weiß, was geschehen ist, so lange man keine Federn findet. In einer Schublade in der Kommode in der Künstlerbude taucht ein Handschuh auf, kein Fahrradhandschuh, ein uraltes Ding aus Islandwolle. Einer allein. Wo ist der andere? Derweil betätigt sich das Künstlerhirn mit PHP-Skripten und Homepages und registriert den Zerfall des Körpers, in dem es ruht: Tippfehler, bei denen mehr als drei Buchstaben in einem Wtro verdreht sind. Das gab es früher nicht. Der Name von dem Dingsda, den man einst besser kannte, will nicht sofort parat sein. Da stimmt doch was nicht. Lochfraß im Hirn. Die Handschuhe bleiben trotz intensiver Suche verschwunden. Alle zweieinhalb Paare, an die Monsieurs Hirn sich erinnert. Wieviele Paar Handschuhe befinden sich in Monsieurs Besitz, an die er sich nicht mehr erinnert?
Alljährlich muss die Wasserleitung zur Künstlerbude abgestellt werden, da sie nicht frostfrei verlegt wurde. Es gibt fünf Hähne an der hundert Meter langen Leitung, die geöffnet werden müssen. Im Atelier steht noch die große Mülltonne, die im letzten Winter als Auffang diente. Als Monsieur den Deckel hebt, sitzt da das verschwundene Huhn, fast zwei Wochen verschollen, hatte es sich durch den Klappdeckel selbst gefangen – da es lebt, erhält es den Namen Nehberg. Tse. Zwei Wochen in einer Mülltonne. Zwei Eier liegen darin, Kot und Urin, der sich mit dem wenigen Wasser gemischt hat, das noch vom Vorwinter in der Tonne stand.
Das Künstlerhirn verbringt mittlerweile viel Zeit damit, zu grübeln, wo die Fahrradhandschuhe sind: nicht in der Künstlerbude, denn die wurde bis zum letzten Winkel durchsucht. Auch nicht im Badezimmer. Das Atelier macht einen aufgeräumten Eindruck. Die Bude zweimal links gemacht, bleiben die Handschuhe verschwunden.
Man darf dieses Hirn nicht zu sehr grübeln lassen. Wie ein Pelztier, das sich zum Überwintern anschickt, sitzt es verängstigt in seiner Höhle und beißt sich an solchen Belanglosigkeiten, wie Handschuhen fest oder Geldsorgen und es befeuert sich insgeheim mit defaitionistischem Brennmaterial, das zur Selbstaufgabe jeglicher Weiterbildung führt: wozu noch PHP-Scripte studieren, wenn der Lochfraß um sich greift und man die Dinge schneller vergisst, seine Handschuhe nicht mehr findet, den Namen von dem Dingsda nicht erinnert und die Bchustaben vertauscht? Die Dinge schneller vergisst, als man sie sich einprägen kann. Das ist doch wie mit einem löchrigen Eimer Wasser zu schöpfen, du Kelly Bundy der feinen Künste, du. Du musst für jedes, was du dir merkst, etwas anderes aus dem Hirn löschen …
Der Mensch neigt dazu, Dinge in Einheiten zusammenzufassen. Ein Schrank voller Gegenstände ist ein Schrank, nicht etwa eine komprimierte Darstellung von Gegenständen. Ein Aktenordner voller Seiten ist nur ein Aktenordner und nicht die Ansammlung hunderter schriftlicher Dokumente.
Somit ist die Kiste voller Fahrradzubehör nur eine Kiste … die zudem unter einer anderen Kiste gelagert ist, in der sich Kunstwerke befinden.
Sowohl Huhn, als auch zwei von zweieinhalb Paar Fahrradhandschuhen sind wohlbehalten wieder aufgetaucht. Nach vierzehntägiger Grübelei.
Ein Gefühl von Lochfraß im Hirn bleibt, unangenehm reibend … früher waren Dinge voller anderer Dinge noch Dinge voller anderer Dinge. Aber mit zunehmendem Alter und dem Abbau von Hirnzellen werden die Dinge immer mehr zu Dingen, zu Allgemeinplätzen voller Geheimnisse … und wenn die Geheimnisse erst verschwunden sind, was bleibt dann noch?
Das passt ja wieder mal in die Texte der Blogversammlung. Ich habe den Artikel gern gelesen, nicht ohne zu schmunzeln oder zu denken: genausoisses. Im Hinterstübchen meines Kopfes rührte sich die Frage: ist das mit dem Holz vielleicht auch vergessen? :-)
Abernein. Das Holz kommt nächste Woche. Den Namen von dem Dingsda, den hätte ich wirklich nicht vergessen dürfen.
Klar, auch Hühner müssen Pipi- besonders verschollene Überlebenskunsthühner. Nehberg hat ja auch Würmer gefressen.
Hast Du die beiden Eier gekocht- für Ostern oder so?
Ich kann mich erinnern, dass Du mal so Handschuhe in der schicken Mall kaufen wolltest, die dann aber im örtlichen Sportgeschäft um einige Euros- oder waren es noch D-Mark- günstiger bekommen hattest…
Und mit nach fünfzig sind Namensvergessprobleme voll normal!
Gruß am Mittwoch
Die beiden Eier waren in einem verheerenden Zustand. Es roch nicht gut in der Tonne. Das Nehberg hat leider einen schweren Stand in der Gesellschaft. Dauernd hacken sie auf ihm, ihr rum. Ob es sich je wieder erholt?
vielleicht bleibt eben nichts mehr. das alles wird nichts und das nichts ist eigentlich alles. invertiert sozusagen. 10 durch minus 10 neutralisiert.
und lochfrass ist eigentlich fülle pur. dahinter, darunter.
sofasofiert im zug, der nirgends stand, aber immer fort fuhr.
hi,
alles wird weniger – im laufe eines lebens. und vielleicht bleibt am ende das notwendige übrig. zu wünschen wäre es – uns.
gut, dass dinge verloren gehen. würden wir sonst darüber schreiben?
„was man besaß, weiß man, wenn man’s verlor.“ (erich kästner)
und: das spannende an löchern sind die ränder. was da sich sammelt.
das huhn namens nehberg ist grandios, und es wird auch den überlebenskampf im neualten sozailverbund überstehen, es muss seinem namen ja treu bleiben.
gruß, uwe
Ja, Uwe, das Nehberg ist wieder in einer guten Verfassung, durfte ich heute bei einem Besuch im Hühnerstall feststellen.
So ein armes gemopptes Huhn aber auch. Man müsste Hühnersprache lernen, um den anderen Hühners sagen zu können, dass es so nicht geht. Vielleicht hat es etwas getan, was gegen die Hühnerehre geht. Vermitteln ist schwer, wenn man die Sprache nicht kennt und nicht weiß, worum es überhaupt im Hühnerstall geht- schade. :-(
Ich glaube, die vergessen schon nach kurzer Zeit, wer dazu gehört, und dann wird erstmal gemobbt.