Wenn die letzte Katzenklappe fällt … #Retrospektive

Nachdem die Katze gestorben war, etwa 2018 – es war kalt, ekliges Wetter, dunkle Tage, ständig regnete es, ich hatte kaum Lust das Haus zu verlassen und mein Körper geriet in jene Art Minimalalltagsverwahrlosung, die sich bei älteren Menschen einstellt, die zum Duschen das Haus verlassen müssen, über den Hof durch Pfützen, Schlamm und meist gegen den beißenden Nordostwind – nachdem die Katze gestorben war klaffte nicht nur das übliche Loch, das klafft, wenn jemand gestorben ist. Die Katzenklappe, die vom Scheunenatelier in die Künstlerbude führt war ein hässliches Plastikteil, aber es tat einst seinen Dienst, den es nun nicht mehr tun musste. Nie wieder. Fett und Katzenhaare klebten an den Rändern. Ich baute ich sie aus und schraubte ein Kunstwerk vor das Loch, genauer gesagt Kilometer 522

Auf einem Filmstreifen sind links ein schwarz-weißes Querformat und rechts ein farbiges Hochformat abgebildet. Beide zeigen den selben Baum. Links lehnt ein Fahrrad an der vermutlichen Weide. Rechts fluchtet ein Feldweg durch eine grüne Wiese darauf zu.
Fotos der beiden Reisen nach Andorra bei Kilometer 522.

meines Langzeit-Kunststraßenprojekts Zweibrücken-Andorra.

Das Bild zeigt einen uralten, verstümmelten Baum auf leicht abschüssiger Weide, an dem das vollbepackte Reiserad lehnt. Ein Schwarz-Weiß-Bild. Daneben ist hochkant ein Farbbild montiert, das den Baum, ohne Fahrrad zehn Jahre später zeigt. Ich weiß noch, wie erfreut ich war, den Baum im Jahr 2010 wieder zu sehen. Leider war die Weide im Jahr 2010 belegt und der Zaun geschlossen, so dass ich nicht zum Original-Bildstandort radeln konnte. Mit dem Teleobjektiv holte ich das Motiv heran. Für die Akten.

In den 2010er Jahren hatte ich eine oder mehrere Ausstellungen oder offene Ateliers, in denen die Dublettenserie gezeigt wurde. Neben den reinen Kunststraßenbildern, strenge Straßensichten konsequent in Reiserichtung, hatte ich zur Auflockerung auch Bildpaare besonderer Ansichten ‚beside the Street‘ mit in die Serie genommen. So auch den Weidenbaum, der irgendwo in Burgund unweit von Dijon wächst.

Im letzten Artikel hatte ich leichtfertig erwähnt, mein wichtigstes Liveblog-Projekt sei der Kapschnitt gewesen, die Radreise 2015 zum Nordkap. Warum?, wurde ich gefragt und im Nachdenken über das Warum begründete ich: Weil es mein längst angelegtes Projekt ist, das seine Wurzeln im Jahr 1988 hat. Weil ich etliche Male scheiterte, bevor ich 2015 als gefühlt erster live bloggender Künstler das Nordkap per Fahrrad erreichte.

Das ist natürlich richtig, aber nur ein Teil der Wahrheit. Ich glaube, das Geheimnis meines Kunstschaffens und Schreibens ist, dass ein Projekt immer nur ein Baustein ist im großen Ganzen und dass diese Bausteine alle miteinander verbunden sind. Dass Zeit dabei keine lineare Bedeutung hat und dass Projekte sich auf verschiedenen Zeitebenen zu verschiedenen Aktivtätsphasen überlappen, sich miteinander mischen, einander beeinflussen und auch bedingen. Der Kapschnitt in der Form 2015 wäre nicht möglich gewesen ohne die beiden Zweibrücken-Andorra-Reisen, ebenso wäre Gibrantiago, die Reise nach Gibraltar nie passiert, wenn es nicht mit dem Nordkap einen Gegenpol gegeben hätte. Auch die Idee zu den  modernen, momentan aktiven Liveblog- und Kunststraßen-Projekten der UmsLand-Serie, in denen ich Bundesländer umradele und portraitiere, hätte nie gezündet.

Es ist nie vorbei, außer die Katze stirbt.

Wo nun statt durchgängiger Klappe, die so oft ein fordernd klapperndes „ich will Futter, streichle mich, lass mich auf dem Sofa schnurren“ mit sich brachte, ist das Loch mit einem Bild aus den Jahren 2000 und 2010 vernagelt.

2020 hatte ich die dritte Reise nach Andorra fest geplant. Das Radel stand gesattelt im Atelier. Der Abreisetag wäre ein Mittwoch gewesen, vielleicht. So genau kann ich das nicht mehr sagen. Es war der Tag, an dem Frankreich seine Grenze wegen der Pandemie schloss. Die Welt war in einem trudelnden sowas-hatten-wir-noch-nie-Modus; ich unsicher und auch vorsichtig. Zweibrücken-Andorra III fand nie statt. Zumindest nicht in echt.

In der Not wurde mir bewusst, dass die Dinge nicht unbedingt ausgeführt werden müssen. Es reicht auch, wenn man sie denkt. Und das Gedachte skizziert. Ich glaube vierzig Tage lang schrieb ich mein fiktives Zweibrücken-Andorra hier in diesem Blog und nutzte die langen Stunden am Rechner für gründliche Recherche auf den beiden voran gegangenen Reisen. Studierte die alten Tagebücher, zog Bilanz wie sehr sich die Welt im Laufe von zehn Jahren verändert hatte. Bei der Recherche der genauen Bildstandorte aus dem Jahr 2000 (uMap) stellte ich erstaunt fest, dass manche bereiste Straße gar nicht mehr existiert, bzw. verlegt wurde. Ich nutzte die Google-Streetview und suchte an den Stellen, die ich im Jahr 2000 nur im Reisetagebuch händisch skizziert hatte. Dies-und-das Dorf Kreuzung soundso oder: hinter Städchen XY bei einem Feldweg rechts lauten die Einträge. Der Standort Weidenbaum, der die Katzenklappe kaschiert, liest sich wie folgt:

522 Im Bergauffahren das Streckenfoto vergessen, hier auf einem Ziegelsteinweg kurz vor dem Hochpunkt vor Saint Didier, der mit Beauvoir beschildert ist (hier ein ins Logbuch gemaltes Augensymbol) etwa so, aber nix spektakuläres. 1. Mal bin ich mittagsmüde […].

Am Ende in Andorra angelangt, den gesamten Liveblog erfunden als wie-in-echt-Text war die Pandemie immer noch nicht vorbei und ich ging im Freestyle weiter südwärts auf einer Route, die ich vermutlich tatsächlich eingeschlagen hätte. Den Abschnitt von den Pyrenäen bis in die Ruinenstadt Belchite recherchierte ich aus Wikipedia, zufälligen Artikeln und Streetview. Das Projekt machte sich virtuell selbständig; es hätte können ein Buch von den Pyrenäenkriegen bis zum Spanischen Bürgerkrieg werden. Kann es noch immer.

In Belchite angekommen, wendete ich mich nordwärts und „erledigte“ gleich noch ein weiteres Projekt, das ich eigentlich als Echtzeit-Liveblogreise vorgesehen hatte. Die Velodyssée ist der französische Abschnitt des Atlantik-Radwegs. Dafür hatte ich das Blog radlantix.de vorbereitet. Ich schrieb und schrieb und schrieb und gelangte schließlich von der Biskaya bis in die Bretagne, wo sich das Buch in den Mysterien und Mythen einer von Menhiren und Wackelsteinen durchzogenen Gegend verliert. Es ist eine Baustelle, ähnlich wie der Kapschnitt lange Jahre eine Baustelle war. Etliche Artikel fehlen. Und zu guter Letzt besteht immer noch die Hoffnung, eines Tages in echt die 1300 Kilometer lange Velodyssée zu radeln.

Nicht fertig. Nichts ist jemals fertig in diesem Künstlerleben, denke ich nun. Erst wenn die letzte Katzenklappe … lassen wir das.

Erkenntnisse:

Die Skizzierung der beiden Reisen in einer uMap war der Beginn und Auslöser, weitere uMaps für Liveblogprojekte in Kartenform zu skizzieren:
-> Französischer uMap-Server
-> Foss uMap-Server
Dort mittels Schlagwort nach Karten filtern, z. B. oder „Zweibrücken“ oder „Andorra“ (Frankreichserver) oder „UmsLand“ (beide Server).

Die einzelnen Elemente der Retro-Ausstellung, die ich unter dem Schlagwort Retrospektive in diesem Blog skizziere sind nie einzeln denkbar, stehen nicht solo als fertiges Etwas. Zweibrücken-Andorra gehört sowohl zum Kunststraßen-Blog, als auch zum Liveblog-Block und auch zum Pandemie-Block. Das Projekt enthält Spuren von iDogma und Appspressionismus, die ich in einem anderen Artikel skizzieren werde.

Wegen der Verflechtungen aller Ausstellungselemente, hatte ich mir schon gleich zu Beginn der Planungen im Frühjahr 2025 überlegt, dass es ein verbindendes Element geben sollte. Mir schwebte eine Art Akte Irgendlink vor. Mit im Raum schwebenden Aktenordnern und Holzblöcken, auf denen die Arten in Ringösen herumliegen zum Durchblättern. Die Idee gefällt mir zwar, aber Holzblöcke sind schwer zu transportieren und die Bandscheibe ächtzt. Eine neuere Denkweise wäre ein „Kleiner Raritätenladen“ als bindendes Element. Ein bisschen chaotisch, verwunschen mit viel Retro, in dem ich die vielen Objekte und Collagen, die im Atelier herumliegen drappiere und von wo aus die seriellen Arbeiten, allen voran die Reifen- und Kettenstücke zu den klar abgetrennten Einzelbereichen leiten.

Seit ausklingen der Pandemie stellte ich mir jedes mal wenn ich an Kilometer 516 vorbei komme vor, dass ich dort ja einfach hinradeln könnte. Nur eine kurze Tour von fünf Tagen. Es bereitet mir ebenso wehmut und Traurigkeit wie der Sandstein im Garten, unterm dem die Katze begraben liegt. Das dritte Jahrzehnt ist nun schon halb vorbei und ich schaue in die Zukunft und ich verspreche mir, dass ich zur Jährung 2030 erneut aufbrechen werde nach Andorra.

Wenn es diese Welt dann noch gibt.

4 Antworten auf „Wenn die letzte Katzenklappe fällt … #Retrospektive“

  1. 2030 … Erinnerungen an die Fünfjahrpläne des verschwundenen Landes. Und an die sprachlichen Kniffe, immer eine Übererfüllung des Planes vermelden zu können.

    Fünf Jahre sind länger als eine BT-Legislatur, soll heißen: Irgendlink arbeitet zuverlässiger / als das, was sich Regierung nennt, / daher: Irgendlink for President!

  2. Schon spannend noch einmal nachzulesen, wie eins zum anderen bei dir gekommen ist, wie noch immer offene Enden vorhanden sind.

    Für deine Ausstellung wünsche ich dir viele neugierige Besucher=innen.
    Herzlichst, Ulli

    1. Ich finds sogar selbst spannend. Eigentlich ist es gut, dass die Retrospektive kommt. Sonst würde ich diese Skizzen hier gar nicht anlegen. Und auch nicht den Fundus nach Kunstwerken durchsuchen, wo ich übrigens auch einige Kunstwerke von Dir gefunden habe. Das freut mich und erhellt das Gemüt.

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