Von Agno durchs Centovalli, durch den Simplon ins Wallis #UmsLand

Tag zehn und elf der Reise rund um die Schweiz. Mein heutiger Schreibort dürfte hundert oder zweihundert Kilometer vom letzten Schreibort (unweit von Agno im Tessin) entfernt sein. Eine Picknickgarnitur aus Holz direkt an der Rhône. Ich blicke nach Osten, wundere mich, dass die Sonne so steht wie sie steht, müsste sie nicht eher überm Fluss aufgehen, achje und es ist ja Sommer, fast Mittsommer gar, da dreht der Feuerball ja eine dreiviertel Runde, somit blicke ich wohl nach Nordosten.

Auf dem Tisch Frühstücksutensilien, die GoPro, ein Tetrapack Milch, Haselnusscreme und eines jener typischen Walliser Brote. Rund, bemehlt, Dunkel. Wie ein schöner großer Keks und ziemlich schwer. Vom Geschmack her ein bisschen wie Komissbrot, viel edler natürlich, schwer zu schneiden, fürs Beißwerk auch nicht gerade einfach. Das Walliser Brot bleibt ewig frisch, wenn man so will. Als ich gestern durch den Coop-Markt in Leuk spazierte, konnte ich nicht wiederstehern. 4,5 Franken kostete es.

Im Kern der beiden vergangenen Reisetage steht sicher das Thema Warten. Inwieweit Warten eine sinnvolle Tätigkeit ist, was es mit einem macht. Ich hatte gestern früh um kurz nach zehn in Domodossola ein Ticket nach Brig gekauft. Durch den Tunnel. 16 Euro für mich und das Veloticket solle ich im Zug kaufen, sagte die Bahnmitarbeiterin. Hätte ich den Fahrplan besser studiert, den mir Frau SoSo per Kurzmitteilung gesendet hatte, hätte ich mich vielleicht etwas beeilt. Meine Rutsche den Berg hinab wäre sicher viel hektischer gewesen, ich aufgeregt zudem, wie ich es eigentlich vor jeder Terminschleuse bin. Sei es nun ein Fahrplan, Arbeitsbeginn, oder irgendwann irgendwo sein müssen zu einem Zeitpunkt.

Wäre die Zugfahrt nicht, wurde mir plötzlich klar, wäre die Reise weiterhin in einem unförmigen, aber wohligen Zeitstrom ohne jegliches Zeitempfinden verlaufen. Das war mir sonntags bewusst, diese Zeitlosigkeit. Sie stellte sich dadurch ein, dass ich nicht einkaufen musste, weil ich es auch nicht konnte. Ein Gefühl des ‚alles ist genug, du brauchst nichts‘ stellte sich ein. Ich hatte zwar ein Ziel oder besser eine Richtung, nämlich durch Locarno ins Centovalli und rüber nach Italien, aber kein Zeitkorsett. Zunächst folgte ich der Schweizer Radroute 3 Richtung Bellinzona. Auf dem Pass jenseits von Rivera war ich kurz versucht, einen als gestrichelte Linie und mit Via Romana eingezeichnete Abkürzung steil den Berg hinab zu nehmen, um auf den Locarno-Radweg zu kommen. Die drei macht an dieser Stelle nämlich einen unmäßigen Schlenker, warum, sollte ich sogleich feststellen. Doch zunächst plauderte ich mit einem Briten auf dem Weg nach Como, nein, er könne mir auch nicht sagen, ob die Via Romana gut zu radeln ist. Drei Rennradler fuhren gerade hinunter und ich weiß nicht, was mich geritten hat, Vernunft? Das kann nicht sein, dass die Abkürzung taugt, sieh dir mal die Höhenlinien an. Der Brite sagte, die Route drei fahre sich sehr gut, sogar den Berg hinauf, wie sie gekommen waren, und ich muss ja nur hinunter und was sind schon fünf Kilometer mehr, wenn man sie in Gewissheit tut, im Vergleich zur Ungewissheit der Abkürzung. Die drei Rennradler waren mittlerweile verschwunden und ich radelte mit fünfzig, sechzig Sachen hinab auf der frisch geteerten Landstraße. Wieder so ein Pass, bei dem ich mir beim Abrollen nicht vorstellen konnte, ihn je hinauf geradelt zu sein.

Ein, zwei Stunden später baumelte ich in der Hängematte in Tenero, als die drei Rennradler an mir vorbei radelten. Ich weiß nicht, ob sie die Räder die Via Romana hinunter tragen mussten oder auf halber Strecke verzweifelt umgekehrt waren.

Bewusst nutze ich meine Hängemattenbaumelpausen, um auch die Akkus per Solarzelle zu laden. Da diese einen Wackelkontakt hat, kann ich sie nicht zuverlässig auf dem Gepäckträger betreiben. Das gibt aber meiner Ruhe auch eine gewisse Legitimation. Gegen Abend Einstieg ins Centovalli. Ab Ponte Brolla etwa zweigt der gut gemachte Radweg ins Valle de Maggia ab und ich muss wieder auf die Landstraße. Zum Glück nicht zu stark befahren und zum Glück auch mit halbwegs unriskanten Überholmanövern. Wegen der vielen Kurven kann man ohnehin nicht schnell fahren.

Bei einem Stausee überlegte ich, zu zelten, sah gut aus, entschied mich dann doch dagegen, da mir die Vorstellung nicht behagte am frühen Morgen gleich schon wieder Steigungen zu erklimmen. Ich meine, der Stausee war bei etwa vierhundert Metern und der Pass bei Santa Maria ist etwa 750 meter hoch. So genau erinnere ich mich nicht mehr. Das letzte Mal, dass ich durchs Centovalli radelte war 2001.

Beklommen war mir dennoch ein bisschen, denn in der Erinnerung ist die Strecke zwischen Domodossola und Locarno eng, kurvenreich, steil und es gibt noch nicht einmal Stellen, an denen man anhalten könnte, um mal eben zu Pinkeln oder ein Foto zu machen. Denkste. Ab dem Ort Re (Link zu Wiki) öffnet sich eine Art Hochtal und ich finde massenhaft Wiltdzeltplätze, so dass es fast schon schwierig wird, sich für einen zu entscheiden. Die Wahl fällt auf eine verlassene Kuhweide. Die Zäune sind schon abgebaut, direkt an einem Nebenfluss, der eine Art Wasserfall bildet, der sich über eine betonierte Kante stürzt. Wenn es mir gelänge, die drei Meter hinunter zu klettern, könnte ich sogar duschen. So aber bleibt nur ein Bad und ein im Fluss gekühltes Bier.

Montag, Transfertag, gestern. Ich bummele, drehe meine Runden in den Bergdörfern. Bis Santa Maria waren denn doch noch etwa 100 Meter zu klettern. Das Dorf liegt auf über 800 Meter. Dann stürzt sich die Straße hinab ins Tal und in weniger als einer halben Stunde stehe ich in Domodossola am Bahnhof, kaufe des Ticket, habe drei Stunden Wartezeit bis der Bimmelzug nach Brig fährt. Ich bummele durch die Stadt, sitze in der Fußgängerzone, esse eine Banane. Auf der Bank neben mir sitzt ein junger Mann, liest ein Buch. Ich grüße ihn Buongiorno, er grüßt zurück, liest und liest. Meine Solarzelle liegt auf dem Gepäckträger und pumpt das Handy voll. Ich nichtse so vor mich hin, denke übers Warten nach. Über Zeitpunkte und wie sie die Herrschaft über mein Leben, über unser aller Leben ausüben. Abstrakte Marker in einer streng getakteten Welt. Ab und zu stehe ich auf, gehe zum Radel, richte die Solarzelle aus. Ein Presslufthammer wummert. Nicht zu laut. Die Turmuhr schlägt zwölf. Noch eindreiviertel Stunden, dann gehts durch den Simplontunnel. Der junge Mann steht auf, sagt Arrivederci und geht. Ich packe zusammen und radele ein bisschen durch die Stadt. Fotografiere, lande in einem Park. Halb eins. Zwei Kleintransporter fahren über die Wiese bis zum Schatten unter Bäumen. Drei Männer steigen aus, machen es sich auf den Bänken neben einem Spielplatz bequem, quatschen Arbeitermittagspausendinge, essen ihr Lunchpaket. Ich richte hin und wieder die Solarzelle aus, müde bin ich, wenn ich einschlafe, verpasse ich vielleicht den Zug, stelle den Wecker auf 13:30. Eine Viertel Stunde sollte reichen bis zum Bahnhof zu radeln, denke über Zeit nach, verflixt, der nächste Zug, falls ich diesen verpasse, fährt um 15:48 und dann noch einer, ein paar Stunden später, und mein Ticket gilt bis 22. Juni. Ich könnte also wartend in Domodossola verbringen, die Hängematte zwischen den beiden Bäumen neben dem Bolzplatz da hinten aufbauen und ein Buch schreiben. Vom Warten in Dodo, wie ich Domodossola kumpelhaft nenne.

13:48 sitze ich im Zug. Die Schaffnerin wundert sich, dass mir die Schalterbeamtin kein Veloticket verkaufen wollte, druckt mir eins für 8,20 Franken aus. Somit habe ich diese Zugfahrt sowohl in Euro, als auch in Franken bezahlt.

Schwüle Hitze trifft mich mit Wucht, als ich den Bahnhof Brig verlasse, mich auf den Radweg verirre, der auf der rechten Rhôneseite in Naters verläuft. Aber ab da ganz gut beschildert. Zunächst mit Gegenwind –nein, Sturm sogar – bergab, bis ein Gewitter die Luft etwas klärt, dass der Sturm aufhört, sich in Rückenwind – gar Sturm – wandelt. Das Gewitter sitze ich unter dem Betondach eies Sportlerheims aus, wie auch zwei Rennradler, die sich im besten Walliserdütsch unterhalten und ich mich als ‚Tschugger‘-Fan (‚Tschugger‘ ist eine Krimiserie, die im Wallis spielt) zu erkenne gebe.

Campingplatztipps. Radlergeschichten. Dass der Simplonpass derzeit nicht fahrbar sei per Radel wegen einer Baustelle ganz oben bei den Galerien. Zu gefährlich. Ein Spießrutenlauf.
Alles richtig gemacht, Herr Irgendlink.

So folge ich nun der Rhôneroute Nummer 1 meist auf geteerten Dammwegen. Die Schweiz hat nicht nur ein nationales Radwegenetz, sondern auch ein Skatenetz. Und das ist auf der 1 oft deckungsgleich mit dem Radweg, was bedeutet, dass fast alles geteert ist. Doch auch die Pisten mit feinem festgefahrenem Split fahren sich ganz gut.

So wundere ich mich abends, dass ich schon fast in Martigny bin. Hätte mit zwei, drei Tagen Fahrt gerechnet bis zum Genfersee, doch nun sind es noch etwa 20 km bis Martigny und vielleicht 50 bis zum See.

Rohtext, enttippfehlert von der Homebase

4 Antworten auf „Von Agno durchs Centovalli, durch den Simplon ins Wallis #UmsLand“

  1. Das Brot sieht echt lecker aus, lieber Juergen! So etwas fehlt mir hier. Das amerikanische Brot ist mir viel zu labberig. Gelegentlich bestelle ich mir online bei einer „Baeckerei“ in Florida ein vorgebackenes Mehrkornbrot. Das ist wirklich prima. Die beziehen, soweit ich weiss, den Teig aus Deutschland. Von denen bekomme ich auch meine Brotechen – weisse und mehrkorn.
    Liebe Gruesse, und safe bicycling,
    Pit

  2. P.S.: Lieber Juergen, liebe SoSo, ich wuerde ja gerne zu SoSos Blogeintraegen kommentieren, klappt aber nicht. Dazu muss ich mich anmelden, und da komme ich nicht rein.

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