Gewohnheiten #UmsLand

Nachts wach, weil etwas im Unterholz raschelt. Etwas Großes, aber es grunzt nicht. Das ist gut. Dann ist es kein Wildschwein. Mit Füchsen, bilde ich mir ein, werde ich fertig. Aber Wildschweine? Die sind der Endgegner, wenn sie aufgeregt, in die Enge getrieben, ihre Jungen bedroht sehen. Ich liege gut auf weichem Waldboden unter uralten Kastanien. Ein Wunder, dass ich den Platz am gestrigen Abend noch fand. Ich war drauf und dran mich bis Agno durchzukämpfen, was nicht so einfach ist im Tessin. Lugano verlassen ist an sich nicht einfach als Ortskundiger. Nun, da ich dies schreibe, kann ich nur empfehlen, die Straße nach Agno einzuschlagen oder die Seestraße weiter zu radeln. Ich habe alle Fehler gemacht, die man beim Verlassen von Lugano begehen kann. Ich folgte einer Radroute mit einem abgebildeten Berg und einem Stern, so vermute ich, die in einen Ort namens Paradies führen sollte. Tut das nicht, bzw. nur, wenn ihr in einen Ort namens Paradies fahren wollt.

Die Route war schön, mäßig beschildert, steil, steil steil. Am Ende verließ ich die ausgeschilderte Strecke, weil mir ein paar offene Flächen in der Nähe des Ortes Montagnola lukrativ erschienen. Ich stellte mir gemähte Wiesen vor, freundliche Bäuerinnen und Bauern bei der Arbeit, die man fragen könnte, ob man das Zelt aufstellen darf. Null Problemo also. Doch zunächst Schiebstrecke. Ich schätze, ich hatte am gestrigen Tag meinen ersten 30-Prozenter gefunden und zwar nicht zu kurz, mehrere hundert Meter windet sich die Straße hinauf nach Montagnola. Durch dichten Wald. Die Zeltplatzwiese und der freundliche Landwirt wollen bitter erschoben werden. Ruhige Sträßchen, auf denen hin und wieder solche Karossen daher kommen – mit stark betontem »solche«. Oben angekommen finde ich die Zeltwiesen, die ich mir erträumt hatte, von schicken Villen bebaut, und begrüßen mich Privatbesitzschilder und Überwachungskameras. Also doch weiter rollen nach Agno zum Campingplatz. Eine Hundegassigängerin grüßt freundlich. Sie trägt ein papageienbuntes Outfit wie nicht von dieser Welt, über die Maßen parfümiert und geschminkt. Eine wirklich sehr sehr feine Dame, der man ansieht, dass sie es sich leisten kann, in einer der Villen zu leben. Hund von Rasse, pudelklein und frisch frisiert. Schätzungsweise, wenn man alle Dinge, die unsere beiden Körper umgeben, der Hund als Ding mitgemeint, wenn man also alles, was nicht menschlich ist an uns beiden wegnehmen und nackt dastehen lassen würde, erhielte man als Erlös der materiellen Aura der Dame ein vielleicht Hundert- oder gar Tausendfaches des Erlöses meiner materiellen Aura.

Die Dame ist freundlich, aber ich merke schon, dass sie eigentlich eher mit einem Bediensteten spricht als mit mir. Nein, nein, nicht diesen Weg einschlagen, sondern den da, runter zur Chiesa, zur Kirche und dann die sinistre, die linke Straße nehmen, da gehts nach Agno.

So irre ich durchs Labyrinth der Reichen. Kein Flecken, an dem man nicht beobachtet ist, kein Plätzchen, kein Bänkchen, kein Park, in dem ich mich trauen würde, die Hängematte mal eine Nacht lang aufzuspannen.

Solche unwildzeltbare Flecken begegnen mir hin und wieder. Nicht oft, immer öfter? Abgeschottet und nicht willkommen.

Die gestrige Radroute war durchwachsen. In Colico am nördlichen Ende des Comersees war erst einmal Schluss mit Eitelradweglein und ich radelte auf der mäßig befahrenen Uferstraße bis Riva, wo die Fähre nach Menaggio ablegt. Eigentlich kein Problem. Bloß die recht dichten Überholvorgänge selbst bei guter Sicht und freier Gegenfahrbahn. Ich kam zu dem Schluss, dass der Verkehr in Italien anders tickt als in Deutschland und dass man mit theoretisch 1,5 Metern Sicherheitsabstand in Deutschland doch recht verwöhnt ist. Ich weiß nicht, ob es diese 1,5 Meter in Italien oder der Schweiz als Vorgabe überhaupt gibt. Wohl eher nicht. Wohl eher lautet die Regel, überhole so, dass du niemanden gefährdest. Zwischen zwanzig Zentimetern und mit Mühe und Not mal 1,5 Metern ist eigentlich alles drin.

Was bist du für ein verwöhntes Nordradelbübchen, denke ich. Viele Radlerinnen und Radler unterwegs und alle scheinen mit einer gewissen Demut die knappen Überholvorgänge zu dulden. Weil sie sich daran gewöhnt haben?

Die Rennradler haben immerhin noch Warnbliklichter direkt unter dem Sattel, was mitunter lustig aussieht, weil es grell rot direkt aus dem Po zu blinken scheint. Radeln im Polichtmillieu, dichte ich einen Tweet, der niemals abgesendet wurde.

Nachdem ich das Dorf Montagnolo hinter mir gelassen habe, strebe ich Richtung Agno. Dort gibt es Campingplätze, was ja auch kein Fehler ist. Mich mal eine Nacht lang wo einmieten, Duschen, statt Brunnenwäsche oder Flussbaden. Müde bin ich, achtzig Kilometer in den Beinen, schon freue ich mich auf einen Campingplatz, schon finde ich ein verlassenes Grundstück in einer Kurve, schon will ich weiter radeln, schon leses ich das Schild, das an einer Kette hängt, die die Zufahrt versperrt, Müll abladen verboten, okay, das klingt wie nicht privat, nicht Zelten verboten, schon wuchte ich das radel über die Kette und werde im hinteren Teil des urigen Geländes fündig, eim wunderbarer Platz auf blättrigem weichem Boden unter Kastanienbäumen. Topfeben, fast wie Camping. Entgegen meiner Gewohnheit mitten im Wald.

Gewohnheiten ist der Arbeitstitel dieser Zeilen. Es gaukelte mir schon lange ein Artikel zu dem Thema im Kopf, nun bin ich doch ins Reiseplaudern gekommen, habe das Thema nur knapp mal angeschnitten. Man muss es ja nicht erzwingen, denke ich.

Heute, Sonntag, dürfte der zehnte Radelreisetag sein – vier Tage Elsass bis in die Schweiz und nun der sechste Umrundungstag.

Nachdem ich das Kastanienzeltlager verlassen hatte, war ich nach wenigen hundert Metern auf der Straße nach Agno, neben der – tadaaa! – ein schöner breiter Radweg führt. Ich weiß nicht, ob er bis Lugano durchgebaut ist, will es auch nicht erkunden, freute mich des Morgens. Ein bisschen Sonne gabs auch, doch nun trübt es sich ein. Soll wohl gewittern am heutigen Tag.

Ich befinde mich seit Agno auf der Radroute 3, der Via Romea Francigena. Ich glaube, sie führt nach Bellinzona. Falls es von dort weiter ins Wallis geht, werde ich sie womöglich weiter verfolgen. Falls nicht, fahre ich vielleicht durchs Centovalli und nehme in Domodossola den Zug nach Brig.

Rohtext, enttippfehlert von der Homebase

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