Im großen Rund des Bundeslandes #UmsLand

Zaghaft schiebt das kleine weiße Händchensymbol die Karte entlang der gestrichelten Linie. Hangelt sich – über als unbewaldetes Land Gekennzeichnetes – entlang hellen Grüns hinüber zu einem Mischwäldchen, folgt dem offenbaren Radweg bis zu einem Dorf namens Langenbach bei Kirburg. Zoomfaktor was-weiß-denn-ich, ziemlich hoch jedenfalls; fast ist es wie echtes Radreisen. Ich erinnere mich an die Gegend. Eine kahle Hochgegend, durchdrungen von abundzuen Wäldchen. Viel Funkmast, Windrad und eine Ansammlung von Industrie, in der ich mich verirre, weil das Radwegeschild fehlt oder ein Laster oder ein Bus just in dem Moment davor steht als ich das fünfzig Kilo schwere Reiserad über die Kreuzung kurbele. Jedenfalls verirrte ich mich und kurbelte einen halben Kilometer in eine Richtung, ehe ich den Fehler bemerkte, umkehrte, in die Gegenrichtung zurück kurbelte. Deutlich ist der Schlenker auf der Karte zu sehen. Manchmal denke ich, Verirrungen sind nur Marker im eigenen Kopf, damit man sich besser an Situationen erinnert.

In der Tat sind Verirrungen auf Fernradwegen unvermutet oft auf das temporäre Verdecktsein der Hinweisschilder durch Reisebusse oder LKW zurückzuführen. Einmal verpasste ich die Abzweigung der Schweizer Radroute 53 am Bözberg im Aargau, weil ein Baustellenfahrzeug vor dem Hinweisschild stand. Arglos kurbelte ich bergauf, bis die Strecke so steil war, dass ich absteigen und schieben musste. Erst an der nächsten Kreuzung, an der partout kein Hinweisschild zu finden war, dämmerte mir, dass ich die Abzweigung verpasst hatte.

Kartenausschnitt mit darüber liegendem Popup eines Bilds, das ein Verbotsschild hinter engmaschigem Drahtzaun zeigt.
Kartenausschnitt Rheinland-Pfalz-Radroute

Das Händchensymbol, das der Mauszeiger annimmt, wenn man die Landkarte anpackt und verschiebt, um gedanklich vorwärts zu kommen, ist mir dieser Tage ein treuer Begleiter geworden. Langsam kommt ein grüner Bömpel, also ein Bildmarkierungspunkt ins Bild. Ich klicke. Ein Bild poppt auf, das ein Verbotsschild zeigt, das sich hinter einem engmaschigen Gitterzaun verbirgt. Durchgang Verboten ist da zu lesen. Ha! Das passt. Es gibt keine Wege mehr in dieser Welt. Es gibt nur noch PCs und Virtuelles. Tausend Tasten und Monitore und Mäuse und dahinter Tausend Bytes.

Oder ein paar mehr. Der Künstlerberuf liegt ganz schön auf Eis, diagnostiziere ich. Die Rheinland-Pfalz-Umrundung unter dem Hashtag #UmsLand im letzten Sommer war das Letzte, was ich beruflich gemacht habe. Seither herrscht Stillstand. Scharren mit den Hufen auf der Stelle. Ein ewiges Wetzen unruhigen Stillstehens, so dass man sich vorkommt wie ein grübelnder Dagobert Duck, kreislaufend, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Der Beruf. Ach. Es ist kompliziert. In der Not gab es tatsächlich noch einige  Projekte in den letzten Monaten, mit denen ich Körper und Gemüt beschäftigen konnte. Fernab des ‚Kerngeschäfts‘: reisen und darüber berichten. Zwei sind noch in der Mache. Der Passfälscher ist an einem Punkt angelangt, an dem es virtuell nicht mehr weiter geht, an dem klar ist, dass ich nun hinaus muss in die Welt und das Blogprojekt live zu Ende bringen muss. Es geht nicht ohne echte Welt, stelle ich fest.

Das andere, gerade laufende Projekt ist ein ‚bauesoterischer‘ Roman, der sich zu meinem Erstaunen ganz anders entwickelt als gedacht. Zu Beginn des Literaturprojekts liebäugelte ich damit, eine Art Nichtkrimi im Stil von Flann O’Brians ‚Der dritte Polizist‘ zu schreiben. Stellte während des Schreibens fest, dass die Sache womöglich in einen banalen Regionalkrimi abdriften könnte, was mir gar nicht gefiel. Nicht noch so ein Zeugs, davon gibt es genug. Später nahm die Sache Züge an, die mich an Burroughs‘ Naked Lunch denken ließen. Kurzum, ich habe mich mit dem Buchprojekt hoffnungslos verirrt und es wird wohl nie den Blogstatus verlassen. Mir fehlt die ‚Stimme‘. Bzw. sie ist da, das spüre ich, das Schreiben geht mir virtuos von der Hand, so muss sich Musizieren anfühlen: es tun, es vergehen lassen, während des Tuns genießen, nicht darüber nachdenken. Schreiben ohne Absicht auf Basis einer Struktur, die schon von Anbeginn in einem steckt. Ich könnte mir vorstellen, dass Circulum Verticalis, so das Label meines bauesoterischen Romans, einmal ein gutes Buch wird, aber vielleicht bin nicht ich derjenige, der es zu Ende bringt.

Eigentlich war geplant, das Projekt Mitte April, also heute, vom Tisch zu haben. Ich hinke hoffnungslos hinterher, habe wohl etwa ein Viertel der Geschichte in Rohform gebracht. Allesamt privat gestellte Blogartikel. Ein echtes Buch daraus zu machen, ist das Ziel. Es scheint mir unendlich weit weg.

Wenn ich nur langsam genug bin mit meinem kleinen Mauspatschehändchen und die Karte in Zeitlupe entlang der gestrichelten Linie ziehe, brauche ich im Rund des Bundeslands vielleicht so lange, dass ich, wenn ich diese Stelle wieder erreiche, in ein zwei Wochen, Monaten oder Jahren, vergessen habe, was sich hier befindet oder ich entdecke neue Details, die mir bisher entgangen sind? Welch hanebüchene Kunstbübchendenke! Ha! Tatsache ist, dass ich mich sehr genau an die in echt bereiste Strecke erinnere, weil ich die Strecke nämlich schon zweimal bereiste. Einmal so ‚rum, einmal anders ‚rum. Dazwischen liegen drei Jahre. Nach der ersten Reise mit dem Patschehändchen der eigenen Maus auf der Landkarte, erinnere ich mich, erinnerte ich mich nicht so gut an die Gegend wie sie in echt ist, aber nun, nach der Auffrischung liegt das große Rund des Bundeslands Rheinland-Pfalz klar und deutlich vor mir. Ich weiß, wo die Strecke steil ist, wo es über Waldwege holpert oder entlang stinkender Bundesstraßen und wo die ‚Zonas de Descanza‘ (Link zu Radlantix/ZwAnd2020 einfügen) in Form von Bahntrassenradwegen verlaufen.

Ist fast wie Impfen. Auffrischung.

Verflixt, jetzt isses doch ins Blog gelangt, das längste aller kollektiven medialen Dauerthemen. Der Kalte Krieg war ein Klacks gegen diese Pandemie. Nie fühlte sich das Leben endzeitlicher an, für mich persönlich. Die gefühlsmäßigen Parallelen zum Kalten Krieg vor fast vierzig Jahren sind ähnlich. Die Psyche, so spüre ich, tickt ähnlich. Problematischer Weise ist der Körper schon so angeschlagen, dass er das Ganze nicht mehr so einfach wegsteckt wie damals. Aber ja, die unterschwellige Dauerpanik, die Perspektivlosigkeit, ich erhalte gerade eine Art Auffrischung von Endzeit, vielleicht. Was hat dieser Gedanke nun in diesem Blogartikel zu suchen? Eigentlich wollte ich das Thema Pandemie ja ausklammern und mit mir selbst ausmachen, aber nun … ja, Endzeit, das ist der Anker und was es für uns Künstlerinnen und Künstler bedeutet und natürlich für alle anderen Menschen auch: Das Gespür für zu knappe Zeit. Für dahin rinnendes Leben. Das nahende eigene Ende ist sicher nicht das Ende der Welt, sonst wäre längst alles geendet weil seit jeher Menschen apokalyptische Gedanken hegten und immer schreckliches passierte, wovon sich der Erdenlauf aber auch mit all seinen Wesen wieder erholte … das eigene kleine Ding retten und sich ins weite Feld jenseits der Struktur begeben.

Inhalt, Inhalt, Inhalt, um es einmal auf die Blog- und Selbstdokumentationsebene zu bringen. Die Zeit wird nicht reichen, die Dinge, die mir vorschweben, sei es nur ein bauesoterischer Roman, so zu fügen, dass sie eine mir gefällige Form annehmen. Ich muss jedem Versuch widerstehen, mich um eine Form zu kümmern, bevor ich nicht den Inhalt, der seit Jahrzehnten in meinem Hirn wächst, sichtbar gemacht habe.

Doch das nur als Randgedanke.

 

Landkarte mit viel Grün und einer rötlichen gestrichelten Linie, auf der ein Bildfenster aufpoppt, das einen großen neben einem kleinen Bagger zeigt.
Kartenausschnitt Rheinland-Pfalz-Radroute

Unheimlich langsam und konzentriert schiebt sich die kleine weiße Patschehand südwärts auf der Landkarte bis nach Nisterberg, klickt den grünen Marker und siehe, ein kleiner Bagger steht wie Piggeldi neben einem großen Bagger wie Frederick.

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