Rein in den Künstlerstollen. Spät bin ich wach am heutigen Morgen. Zweibrücken, 16. April 2020. Am gestrigen Tag legte sich die unheimliche Anspannung die sich in den vergangenen Tagen in Form von Rückenschmerzen bemerkbar gemacht hatte auf wundersame Weise. Man ist ja in dieser Zeit stets froh, wenn die Wehwehchen schnell und ohne Verschlimmerung von selbst wieder verschwinden. Nicht auszudenken, man müsste zum Arzt, zur Physiotherapie, wäre sonstwie auf mitmenschliche Hilfe angewiesen, die ohne Nähe nicht auskommt.
Ich habe es tatsächlich geschafft, eine ganze Woche nicht aus dem Haus zu gehen. Keine Menschen zu sehen. Aerolsofreie, klare Frühlingsluft, Vogelzwitschern und jede Menge Arbeit rund ums Haus. Der Garten ist unendlich trocken. Trotzdem wächst was wachsen will. Die Obstbäume blühen prächtig. Weiß über Grün unter meist blauem, klarem Himmel. Wie sage ich scherzend: Das einsame Gehöft ist das Paradies, im Sommer. Und im Winter ist es die Hölle! Die zugige Künstlerbude entspricht wahrlich nicht den Standards, die der moderne Mensch für Wohlfühlwohnen annimmt. Es gibt keine Zentralheizung. Die Fenster sind uralte Dinger vom Sperrmüll, die irgendwer aus der Verwandtschaft einmal in der Scheune lagerte unter dem Motto, könnte man ja nochmal brauchen. Ich musste nur die imrovisierten Dachlattenrahmen mit festgenagelten Düngermitteltüten, die im Rohbau der niemals ganz fertig gewordenen Stallung die Fenster ersetzten, rausnehmen und die alten, zugigen Fenster einbauen. Die beiden Dachfenster sind durchsichtige Polyesterplatten. Im Winter gibt es nur einen etwa 16 Quadratmeter großen, beheizbaren Raum. Bei Frost kommt das Wasser aus einer Tonne neben dem WC. Immerhin.
Zwischen Europennerzelt, das schon an jensten Orten kreuz und quer in Europa stand und der heimischen Künstlerbude ist nur ein geringes Komfortgefälle. Vielleicht fühle ich mich deshalb auf der Straße wie zu Hause. Ich habe die große Traversée (Zweibrücken-Andorra) durch Frankreich in den Jahren 2000 und 2010 einmal als mein riesiges, längliches Wohnzimmer bezeichnet.
Die Sache mit dem länglichen Ort, der das eigene Wohnzimmer ist, beschäftigt mich schon Jahrzehnte. Hier ein halb fiktiver Artikel aus dem Jahr 2006.
Ich unterbreche mein Schreiben, spaziere im Garten. Bin konfus. Dieser Artikel läuft mir ziemlich schräg. Ich zeige mich selbst in echt und in Farbe im Hier und jetzt der Pandemie, die mich in den heimischen Bürostuhl zwingt. Mich dies alles schreiben lässt, mich in eine Rechercheposition nötigt. Mich zum Karten- und Erinnerungsreisenden macht.
Der längliche Ort, den ich schon im Jahr 2000 skizzierte ist vielleicht einer der Schlüssel für mein Leben. Ich lebte nie ’stationär‘, wie man normalerweise lebt als Mensch. Verortet. Ab und zu ein Umzug, bedingt durch die Arbeit, die Liebe oder weil man flieht vor unbequemer Lebenssituation.
Der Künstler lebt und arbeitet in Berlin, London und Bad Schießmichtot. Es ist zum Gähnen, dass in den klassischen Künstlervitae fast immer ein Berlin, London, Mailand oder New York, gepaart mit einem bedeutungslosen Ort im Niemandsland dieser großen Welt vorkommt. Als ob man die Vita dadurch aufwerten würde, dass man mal in London in der Jugendherberge ein Aquarell in sein Skizzenbuch gekritzelt hat und dadurch dort lebte. Naja, der längliche Ort ist auch nichts anderes. Die meiste Zeit verbringe ich wie jeder Mensch zu Hause. Kleine Nonamestadt neben dem Saarland, zugige Bude, Garten … während ich vorhin den Text unterbrach, habe ich die jungen Pflanzen gegossen, ein bisschen Schnittlauch und Petersilie geerntet für einen Kräuterquark, den es gleich zum Frühstück gibt. Nun wieder an den Tasten. Ich weiß nicht, ob dieser schräge Ausflug in den stinknormalen Alltag etwas in diesen Blogtexten zu suchen hat. Immerhin radeln wir doch zusammen durch Spanien!
Vielleicht muss ich mir auch ab und zu die Blöße geben als Autor? Die Ratlosigkeit wie es weitergehen könnte, obwohl doch der Weg vorgezeichnet ist?
In der Karte zeichnet sich der Kurs nordwärts deutlich ab. Auf halbem Weg zwischen Zaragossa und Pamplona ist die Marke des letztnächtlichen Lagerplatzes, Reisetag 30, eingezeichnet. Beim Eingang zu einem Tunnel eines Kanals, dem ich den ganzen gestrigen Tag folgte.
Seit Jahrzehnten des Reisens sinniere ich manchmal, wann ich wohl die trostloseste Tagesetappe absolvieren werde, bzw. absolviert habe und ob es Trostlosigkeitssteigerungen bis ins Unendliche geben kann. Im Jahr 2010 gab es auf dem Jakobsweg eine Etappe, die der maximalen Trostlosigkeit ziemlich nahe kam. Siebzehn Kilometer schnurgerade bei dichtem Nebel mit Sichtweite um 50 Meter. Eiskalt. In der Mitte der Strecke ein einsamer Baum. Trostlos war auch die Champagne (der nördliche Cerealienteil der Champagne) des Jahres 1996, den wir weitestgehend bekifft und umso intensiver tristessierend durchradelten. Und die Gegenwindpassage im Süden Islands auf einen einsamen Berg hinzu, der nicht und nicht näher rücken wollte … am gestrigen Tag zeichnet sich zwischen Eijea de los Cablleros und Sádaba ein knapp zwanzig Kilometer langes schnurgerades Stück Landstraße ab. Die A-127 führt durch absolut flaches Landwirtsland nordwestwärts. Ein Gemütskiller par Excellence. Die gestrenge Flache der Frau Natur, die gestrenge Hand der Frau Mama. Muss ich da durch? Zwanzig Kilometer, bei Ostwind, gut machbar für den Körper, aber der hungrige Geist, der sich nach züngelnden Kürvlein sehnt? Nördlich zeichnet sich eine Hügelkette ab. Die Karte hält ab Eijea eine schmale, etwas kurvigere Nebenstraße bereit. Die probiere ich aus. Wenn es mir zu anstrengend wird, ich nehme den Wind quer, statt auf der A-127 von hinten rechts, kann ich immer noch angekrochen kommen und mich über einen Feldweg zurücktreiben lassen zur Hauptstraße. Es ist im Grunde wie Segeln, ein kluges Spiel mit dem Wind, das ich hier treibe. Also nordwärts über die kaum vier Meter breite A-1204. Ich peile den Stausee von San Bartolomé an, der sich als eine Art Rückhaltebehälter in flachem Land entpuppt. Gute Wahl. Ein bisschen Kurventrost und kaum befahrene, geteerte Landstraße.
Eine geradezu perfekte Wahl, um die Gegend zu verstehen, um zu erkennen, wie es funktioniert. Es handelt sich nämlich bei dem Stausee um ein Wasserreservoir, von dem aus sich diverse Bedarfskanäle durch das weite Areal aus Feldern zieht. Kanäle, die geflutet werden können. Vermutlich steckt dahinter ein ausgeklügeltes System der Wasserverwaltung. Jeden dieser Kanäle – sie heißen Acequia – begleitet ein zwar nicht geteerter, aber durchaus gut radelbarer Weg. Es ist wie ich es vor Tagen einmal geschrieben habe, wie durch eine ewig lange, geschotterte, nordschwedische Baustelle radeln. Staubige Angelegenheit hin und wieder.
Eine Acequia (spanisch: [aˈθekja]) oder Séquia (valencianisch: [ˈsɛkia]) ist ein von der Gemeinde betriebener Wasserlauf, der in Spanien und ehemaligen spanischen Kolonien in Amerika zur Bewässerung verwendet wird. Insbesondere in Spanien, den Anden, Nordmexiko und dem heutigen amerikanischen Südwesten sind Acequias normalerweise historisch angelegte Kanäle, die Schneeabflüsse oder Flusswasser zu entfernten Feldern befördern. Es kann sich auch auf den langen zentralen Pool in einem maurischen Garten beziehen, wie dem Generalife in der Alhambra in Süd-Iberien. (Übersetzung aus einem englischsprachigen Wiki)
Der Begleitweg des Acequia de San Bartolomé fährt sich gut. Der Kanalist an diesem Tag leer. Kein Wasserbedarf für die umliegenden Felder? Beim Abzweig am Canal de Bárdenas biege ich links ab, habe wieder Teer unter den Reifen. Der Kanal, Mutter der Acequias, der aus den Pyrenäen im Yesa-Stausee hierher führt, speist auch das Reservoir von San Bartolomé. Ich habe es mit einem ausgeklügelten Bewässerungsnetzwerk zu tun, fahrbare, ruhige Radlerstrecken inklusive. Das lehrt mich einmal mehr, dass es nicht immer der gerade, schnelle Weg sein muss, der einen auf Reisen voranbringt. Die arme, durstige, nach Input sehnende Künstlerseele lebt nicht vom Vorankommen alleine, ja, und vielleicht sind es auch gerade die Katarakte, die das Leben einem mirnichts dirnichts bereit stellt, die einen nähren. Es ist jedenfalls eine geradezue Lust, an dem grünlich bis türkis schimmernden Gewässer entlang zu radeln. Meist ruhig dahintreibend, muckt das künstliche Flüsschen ordentlich auf, wenn es in kataraktischer Manier in eine der geöffneten Acequias geleitet wird. Der Ostwind tut sein Übriges.
Mann, Mann, Mann, wie einfach kann das Leben sein, im Krummen die Direkte zu finden. Höchst entzückt von meiner Wahl und dem frisch entdeckten Weg folge ich dem Kanal bis Sádaba. Welch Kleinod! Das Dörfchen mit kaum 1500 Einwohnern breitet sich zu Füßen einer wuchtigen, fast quadratischen, sehr gut erhaltenen Burg aus. Sieben Türme, im Stile der Ritterorden gebaut, wurde sie nach der Rückeroberung von den Mauren errichtet.
Am gestrigen Tag finde ich im Kargen das Besondere. Ich glaube, es handelt sich um das Serendipitätsprinzip. Vielleicht ein Grundpfeiler dieser Reise? Finden ohne Suchen.
Hatte ich morgens nicht viel – ach was, eigentlich gar nichts – erwartet außer Staub und geradeaus, lege ich mich abends mit einem reich gefüllten Korb an Bildern ins Europenner-Zelt. Das habe ich übrigens ganz stilvoll direkt neben dem Canal de Bárdenas aufgestellt. Vorm Schlund des Tunnels namens La Loma unweit des Örtchens San Isidro del Pinar.
Die beiden Zweibrücken-Andorras? 2000 Tag 30. Die postreiserische Depression, sich wieder in den heimischen Alltag zurück finden, ergreift mich.
2010 haben Frau SoSo und ich die Pyrenäen überquert (per Auto, natürlich) und uns in Argeles-sur-Mer auf dem Campingplatz einquartiert. Sie berichtet hier im Rückspiegel. Bemerkenswert an diesem Tag, ab Cadaques nordwärts tourend, war das Denkmal für Walter Benjamin in Portbou.
Und hier auf dem Bürostuhl? Schreiben, Gärtnern, Hühnern, Schnittlauchquarken.
Ach, Portbou. Danke fürs Erinnern, ja, da sind auf einmal wieder Bilder in mir. Der Park mit dem Kritzelbaum und der Kritzelbank. Die Treppe ins Nichts.
Danke auch fürs Mitnehmen durch die unbekannten Ebenen, die du da beschreibst. So Acequiae (wie nennt man das wohl im Plural?) kenne ich aus den Alpujarras … Schön, dass du das erwähnst und ausführst. Überhaupt, deine Reise tut gerade einfach richtig gut.
Was wären wir ohne Phantasie, ohne Imaginationsvermögen, ohne Bilder im Kopf?
Womöglich sind die wahren Abenteuer im Kopf 😊:
https://m.youtube.com/watch?v=rGUHGeUJ02g
Hach, das ist ein schönes Lied. Dankeee.
Da musst Du mir mit Kritzelbaum und Kritzelbank auf die Sprünge helfen. Meinstest Du den Park Güel? Die Treppe ins Meer war jedenfalls das Walter Benjamin Denkmal.
Die trostloseste Tagesetappe? Die liegt immer in der Zukunft, eine Steigerung ist jederzeit möglich. Mit Schaudern erinnere ich mich auf unseren Marokko-Wüstenritt auf der Schotter-Sandpiste von Zagora nach Foum Zgid bei irrem Gegenwind und gefühlt 45°. Kein Baum weit und breit, nur Steine und Sand. Schlimmer kann es nimmermehr werden, dachte ich damals. Nur um wenige Jahre später auf der Seidenstrasse zu lernen, dass jede Region und jedes Land dem Fernradler seinen Vorrat an Tristesse bietet. Entrinnen kann der geübte Radler nur, indem er eine solche Begebenheit als Meditationsübung wahrnimmt.
Was für ein Wort, Christian! Du hast alles gesagt dazu. Das Zauberwort ist Meditationsübung. So tickt Fernradeln. Danke so sehr. Fast komme ich mir jetzt ein bisschen klein vor mit der lumpigen, zudem virtuellen, Tristesse (aber es gab ja auch genug echte Tristesse und wird es sicher – beinahe hätte ich gesagt, hoffentlich :-) – wieder geben).
Ich nehme die Ratlosigkeit auf einem vorgezeichneten Weg mit, und gehe damit auf Reisen.