Die Faszien der Sozialisation | #zwand20

Die Tage verlieren sich. Die Zeit verliert sich. Jedes Maß verliert sich. Es findet ein Reset statt, der alles, was per Sozialisation mühsam errichtet wurde und dich als Mensch ausmacht, auslöscht. Geht das nur mir so? Oder spüren andere auch, wie in diesen Tagen die Fundamente, auf denen das eigene Leben zu fußen scheint, wackeln, stürzen, zu Staub zerfallen?
Ich rede mit mir selbst, wie ich es auch auf längeren Reisen manchmal tue. Meist ganz banale Dinge wie: Wir gehen jetzt mal ein Sträußchen Petersilie pflücken im Garten und schneiden noch ein bisschen Minze. Ach, und wenn wir schon raus gehen, bringen wir Kartoffeln mit aus der Vorratskammer. Minzesoße wäre doch ein gutes Abendessen heute. Minzesoße und Kartoffeln. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, dass du anfängst mit dir selbst zu reden. Man müsste das mal wissenschaftlich untersuchen.

Dabei bin ich nicht so alleine wie sonst auf Reisen. Natürlich begegnet man auch während Pandemien Menschen. Hausmitbewohnern, Nachbarn. Man telefoniert, Emailt … es sind die Abläufe, die wegbrechen. Die feinen Konstrukte, die das Miteinander ausmachen, die man im normalen Betrieb gar nicht wahrnimmt. Die Faszien der Sozialisation. Ein unterschwelliges Gespinst aus Fetten, das scheinbar keine tragende Funktion hat, wie etwa Muskeln und Knochen, aber als bindende Schicht zwischen diesen liegt. Reibungsloses Miteinander. Ein Traum.

Camping Varilhes. Ich bin einer von sehr wenigen Gästen. Jenseits des Zauns brummt die Hauptstraße. Zehn Uhr früh. Die Sonne kommt raus. Direkt hinter dem Waschhaus fließt die Ariège., ruhig und schnell, etwa 30 Meter breit, ein typischer, gebändigter Gebirgsfluss wie etwa die Aare in Bern. Der Platzwart hat acht Jahre lang im ‚Forêt  Noir‘, gelebt. Forêt Noir, na,schnippst er mit den Fingern, wie heißt das auf Deutsch? Schwarzwald sage ich. Ouiii, Bàden-Bàden. Du musst total verrückt sein, zeigt er mit dem Finger auf mich, bei dem Gewitter zu radeln. Ich konnte mich in einer Waschanlage unterstellen, beruhige ich ihn.
Nie war ich froher, eine Autowaschanlage zu finden als am gestrigen Tag. Just als die ersten Tropfen das massive Unwetter einläuteten, konnte tauchte der Wellblechschuppen auf. Ich filmte das Unwetter. Regen in Bindfäden. Hagel, Blitz und Donner. In Thunder, Lightning or in Rain, shakespeart es in meinem Kopf.

Der gestrige zwanzigste Reisetag im Jahr 2010 beginnt mit zum Greifen nahen Pyrenäen im frühlingsgewittrigen Kleinstädtchen Varilhes. 180 Kilometer nordöstlich erwache ich am 20. Reisetag des Jahres 2000 in einem ockerbraunen Weinberg in der Nähe von Fortignan, am Rand der Bassins, die das Marschland vom Mittelmeer trennen. Vermutlich auf dem Gebiet der Gemeinde Vic la Garidole. Mit großen Tagesetappen befinde ich mich auf dem Rückweg, fotografiere weiterhin und notiere knapp die Standorte und Übernachtungsplätze in mein Journal. Die Kunst endet erst, wenn du wieder daheim bist. Fast bin ich ein bisschen dankbar, dass ich diese Minimaldisziplin im Jahr 2000 wahren konnte. Ich habe die Etappenorte aus dieser Reise in meiner Projektkarte als schwarze Marker eingezeichnet. Wie ich auch die Etappenorte der Rückreise 2010 ermitteln konnte und sie als ‚Crimson‘ (Purpur) farbene Punkte in die Karte setzte. Auch 2010 dokumentierte ich die Rückreise, per Auto nach Bern, in knappen Notizen.
Aber noch ist es nicht so weit. Ich notierte eine Beobachtungsszene ins Tagebuch.

Gestern kurzes Gespräch mit dem Bürgermeister von La Louvière. Von Norden kommend ist die Gemeinde der höchste Punkt, bevor  man das Arriègetal erreicht. Man blickt über eine flache, ländliche Ebene, die von dem Gebirge im Süden gerahmt wird (im Tagebuch steht nicht, worüber wir uns unterhielten, der Bürgermeister und ich; vermutlich aber nicht über das Folgende). Hundeverschissene Telefonzelle vor dem Campingplatz. Hundeverschissener Dorfplatz. Überall liegt Hundescheiße. Und riecht. Ein dickes Frauchen mit Spitz und ein mageres Frauchen mit großem Hund. Ein kräftiger Mann steht nackt am Fenster, jene typischen französischen Landhausfenster mit tiefer Brüstung. Er beobachtet.

Es ist der der 9. Mai 2010. Drei Hexen spuken, ach in meinem Hirn.
Und weiter im Tagebuch:

Hinweisschild Pech 0.5 D 120. Pfeil nach rechts.
Hinweisschild Pech 0.5

Ich beobachte. Wir beobachten. Wir beobachten die Frauen mit den Hunden. Wir beobachten einen androgynen Jungen wie er seinen uralten Lieferwagen repariert. Zwei Mal überquert der Junge den Platz. Wozu? Wir beobachten einander. Keine Ahnung, wer der Superbeobachter ist. Nicht der Nackte, noch ich. Der Superbeobachter ist der, der alles im Blick hat. Den Platz, die Leute, die Hunde, die Scheiße.

War an diesem Tag in dem kleinen Dorf etwa noch jemand? Jemand, der das alles aus seiner Perspektive notierte? Ein extrapolierter, alles überschauender Lind Kernig-Typ, der im Jahr 2410 an einem neunten Mai seiner Archivarbeit nachgeht und sich in belanglosen Geschichten verliert, die sich in einer längst vergangenen Zeit ereigneten.

2020. Nachts im Halbschlaf fabulierte ich an der Figur des Lind Kernig. Langsam wird es ernst, denn, wie schon erwähnt, möchte ich diesen Reisebericht ins Fiktive überführen, wenn ich meinen Erinnerungswanst, den ich mir vor zehn und zwanzig Jahren angefressen hatte, weggehungert habe. Ich habe ein bisschen Sorge, dass das nicht klappt, denn ich müsste, um täglich die ‚Reise‘ weiterzuschreiben, vollends in die Fiktion gehen und das, ohne ein Grundgerüst zu haben. So phantasierte ich im Bett hin und her rollend von einer postapokalyptischen Mondstation namens ‚Zwölfkuppeln‘ (Zweibrücken lässt grüßen), in der sich der Herr Lind Kernig langweilt und in den wenigen erhaltenen Dokumenten einer längst vergangenen Erde stöbert auf der Suche nach unterhaltenden Geschichten. Es manifestierte sich ein Bild einer gr0ßen, durchgetakteten Mondstation, in der sich zwar überleben ließe, aber nicht wirklich leben. Seelennahrung und Geschichten sind Mangelware. Bewegungsfreiheit auf diesem engen, künstlich geschaffenen Raum ist sehr eingeschränkt. Der Kontakt zur Erde und auch der Transport sind seit Jahrhunderten unterbunden. Niemand weiß, welche Bedingungen auf dem einst blauen Planeten herrschen. Im Prinzip eigentlich eine Fortsetzung der Maßnahmen der Pandemieeindämmung, die gerade im Jahr 2020 stattfindet als fiktive Geschichte, die auf dem Mond siedelt.

Gegen morgen schlief ich endlich wieder ein und erwachte kurz nach acht. Agil aus dem Bett. Die Sonne scheint im hier und jetzt. Solch ein Wetterchen gab es meines Wissens Ende März, Anfang April nie.
Ich stieg in die Gummistiefel, fütterte die Hühner. Luftmassen aus Süden ließen die Stadt wummern wie eh und je. Wen Südwind herrscht, drückt es den Stadtlärm wie Brei hinauf zum einsamen Gehöft. Ich war seit Tagen nicht mehr draußen. Noch nicht einmal auf der Landstraße oberhalb des einsamen Gehöfts. Was ich mit den Ohren erfasse deutet jedoch nicht darauf hin, dass die Leute es ernst nehmen damit, nur für das Nötigste aus dem Haus zu gehen. Alleine die vielen Motorräder, die am vergangenen Wochenende vorbei brausten … kann doch nicht sein, dass die Leute alle zum Arzt müssen oder dringend einkaufen oder in Wochenendschichten arbeiten?! Die aktuelle Situation ist wie immer für manche, und anders für viele. Die Manchen brechen den Vielen womöglich das Genick mit ihrem egoistischen Verhalten.

Doch zurück zu Lind Kernig. ‚Ein Zukunftsroman der feinen Künste‘ ist der Arbeitstitel des Buchs. Die Figur Lind Kernig wurde im Jahr 2012 von Bloggerfreund ‚Der Emil‚ erfunden. Ein Anagramm auf Irgendlink. Prächtiger Name, wie ich finde. Die Idee mit der Mondbasis und den perspektivischen Einflechtungen aus der Zukunft in dieses Blog, wuchs im Laufe der Zeit. Wie auch die Idee, eine Art künstlerischen Science Fiction zu schreiben. Problem: Ich habe so etwas noch nie gemacht, eine fiktive Geschichte geschrieben.
Im Grunde meines Herzens bin ich nur ein Beobachter, der den Alltag transkribiert. Deshalb liegt der Fall Kernig seit acht Jahren bei den Akten, im Archiv des ‚Kannst-du-bei-Gelegenheit-mal-Machens‘. Für irgendwann, wenn es keine echte Welt mehr gibt und der Alltag auf einen mathematischen Punkt zu schrumpfen droht. Auf der Festplatte suche ich dieser Tage alle Notizen zusammen, die sich über den Herrn Kernig finden lassen. Im Netz dürften weitere Ideen zu finden sein; in Kommentarsträngen fremder Blogs, sowie auf Twitter (der Herr Kernig hat sogar einen eigenen Twitteraccount).

Den halben Tag forschte ich nach den Bruchstücken meines Zukunftsromans der feinen Künste. Unmöglich, das alles auszugraben und zu sortieren. Ich sollte meine Energie darauf konzentrieren, einfach drauflos zu schreiben.

Es ist, so hoffe ich, wie mit dem Reisen in ‚echt‘ auch. Alles nur eine Abfolge von Begebenheiten, die man auf die Perlenschnur seines Blogges auffädelt.

Die Langsamkeit ist mein Freund. Möge die Geduld mit mir sein.

Der Marker des heutigen Blogeintrags sitzt in Varilhes. Ich gäbe viel darum, wenn die Reise hätte stattfinden können. Wenn ich, statt im Bürostuhl zu sitzen, jetzt das Radel satteln könnte, aufwärts, aufwärts, aufwärts in Richtung Porte d’Envalira.

Nachtrag: Der Emil schreibt in seinem heutigen Blogeintrag übrigens: ‚Zeit findet gerade jetzt nicht statt.‘

6 Antworten auf „Die Faszien der Sozialisation | #zwand20“

  1. „… es sind die Abläufe, die wegbrechen. Die feinen Konstrukte, die das Miteinander ausmachen, die man im normalen Betrieb gar nicht wahrnimmt.“

    Und obgleich es Menschen gibt, denen diese Konstrukte aus verschiedenen Gründen schon lange fehlen, merken auch diese jetzt verstärkt (oder gar erstmalig) das Fehlen dessen, was Miteinander ausmacht. Es ist eine Zeit, die ein deutliches Geschmäckle von Kataklysmus trägt. Und doch setze ich mich, so gut es eben geht, zur Wehr.

  2. Was unter anderem hängenblieb: Erinnerungswanst (der wohl längst verschwunden ist) und dieser herbe Name „Lind Kernig“ ,der für mich so etwas nach Dosenleberwurst klingt…Ja, bin ja schon still!
    Das mit den zahlreichen Motorrädern ist mir auch hier aufgefallen, übrigens.

    1. Jaja, mit den Namen im Internet hatte ich nie Glück. Ich war einfach zu spät und es blieben nur noch die weniger gut klingenden wie ‚Europenner‘ :-)

  3. Mich beeindruckt Deine Wortbildung von den „Faszien der Sozialisation“. Faszien – Faszination, sicher nicht derselbe Wortstamm, aber in einer assoziativen Lesart durchaus aufeinander zu beziehen: das „Bindegewebe“, das durch Bestrickung durch die anderen entsteht, die Begeisterung und bisweilen Bezauberung, die von anderen ausgeht, letztlich ihre anziehende Wirkung.

    Deine Formulierung hege ich ein – in meinen Sprachraum. Danke dafür.

    Liebe Grüße!
    Bleib bei Trost,
    Uwe

    1. Lieber Uwe, danke für Deinen Kommentar. Auf schmerzhafte Weise wurde ich vor einiger Zeit auf das Wort Faszien aufmerksam – wegen einer Überlastung des Arms suchend im Netz nach Infos, landete ich auf einer Physiotherapieseite, die über Faszien berichtete. Seither fasziniert mich dieses Wort. Mit einem schallenden Moin Moin und alles Gute (bleib bei Trost ist ja auch so ein Großgrußwort, finde ich).

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