Ich kenne die Frau doch, die sich da neben mich auf das Wartebänkchen beim Bahnhof Grafenau setzt. Und den Mann da drüben auf dem Parkplatz beim Rewe, den kenne ich auch. Mit dem Busfahrer, der gerade am Busbahnhof nebenan abfährt, habe ich mich vorhin im Café des Rewe unterhalten, als wäre er ein alter Freund. Fazit: ich bin von hier. Ich habe immer hier gelebt, war nie weg und diese ganze lange Radelreise rund um Bayern habe ich mir nur ersponnen.
Fast werde ich verrückt. Es ist wie einst in der US-Serie Dallas, als Bobby Ewing starb und nach vielen Folgen, in denen er scheinbar tot war, plötzlich unter der Dusche hochschreckte und feststellte, dass er das alles nur geträumt hat.
Morgens stand die Frau, die nun neben mir sitzt, beim Bahnhof Zwieselau, der eigentlich nur aus einer Holzhütte und einem Bahnsteig besteht. Das war beruhigend für mich, denn ich kenne das Prinzip des Bedarfsbahnhofs noch nicht so recht. Der Zug kommt immer zwei Minuten später, sagt sie und man muss aus dem Häuschen raustreten, sonst hält er nicht. So einfach. Und wenn man drinnen ist im Zug und aussteigen will, fordert einen eine Ansage auf, einen der im Wagen verteilten Halt-Knöpfe zu drücken.
Alles ist unklar an diesem Tag, außer, dass ich mir das Nationalparkzentrum mit seinem Baumwipfelpfad und dem Museum anschauen will. Bloß, wie komme ich dahin? Die Bahnlinie führt ja nicht bis zum Zentrum.
Im Zug weiß man Abhilfe: Mit dem Igelbus, jenen Linien, die auf die Berge Lusen und Rachel fahren und auf den wenigen erlaubten Straßen am Rand des Nationalparks Bayerischer Wald. Im Zug gibt es Begleitpersonal. Die Fahrkarte wird noch wie früher bei diesen Menschen gelöst. Sie lösen auch dein Problem, wenn du eins hast, geben Auskunft, scherzen manchmal, um die Leute bei Laune zu halten. Die Schaffnerin reicht mich an einen Fahrgast weiter: Der da, der kennt sich aus!, und so steige ich mit dem Mann in Spiegelau aus, er dreht mich in die Richtige Richtung, dort, bei der Bushaltestelle. Kommt gleich. Im Bus gehts genauso weiter. Der fährt nämlich gar nicht zum Nationalparkcenter. Es gibt keine direkte Verbindung dahin. Man muss umsteigen (falls Ihr jemals im Nationalpark seid und Bus fahrt, merkt Euch die Haltestelle Diensthütte. Sie scheint Dreh- und Angelpunkt zu sein. Das Dubai des Bayerischen Walds sozusagen).
Diensthütte umsteigen in den Lusenbus, der hinauf zum etwa 1300 Meter hohen Berg fährt, Wanderer hinbringt, abholt und wieder runter über Diensthütte dann zum Nationaparkzentrum.
Ein schön organisiertes Besucherzentrum mit Museum im Dr. Eisenmann-Haus, jenem Minister, der in den 1960er-Jahren diesen ersten deutschen Nationalpark maßgeblich initiiert hatte. Draußen ein Freigehege für Wild – man muss Glück haben, welches zu sehen. Die Gehege sind groß. Dann ist da noch ein Pflanzenpark und ein geologischer Rundweg und als Krönung der Baumwipfelpfad.
Der gehört einer Baumwipfelpfad-Kette, die auch in Österreich und Teschchien und in der Slowakei Baumwipfelpfade betreibt.
Für 9,50 komme ich rein und spaziere überm Wald bis zum Finale, einem Turm, der sich wie ein Ei um eine Baumgruppe legt. Alles ist barrierefrei. Man kann mit dem Rollstuhl oder Krücken bis ganz hinauf und hat einen prima Blick über den Nationalpark und bei gutem Wetter bis zu den Alpen. Am Holzgeländer sind pfeilförmige Plaketten angebracht, die zeigen, in welcher Richtung welche Stadt liegt, welcher Berg. Zwieselau ist etwa zwanzig Kilometer entfernt. Der Arber, höchster Berg der Gegend ist nicht sichtbar, aber die Richtung, in der er liegt, ist markiert. Er liegt nördlich hinter dem Rachel. München, Passau, Lusen und Rachel, viele kleine Orte der Gegend sind markiert. Finsterau und Mauth dürfen nicht fehlen. Bemerkenswert ist, das fiel mir schon am Baumwipfelpfad Saarschleife auf, es gibt Hinweise auf andere Baumwipfelpfade. Die Saarschleife ist nur 510 Kilometer weiter westlich.
Dies ist der Tag des Künstler-in-die-richtige-Richtung-Drehens. Zurück geht die Reise auf ähnliche Weise. Ich frage mich bei Mensch um Mensch von Ort zu Ort, lande schließlich in Grafenau, dem Endhaltepunkt der Linie drei der Waldbahn. Kein Wunder, dass mir alle so bekannt vorkommen. Ich habe den halben Bayerischen Wald befragt, um meinen Weg zu finden. Der Mann auf dem Rewe-Parkplatz ist derjenige, der mich in Spiegelau in die richtiger Richtung drehte. Der Busfahrer, mit dem ich über Porschetraktoren und Walter Rörl redete, hatte im Bus wegen des Fahrlärms recht laut geredet, ab und zu in den Rückspiegel blickend, Kontakt aufnehmend und hier im Café flüstern wir beinahe.
Die Waldbahn ist ein wunderbares Phänomen. Ich glaube nicht, dass wir schneller als fünfzig, sechzig Sachen auf der geschwungenen Trasse dahin fahren. Es geht familiär zu und unheimlich entspannt. Für den Moment denke ich, das ist es, was die Welt braucht: Entschleunigung, mehr Unsicherheit (so verrückt das klingt, im Sinne von weniger Durchtaktung), Ungewissheiten, Fragen, Langsamkeit, viel mehr Herz und Zwischenmenschlichkeit, anstatt abgehetzt und geschunden zwischen Maschinen und Automatismen hin und her zu hecheln.
Zurück auf dem Campingplatz erwartet mich eine Überraschung. Eine Gruppe mit drei Wohnwagen richtet gerade ihre Wagenburg ein. Ich weiß nicht, was mich so beklommen macht, aber ich glaube, es ist genau das, dieses Wagenburgbauen, dieses Grenzen errichten, dieses Hier-sind-wir-wer-seid-ihr-denn-Gebare. Drei riesige schwarze Hunde an langen Leinen bellen sich warm. Fast wie Schach, denke ich, wie sie die Hunde positioniert haben und nun stellen sie die Wohnwagen zur Rochade um.
Es ist fast 17 Uhr. Sieht nach Regen aus. Ich habe die nächste Nacht noch nicht bezahlt. Die Platzwartin war noch nicht da.
Es soll ja noch einen Campingplatz geben in Zwiesel, fünf Kilometer entfernt.
Schnell gepackt und los.
Den Campingplatz in Zwiesel gibts nicht mehr. Der nächste wäre in Regen. Elf Kilometer. Ich stelle mich auf Wildzelten ein, radele Richtung Regen. Nieselregen setzt ein. Regenklamotten anziehen unterm Dach der Bushaltestelle beim Krankenhaus. Weiterradeln. Plötzlich ein Schild Richtung Bahnhof. Nur ein Kilometer bergab. Hey, Mann, hast ja noch das Tagesticket der Waldbahn, könntste doch …
Und so kommt es wie es kommt. Schon stehe ich gegen 19 Uhr am Bedarfsbahnhof Bettmannssäge, einem winzigen Weiler. Weiß ja nun, wie das funktioniert. Dasein. Einsteigen, weiterfahren. Rausche durch bis Plattling.
Das liegt an der Isar, kurz vor deren Mündung in die Donau. Es gebe zwar keinen Campingplatz, aber bei der Isarwelle würden oft die Surfer mit ihren Caravans wild campieren, erzählt mir ein Fahrgast.
Obendrein lädt er mich während der einstündigen Fahrt zu einem verbalen Ausflug nach Berlin ein, ein Hausprojekt, faszinierende Geschichte, andere Geschichte.
Abstand zum Mittelpunkt Bayerns bei Kipfenberg 110 Kilometer.
Bald kommen dann die Indianer, um die Wagenburg zu schleifen.
So friedlich noch scheint es in Bayern, wie in Indien, noch.
Fahr weiter – und schreib!
Jetzt ists raus. Es wird einen dritten Reiseabschnitt geben. Vielleicht im September?
Ich hol das nochmal eben hier runter, weil es (mir) so wichtig ist:
„Für den Moment denke ich, das ist es, was die Welt braucht: Entschleunigung, mehr Unsicherheit (so verrückt das klingt, im Sinne von weniger Durchtaktung), Ungewissheiten, Fragen, Langsamkeit, viel mehr Herz und Zwischenmenschlichkeit, anstatt abgehetzt und geschunden zwischen Maschinen und Automatismen hin und her zu hecheln.“
Ja, ja, ja und nochmal JA. Ich sehe das genauso: das ist es, was uns Menschen gut tun würde. Was wir brauchen könnten, um uns zu besinnen auf das wenige, was wirklich wichtig ist im Leben.
Und in diesem Sinn ist es wohl auch genau richtig, dass du den Rest der Strecke entschleunigst und auf eine andere Zeit verschiebst. Gute Heimfahrt!
Liebe Ulrike, Geduld ist eine der stärksten Kräfte. Sowie die Besinnung auf das Wesentliche. Nur so gelingt es (mir) gewaltfrei ans Ziel zu kommen.
Was die Entschleunigung global angeht, sehe ich leider schwarz. Das ist wie ein Karisell, das immer schneller dreht. Von den vielen Milliarden, die daran drehen gibt es immer welche, die rücksichtslos schneller und schneller drehen und noch viel mehr, die gedankenlos mitdrehen (das Erschreckende: man gehört manchmal selbst dazu).
Zum letzten: Ja. *tief seufz*