Kartenträume waren am Anfang. Kartenträume und eine Frage in die Tweetosphäre: Was liegt eigentlich alles Schönes am Wegrand auf meiner Runde um Bayern? Die Antworten kamen prompt. Museen, Klöster, Kirchen, Weltkulturerbes, aber auch Übernachtungsgelegenheiten und Zeltplätze oder ‚Da-hab-ich-als-Kind-Gewohnts‘ und anderes Persönliches. In einer Google Map verzeichnete ich die Tipps in der näheren Umgebung des Streckenplans, den ich als Grundgerüst für die Reise auf Basis von Radwegen des Bayernnetzes für Radler skizziert hatte. Das Faszinierende an Kartenträumen ist: Es regnet nie auf Radtouren, die man auf Karten träumt. Es geht nie steil bergauf. Es gibt keinen Frost, weder Hektik, noch Verkehrslärm und Holperstrecken. Alle Reiseziele liegen fein aufgereiht wie an einer Perlenschnur direkt am Weg, haben immer geöffnet. Es gibt Hotelzimmer zum günstigen Preis von x Euro, wobei x der eigenen Phantasie von einer schönen Hotelzimmerchenwelt entspricht. Alle Menschen sind freundlich. Kein Dieselrußgestank, kein knappes Überholen. Ein Kartenträumeschlaraffenland, in dem man mühelos von Ort zu Ort auf der Perlenschnur gelangt.
Ich schwitze jenseits des Rottalsees, ich schwitze hinauf nach Oy, fast tausend Meter hoch. Die Höhenlinien der Karte sind physisch erfahrbar, ich friere runter nach Nesselwang und schwitze raus aus Nesselwang, wo die Gegend geradezu vermärchenschlosst und man durch Nadelwälder auf schmalen Wegchen fährt, immer weiter in Richtung des Märchenschlosslands hinter Füssen. Ludwig. Ludwig und die sieben Radler, die sich vor mir einen Berg hinauf quälen. Welch feine Silhouette von kurbelnden Männlein in bunten Klamotten, hunderte Meter auseinander gezogen, das Feld. Ich der letzte. Der das alles beobachtet. Vorbei an der Scheune, am Baum, am einsamen Bänklein, umschmeichelt von Wiesen und unheimlich ludwig-märchenschlössigem Wald ziehen sie dahin. Die Hochspannungsleitung muss man sich natürlich wegdenken.
Aber, Moment mal, das ist gar keine Perlenschnur, das ist ein Rosenkranz aus Radlern. Bete sieben Radler, mein Sohn Irgendlink, und alle Deine Sünden sind Dir vergeben, scherze ich, keuche ich den anderen hinterher.
Im Grunde sind es zwei Gruppen von Radlern, die da vor mir den Rosenkranz geben: die vier Männer, die ich schon am ersten Reisetag getroffen hatte und drei weitere Männer, denen ich kurz zuvor in Nesselwang begegnet war. Sie fahren Ebikes und rauchen wie die Schlote. Schnaps war auch im Spiel.
Füssen. Ich kaufe ein. Das Ohr summt. Geht mir gar nicht gut. Der Tinnitus hat etwas Endzeitliches, wie er sich mit dem Straßenlärm mischt unter den Dächern des Sankt Mang Kolstera, aber dann raus aus der Stadt auf dem Lechradweg Richtung Fernpass. Der erste Radweg, der seinen Namen auch verdient. Zwar war die Route des Bodensee-Königssee-Radwegs durchs Allgäu durchaus radeltauglich, führte aber fast ausschließlich über – zwar kaum befahrene – Autostraßen oder – begleitend – an Hauptstraßen. Hier, am Lech, gibts Gravel-Piste, unbefestigt, aber wundervoll schmale Wege durchs Flussgebüsch vorbei an Geröllablagerungen. Der Lechfall ist bemerkenswert. Ein künstlicher Wasserfall oberhalb Füssens, dereinst geschaffen, weil ein verheerndes Hochwasser sämtliche Mühlen Füssens vernichtet hatte. Als Hochwasserschutzmaßnahme wurde der Fluss getunnelt und später als Kraftwerk ausgebaut.
Schnell ist man in Österreich. Hinter Reutte ist das Objekt meiner Begierde, der Kartentraum, den ich durch einen Blick über den Tellerrand Bayerns hinaus wahr werden lasse. Die Highline 179 ist eine spektakuläre Hängebrücke, die zwei Burgen miteinander verbindet und – vermute ich einmal – 179 Meter über dem Tal hängt. Der Umweg und das Verlassen der Bayernrunde lohnt alleine schon für den Anblick.
Gegen Abend erreiche ich das Wunder. Nicht viel los. Man kann täglich von 6 bis 22 Uhr zu den Brückenköpfen kraxeln und sich durch Lösen eines Tickets (8 Euro) Einlass verschaffen. Soll ich? Radel stehen lassen mit allem Gepäck und die zwanzig Minuten hinauf? Oder in der Klause nebenan fragen nach Zimmer? Hier nächtigen?
In der Rezeption des Gasthauses und Hotels sagt man mir, x=70. Das sprengt jegliche Schmerzgrenze. Also ächze ich eine weitere Steigung hinauf nach Heiterwang, wo es günstigere Unterkünfte geben soll, erhalte dort die Antwort in einer Radlerpension, x=60. Fast bin ich versucht, schon will ich einchecken, da reitets mich, es ist warm genug zum Zelten, noch beim Campingplatz vorbeizuschauen. Direkt am See. Auch dort gibt es Zimmer für x=97.
Schlussendlich lande ich auf der winzigen Zeltwiese, mit einem mitleidigen ‚Hoffentlich haben Sie einen guten Schlafsack‘ der Rezeptionistin. Hier ist x=19,5.
Die Nacht war frostig. Auf den Fahrradtaschen ist Raureif. Aber ich konnte gut schlafen (nachdem der Küchenjunge gegen 22:30 das Altglas im Müllraum unweit der Zeltwiese entsorgt und den Müll des Tages in einer elend knirschenden mechanischen Presse zerquetscht hatte).
Nun Frühstück im Zelt. Schneidersitzbüro. Vöglein zwitschern und die Sonne macht die schneebedeckten Berge im Westen glühen.
Würdest du dein restliches Leben mit Radeln und Schreiben verbringen, ich würde dich täglich lesen, schmunzeln, nicken, nachdenken und -spüren und deine Welt vor meinen Augen tanzen lassen.
Heute scheint die Sonne, hoffentlich auch bei dir …
liebe Grüße
Ulli
Das hast Du ganz wunderbar formuliert, liebe Ulli, und ich kann mich nur anschliessen.
Hab‘ ein feines Wochenende,
Pit
Danke liebe Ulli. Liebe Grüße vom Walchensee gesendet. Nach einem Beisammenstehen mit vier Jungs aus Weinheim. Doch das ist eine andere Geschichte …
… die ich gerade gelesen habe. Ich fand dich sehr tapfer, statt dich schmollend oder grollend im Schlafsack zu wälzen, dich zu ihnen zu gesellen!
Es war die beste Lösung. Warauch ganz nett mit den vier Businessmen.
Die e-bikes sind mir ein Graus – in Baden Württemberg geben die Arbeitgeber sogar Geld anstatt für ein Firmenauto. So werden die Mitarbeiter fit gesponsert.
In und um Fuessen habe ich mal einen ganz prima Radelurlaub verbracht – als ich noch „jung und fit“ war. Wenn ich darueber erzaehle, dann muss ich anfangen wie im Maerchen, mit „es war einmal“. ;)
Ich erinnere mich noch an den WEirt im Hotel [„Zum Hechten“ in Fuessen], selber ein Radler, der zuerst ziemlich skeptisch war, dass ich – aus dem Flachland – dort radeln wollte. Er hat’s zwar nicht laut gesagt, aber ich habe in foermlich denken hoeren koennen, „Was will der denn hier? Der wird sich noch wundern!“ ;) Und dann aenderte sich seine Miene aber sher, als ich von einer 70-Kilometer Tour zurueck kam.
Weiterhin eine schoene Tour, lieber Juergen,
Pit
Manchmal wäre ich froh um so ein E-Bike. Bloß wie laden, so outdoor wie ich manchmal unterwegs bin? Oft müsste ich ein schweres Gefährt ohne Saft vorankurbeln.
ach wie wunderbar deine Schilderungen… da spüre ich all das was du schreibst wie ein kribbeln im Bauch, die Euronen– Xe, die Märchenschlösser, die Nadelwälder, den LudwigGeist, die luftigen Höhen, das Ziehen in den Waden, das frösteln am Morgen, die Erinnerungen an das KüchenjungenGeklapper beim SchneidersitzFrühstück.
Habs fein
Danke liebe Dagmar.