Die große weite Wüste rings um einen längst versiegten, imaginären Aralsee irgendwo im Zentralasien der Grenzziehung

Das Tauwetter bringt es an den Tag. Die Karre steht ein paar Zentimeter zu weit über der gelben Linie, die den Parkplatz markiert. Im Schneegestöber vorgestern Nacht waren sämtliche Straßenmarkierungen verschwunden, so dass wir auf gut Glück – besser gesagt nach natürlichem Instinkt – parkten. Knapp vor dem Durchgang für die Bewohner des Hauses, aber nicht so weit vorne, dass die Fahrertür sich nicht mehr öffnen lässt, weil sie gegen die Buchshecke des Vorgartens stößt.

Vor ein paar Monaten stand das Auto ganz woanders neben einem Durchfahrt verboten-Schild am Rhein. Wir packten eine Picknicktasche und hatten schon einen Platz auf einer Kiesbank im Fluss ausgespäht, auf der wir ein Päuschen machen würden. Mit Blick auf Liechtenstein und Heidiland. Von fern näherte sich ein SUV auf dem schmalen Teerweg auf dem Rheindamm, auf dem die Durchfahrt, nur mit Bewilligung, erlaubt ist. Je näher das Fahrzeug kam, desto besser war zu erkennen, dass es ein Polizeifahrzeug war. Vier Meter Platz bis zur anderen  Wegseite. Noch einige andere Autos standen auf dem Areal, das zwischen Straße und verbotenem Weg wie geschaffen wirkte, das Auto abzustellen und zu flanieren oder den Hund zu gehen. Ein grauer Mann in Uniform steuerte das Polizeiauto, verlangsamte, als er uns begegnete, kurbelte die Scheibe runter, flaumte uns an, das Auto stehe zu mehr als der Hälfte jenseits des Verbotsschilds. Die Buße für solch eine Ordnungswidrigkeit betrage 100 CHF. „Was würden Sie mit 100 Franken alles anfangen?“ fragte er, „Wieviel könnten Sie dafür tanken, wieviele Kilometer fahren, schick essen gehen …“ Pipapo-Rhetorik inklusive rassistischem Machtspiel, denn er spulte auch die gesamte Leier herunter à la „Bei sich zu Hause würden Sie das nicht tun, oder?“ Die anderen Fahrzeuge auf dem Platz trugen Schweizer Kennzeichen, parkten nicht zur Hälfte jenseits des Schilds und ihre Besitzer waren auch nicht vor Ort.

Jetzt bloß nichts sagen, Herr Irgendlink, dachte ich. Pipapo-Rhetorische Fragen darf man nicht beantworten. Demütig bat ich um Entschuldigung, versicherte, das Auto wegzufahren und überlegte dennoch, ob es 100 Franken wert wäre, Paroli zu bieten, nur, um den Mann zu quälen. Die Worte lagen eigentlich schon bereit im Hirn und sie hätten ihn sehr hart getroffen und ihm den Feierabend nachhaltig verdorben, dessen bin ich mir sicher. Letzten Endes hielt ich die Worte nur zurück, um ihn zu verschonen, ihm den Feierabend nicht zu verderben, nicht etwa des Geldes wegen. In derartigen Konfliktmomenten setzt bei mir oft die materielle Vernunft aus und dann ist es mir plötzlich egal, wieviel eine gezielt auf verbale Vernichtung des Gegners abzielende Antwort kosten würde.
Die Konsequenz, dass stattdessen ich den Konflikt ein zwei Tage mitnehmen musste und ihn mit mir selbst verarbeiten musste, war mir durchaus bewusst. Märtyrer des kleinen Mannes, ich. Auch, dass irgendwann eine Geschichte aus der Sache werden würde, wenn auch nur diese.
Es gab keine Buße. Ich parkte das Auto auf dem offiziellen Parkplatz. Wir picknickten im Fluss und schichteten Steinmännchen.

Monate später rückte ein Bautrupp an, um vor Frau SoSos Haus Markierungen anzubringen. Die privaten Parkplätze direkt vorm Vorgarten wurden ausgemessen und nach Plan mit gelber Farbe markiert und mit Nummern versehen. Wo früher vier Autos Platz hatten, waren nun drei große Parkflächen markiert. Erstaunlich, wie abrupt sich das Parkverhalten änderte. Plötzlich parkten auf den drei Parkplätzen nur noch drei Fahrzeuge luftig leicht. Insbesondere die Fläche mit dem Smart der Nachbarin wirkt seither wie eine große weite Wüste rings um einen längst versiegten, imaginären Aralsee irgendwo im Zentralasien der Grenzziehung.

Ich habe einmal von einer Stadt gelesen, die im Verkehr nahezu erstickte. Unfälle und Stress zu Hauf und ewiger Stau, bis ein holländischer Verkehrsplaner eine revolutionäre Umplanung vornahm. Alle Markierungen, Ampeln und Schilder der Stadt wurden abmontiert, der Verkehr quasi sich selbst überlassen, jegliche Schranke war gefallen, Regeln gab es kaum noch und die Menschen mussten wieder selbstständig denken, statt sich auf Regeln zu berufen. Eine Ode an die Vernunft? Die Maßnahme habe jedenfalls eine deutliche Verbesserung gebracht. Ich weiß nicht, ob die Geschichte stimmt.

Nachtrag: @kaffeebeimir hat den Verkehrsplaner Hans Monderman gefunden. Hier ein Wikipediaartikel zum Thema.

Heute Morgen, als ich die Schneeschmelze beobachtete und nach und nach erkannte, wie unser Auto aus dem Zustand des natürlichen, vernünftigen Parkens geradezu heraus schmolz in die Schablone der Verkehrsregeln, die das Erscheinen der gelben Markierungen hervorgebracht hatte, musste ich daran denken. An diese merkwürdige Regelversessenheit von uns Menschen. An die Standard-Entschuldigung, dass es ohne Regeln nun einmal nicht geht, bei so vielen Menschen auf so engem Raum, dass wir Regeln brauchen, um die Schwachen zu schützen. Regeln sind Grenzen. Und ich fragte mich, ob die Regeln nicht oft nur deshalb aufgestellt werden, um die Starken und die Mächtigen zu schützen vor diesen lächerlichen kleinen Schmeißfliegen von Menschen, die mit ihren verbeulten uralten Karren mehr als zur Hälfte jenseits von Verboten-Schildern parken.

96 Verbotsschilder als Postercollage
96 Verbotsschilder als Postercollage – für weniger als eine Hundert-Franken-Buße in der Sektion „Kunstwerke“ dieses Blogs erhältlich. Dort kann man es auch ein wenig vergrößern, wenn man es anklickt. Jedes Bild ist ein multiples Unikat, ein sogenanntes ‚Uniquiple‘.

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