Nun bin ich wohl in meiner Blase der Gegenwärtigkeit angekommen. Die Beine laufen in ruhigem Takt. Es gibt viel Moment, eingebettet in ein bisschen Zeit voraus und ein bisschen Zeit zurück. Der moderne Mensch hat oft gar keine Chance gegenwärtig zu leben. Wie ein Rudel Wölfe, die dem Terminkalender entsteigen, zerrt mal dies, mal jenes an ihm und reißt ihm Stück um Stück das Fleisch von den Knochen. Leben wir in einer Zeit der in Portionen zerschnittenen Zeit? Was überhaupt ist Zeit? Wer hat sie gemacht? Haben wir sie nicht selbst erfunden? Kennen Tiere Zeit? Empfinden sie die ‚fliehenden Stunden des Lebens‘?
Von Kirchturm zu Kirchturm radele ich, schon seit München, alle paar Minuten ein kleines Dörfchen. Früher, habe ich einmal gehört, gab es keine synchronisierte Zeit. Es ist zwar lange her, aber es konnte einem passieren, dass im einen Dorf die Uhr acht schlug, im anderen elf. Mittlerweile ist der gesamte Planet mit Zeitzonen genormt, mit Umrechnungsfaktoren, damit man auch weiß, wie der Lebenstakt selbst im entferntesten Winkel des Planeten läuft. Im Mangfalltal, das gut fünfzig Kilometer lang hinunter führt zum Inn, wurde mir dieser Zeitirrsinn klar. Als ich am Bach lagerte und in die silbrigen Wellen starrte und die Sonne senkrecht über mir stand und sich scheinbar nicht bewegen wollte, stellte ich mir vor, ich würde sooooo laaaaangsaaaam denken und handeln und sprechen, dass ich nur noch in Zeitlupe wahrgenommen würde. Ganz klar eine Ausgeburt der stechenden Sonne. Später, in Rosenheim am Inn, war der Spuk schon wieder vorbei. Aber mein Hirn hatte sich verselbständigt und beschäftigte sich mit Zeit. Habe ich vor dieser Reise je intensiv über eine so große Zeitspanne, wie die Ewigkeit gegrübelt, sie gar empfunden? Das, worüber man beginnt nachzudenken, kann man auch irgendwann empfinden. Kratzen an der Tür zur Ewigkeit. Der Mensch beschäftigt sich doch normalerweise nur damit, was unmittelbar bevorsteht und was eine Lebensspanne zurückliegt. Bei den Großeltern hören für die meisten die Ahnen doch auf. Und die Zukunft endet mit dem frischesten Termin im Kalender: Sommerurlaub 2014, Goldene Hochzeit der Eltern 2015?
In Wasserburg mündet die Mangfall in einem Park in den Inn. Unter einer Brücke sprayen hochoffiziell einige Jungs die Betonwand im Auftrag der städtischen Galerie. Im Park ist das Inn-Museum ausgewiesen auf mannshohen Stahlplattten, die Tiere, Menschen, Kähne darstellen. Ich stelle mir das Museum vor als einen Tunnel, der unterm Inn hindurch führt mit einer gläsernen Decke, so dass man sich den Fluss von unten betrachten kann. Ein Gewitter geht nieder. Vor einem griechischen Restaurant stelle ich mich unter, gemeinsam mit einem spitzbärtigen Radler, der in einer völlig fremden Sprache telefoniert. Viertel Stunde. Dann gehts zur Sache. Die beiden Radler, die mir die Via Julia erklärt haben, hatten sich wohl geirrt: die schlimme Strecke beginnt in Rosenheim. Bis rüber zum Chiemsee muss man ständig auf und ab. Es gibt offenbar keine Täler, sondern nur ein Gemenge aus Hügeln, Wiesen, dazwischen einzelstehende Gehöfte, keine klare Bachstruktur mit Dorf auf Dorf. Im Hintergrund im Süden wie eine Wand die Alpen. Ab dem Chiemsee wird es wieder flacher. Ich folge dem Seeweg, bis Chieming, dann nach Traunstein, eine Weile der Traun entlang rüber zur Salzach. Hier ist die Welt wieder in Dörfer gegliedert. Jedes Dorf war früher ein in sich geschlossenes System aus Menschen, die, als die Welt noch nicht globalisiert war, aufeinander angewiesen waren.
Die Menschheit wächst rasant. Doris Lessing schreibt in ihrem Roman Mara und Dann von dem sogenannten Interregnum. Ich weiß nicht, ob es sich dabei um eine Zwischeneiszeit handelt. Ein Interregnum dauert etwa 12.000 Jahre, steht im Vorwort des Buches, und es markiert den Zeitraum, in dem die Eisflächen sich zurückziehen auf die Polkappen und die Erde halbwegs bewohnbar ist. Verglichen mit dem Alter der Erde eine winzige Lücke, in der Zeit ist, Hochkulturen zu entwickeln. Das Rad zu erfinden. Werkzeuge, Waffen, Götter zu schaffen. Kriege zu führen. Andere zu unterwerfen, sich ihr Wissen und ihren Besitz zu eigen zu machen. Hie und da eine Hochkultur wachsen und wieder vergehen zu lassen.
Kann man den Planeten 2013 als Hochkultur bezeichnen? Nie waren wir so entwickelt wie heute. Die menschliche Gesellschaft kommt mir vor wie eine riesige Pumpe, mit der Güter, Waren, Geld und Ideen hin und her gepumpt werden und sie wird immer schneller und präziser. Alles, was wir heute an Wohlstand und Zivilisation haben, ist kaum älter als ein paar zigtausend Jahre. Bedeutet das, wenn es kaputt geht, dass es sich jederzeit wieder entwickeln kann?
Nun zelte ich auf einer Wiese am Waldrand unweit von Freilassing. Taktisches Radreisen bzw. Kunststraßenbauen. Gestern hätte ich noch dreißig Kilometer weiter radeln können, aber da ich mir Salzburg in Ruhe anschauen möchte, habe ich getrödelt. Es ist nie gut, eine so große Stadt in den Abendstunden anzulaufen, wenn man nicht gerade im Hotel oder der Jugendherberge absteigen möchte. Die guten Zeltplätze sind numal draußen vor den Toren. Noch zwei Tage bis ins Memory of Mankind-Archiv. Freitag gibt es einen Pressetermin und anschließend geht es mit der Schmalspurbahn in die Tiefe des Salzstollens. Keramiken sind nun doch noch keine produziert. Es gibt noch zu viele Unwägbarkeiten – insbesondere ist die Auflösung der Collagen-Bilder direkt aus dem Smartphone ein bisschen schwachbrüstig und der Farbraum sollte CMYK sein. Die Menschheit muss sich erst noch ein bisschen entwickeln, bis auch das kein Problem mehr sein wird.
„Das, worüber man beginnt nachzudenken, kann man auch irgendwann empfinden.“
Dieser Satz ist in abgewandelter Form schon häufig gesagt worden. Zum Beispiel: „Das Glück Deines Lebens hängt von der Beschaffenheit Deiner Gedanken ab.Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken.“
Marc Aurel
Aber man kann ihn nicht oft genug sagen, denn wir sind was denken und wir produzieren was wir denken. So sollten wir uns tunlichst mehr Gedanken um die schönen positiven Dinge des Lebens machen, als um die negativen Dinge. Und sich gedanklich mit der Ewigkeit zu beschäftigen heißt: Es gibt noch viel Zeit für schöne Dinge, vielleicht für silbriges Denken am Bach in der Sonne. ;-)
Schönes Ankommen wünsch ich dir und zwischendurch immer mal wieder ein bisschen „zeitlos“ sein. :-)
Liebe Grüße, Szintilla
{Die beiden Doris-Lessing-Bücher („Mara und Dann“ und „Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund.“) habe ich vor einer Woche etwa ausgelesen. Zur Zeit lese ich wieder Pilgerbücher (Jakobsweg u.a.).
Dieses „Wege gehen wollen“ war es, das mich letztens so sehr beschäftigte … was mir auch bei jedem Lesen hier gewaltige Empfindungen verschuf.}
Weißt Du, gerade ist mir ein Stein vom Herzen gefallen. Ich verglich nämlich immer die von Dir zurückgelegten Strecken-km mit den von Dir geplanten km und dachte, Du seiest viel zu langsam. Aber nein, jetzt bist Du in der Zeit, in Deiner Zeit und hast Zeit, über Zeit nachzudenken … Wurde bestimmt auch mal Zeit dazu?
Wie war Salzburg?
Lieber Emil, zum Glück hab ich die Kilometerdifferenzen nicht verglichen. Sonst wäre ich maßlos unter Druck geraten. Und das hätte der Kunst geschadet – immerhin bin ich ja auch Mein eigener Kreativmotor. Das Fichtebild wäre nie entstanden, weil ich bei dem Baum garnicht gestoppt hätte und auch die Papiergitterboxen hätte ich nicht wahrgenommen. U. V. V. M.
Salzburg ist noch in meinem Hirn. Senkrechtstadt.