Das Hirn ist schön. Das Hirn ist lieb. Das Hirn ist gut. Und Beton ist das auch.

Unendlich langsam komme ich voran. Es ist zum Heulen. Das Hirn widersetzt sich. Obschon, es ist ein gutes Hirn. Das Hirn ist lieb. Das Hirn ist schön. Das Hirn ist gut. So ähnlich stand es vor zwanzig Jahren an einer Brücke über den Rhein zwischen Mannheim und Ludwigshafen geschrieben. Ich kam von Mannheim, vermutlich per Rad und flanierte am Beton, worauf gesprayt war in großen Lettern: Beton ist schön, Beton ist lieb, Beton ist gut. Halbmeter hohe Buchstaben über zwanzig dreißig Meter verteilt, so will es die Erinnerung. Und ist das etwa nichts? Diese Erinnerung, so weit weg an Jahren, so unbedeutend, so nicht erinnerungswürdig eigentlich und doch hat sie sich gehalten.

Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein?

Am Morgen fummelte ich fahrig auf Webseiten, installierte für die Radelgalerie, die ich dieses Jahr wieder in Betrieb nehmen möchte, eine Classicpress-Seite und versuchte eine andere eher wenig wichtige meiner Seiten in Classicpress zu verwandeln, scheiterte mit dem Verwandeln (weißer Bildschirm des Todes), hatte Erfolg mit der Radelgalerie und der Tag verging im Forschen darum warum das Verwandeln nicht geklappt hatte und im Versuch, die Radelgalerie schön einzurichten. Dort fehlt es nun nur noch an Inhalten. Nuja und dabei ist das Hirn gefragt. Wann waren nochmal meine spärlichen Aktionen mit der Radelgalerie? 2019? Oder früher? Es war Mai. Ich muss alle Maimonatsarchive im Bildarchiv absuchen und tatsächlich, werde fündig. Die Radelgalerie beim Straßentheaterspektakel in Zweibrücken. Bin unzufrieden mit den Bildern, hey und war ich nicht 21 in Saarbrücken mit der Galerie? September. Parkingday. Oder war das 2022. Covid, Du verflixter kleiner Hirnvernebler, Du elender Zeitverdrullerer! Vor Dir war alles so schön gefügt und chronologisch, aber seit Dir nur noch Matsch, Schmier, Verschiebung, Nebel …

Herrjeh.

So trete ich auf der Stelle und etwas lenkt mich ab und der Abend naht und ich verliere die Lust und eigentlich hätte ich sollen dranbleiben am Schreiben: Gestern liefs doch so gut mit der Geschichte „Wo Hotel“ – anderthalb Stunden und die Story war fertig, dann nur noch bissel Korrektorat – sowas könnte ich öfter gebrauchen. Immer. Jeden Tag. Verflixt! Ich rotiere von Idee zu Idee, Gedanke zu Gedanke, kaum die Muse etwas zu Ende zu führen. Daran muss ich arbeiten. Am Es-zu-Ende-bringen.

Dieses Jahr.

Ich hab kaum noch Zeit, ahne ich. Ne, fürchte ich.

Was ist denn der Unterschied zwischen Ahnen und Fürchten und sollte man darüber eine Abhandlung schreiben? Wer, wenn nicht ich? Wozu?

Heute: Mit dem Radel zum Reparaturcafé geradelt. Kaffee getrunken, Kuchen gegessen, geplaudert, zum Aldi gegenüber und wieder hoch mit den letzten KWH im Akku. Dabei einen Warmhandhack ausprobiert mit zerschnittener Isomatte über den Lenkerenden, die eine Protektion für die Hände bietet. Das war fein. Ich probierte eine Hand mit und eine ohne Protektions-Isomatte und siehe da, die mit, die war wärmer oder nicht so kalt und wenn es regnet, bringt die Isomattenprotektion vermutlich richtig viel, weil es dauert, bis die Handschuhe durchnässt sind. Ich Fuchs.

Eigentlich hatte ich im Hinterkopf, morgen nach Mainz zu radeln zu Freund QQlka, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, bisschen schwätzen und sonntags wieder heim. Bloß: Ich krieg verflixt den Hintern nicht hoch. Dauert immer bis Mittag, bis ich warmlaufe, um mich im Irrgarten der Zutuns zu verirren. Es wäre sicher kein Fehler, mal raus, das Haus verlassen, klare Linie finden, Schritt für Schritt voran, statt auf der Stelle zu tippeln und hier dies und da das und nichts wird fertig.

So auch die Idee, nächste Woche ein erstes Mit-dem-Rad-zur-Liebsten zu wagen. Die Tour dauert drei Tage, also zwei Zeltübernachtungen im Elsass irgendwo. Die Strecke ist fast ausschließlich auf Radwegen und ich kenne sie in- und auswendig. Das Wetter soll ja schön werden, nachts kalt, trocken, nicht weniger als minus vier. Das wäre eventuell noch zeltbar, jaja und dann hätte ich, vom Zwang der Radreise diktiert, auch eine Struktur. Denk mal dran, liebes Jetzt-Ich, der du dies schreibst, wenn du dich morgen in ein ungeheuerliches Morgen-Ich verwandelt siehst und nicht mehr weißt noch ein noch aus ob all der Möglichkeiten, die auf dich einprasseln. Jetzt, jetzt und jetzt … also im morgigen Jetzt, nicht im jetztigen Jetzt.

War eigentlich als Privateintrag gedacht. Aber hopp, raus damit.


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Wo Hotel

Wie üblich kam der Auftrag per Brief. Ich hörte wie der Umschlag unter der Tür durchgeschoben wurde. Über die Monate und Jahre hatte ich ein Ohr dafür entwickelt. Ein ebenso scharfes wie sanftes Geräusch von dahingleitendem Papier auf Holzboden. Ich stieg aus dem Bett, hastete in den Flur, schaute durch den Türspion. Nichts. Keine Spur von dem Menschen, der mir den Brief unter der Tür durchgeschoben hatte. Wie auch. Trotzdem versuchte ich jedes Mal, ihn oder sie zu erwischen, endlich zu erfahren, wer mir die Aufträge gab, woher das viele Geld stammte, das ich verdiente.

Dass es besser sei, ich wüsste nicht, wer er oder sie ist, war mir schon klar, aber Leute, mal ehrlich, die Neugier ist ein wuchtiges Reitpferd, das sich stets seinen Weg durch die staubigen Steppen der Unkenntnis zu bahnen versucht.
Ich hob den Umschlag auf. Ihn in der Hand wiegend ging ich zurück. Ich schätzte, das neben dem Blatt mit dem Auftrag etwa 5000 Euro in 100er Scheinen darin sein würden. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür für das Gewicht des Gelds. Oft kann ich aufs Gramm genau schätzen, wieviel sich in einem Umschlag befindet. Die Aufträge sind stets auf einem Din A4 Blatt mit Schreibmaschine geschrieben. Gute alte Courier-Schrift, das große S ist ausgefranst. Auch andere Buchstaben haben markante Macken. Man könnte, wenn man die Maschine findet, den Urheber, die Urheberin des Geschriebenen leicht ausfindig machen. Alte Schreibmaschinen haben einen Fingerabdruck.

Neben dem Auftragsblatt und dem Geld – es waren tatsächlich exakt 50 Scheine a 100 Euro in dem Kuvert – befindet sich stets noch ein Foto in dem Kuvert. Das Portrait eines schätzungsweise Mittvierzigers schaute mich an. Der Mann hatte einen melierten langen Bart, Stirnglatze, Ringe unter den Augen und eine auffällige Narbe, die sich vom linken Ohr bis fast zum Mund erstreckte. Sicherlich einer der übleren Kandidaten, die mir im Laufe meiner Tätigkeit unter die Finger gekommen sind. Aber man soll die Menschen nicht nach ihrem Aussehen beurteilen und schon gar nicht nach Portraitfotos. Sie zeigen nur einen winzigen Moment in der Zeit. Eine hundertfünfundzwanzigstel Sekunde, die darüber entscheidet, als was oder wer man wahrgenommen wird, wenn das Konterfei jemand Fremdem vor die Augen kommt. Im einen Moment bist du noch der liebende Opa, Onkel, Vater und im nächsten der übelste Schwerverbrecher.

Zurück ins Schlafzimmer, es ist noch früh, vorbei am Badezimmerspiegel, schaut mir eine amorphe Gestalt entgegen, unrasiert, wirres Haar, ansatzweise Krähenfüße in den Augenwinkeln. Ich bin gerade mal dreißig, herrjeh, aber es ist noch früh. Ich überfliege das Infoblatt im Brief. Mein Klient heißt Arnold Scheibenegger. Zur Zeit befindet er sich in Wuppertal im Hotel Erika, Essener Straße 237, Zimmer 113. Wenn er einen grüßt, sagt er meist Howdy. Das ist eine wichtige Information, um ihn sicher zu identifizieren. Die Leute sehen auf den Potraitfotos oft ganz anders aus als in Wirklichkeit und wenn man noch ein weiteres Merkmal hat, die Art wie jemand geht, wie er oder sie sich kleidet oder wie der Mensch spricht, sichert einen ab. Man möchte ja nicht den Falschen erwischen.
Ich krieche noch einmal ins Bett. Den Laptop auf der Bettdecke lese ich die Neuigkeiten im Fediverse, schlendere durch meine Timeline, in der das politische Geschehen diskutiert wird, sich über Mark Zuckerberg, Trump, Musk und all die milliardenschweren Nichtsnutze aufgeregt wird; ein Gif mit jungen Füchsen zeigt wie die Tierchen im Schnee herumtollen; ein Tröt weiter ist ein Radweg zugeparkt und im nächsten Tröt spielt jemand bei Grüntee Klavier*. Außerdem gibt es ein Navigationsgerät** zu verschenken, das ein gewisser @masek anbietet.
Ich kenne mich in Wuppertal überhaupt nicht aus, mehr noch, ich weiß noch nicht einmal, wo Wuppertal liegt. Im Ruhrgebiet, glaube ich und es gibt dort eine berühmte Schwebebahn. Das ist alles. In diesem Moment weiß ich eigentlich mehr über meinen Kunden, Arnold, als über die Stadt und das Hotel, in dem er zur Zeit logiert. Mein Bild Scheibenegger ist um so einiges klarer als mein Bild Wuppertal. Wuppertal ist ein großer, unscharfer Punkt am Horizont und Arnold ist der Mond, der das Dunkel darum herum erleuchtet.

Da ich unter Orientierungslegasthenie leide, könnte eine gute Navigation nicht schaden, um schnell und effizient zum Hotel Erika zu kommen, wo ich meinen Auftrag erledigen muss. Ich kontaktiere @masek per Direktnachricht, ob sein Geschenkangebot noch gilt und er antwortet prompt:
– Na klar, kannste haben.
– Kannst Du mir das per Kurier schicken? Ich übernehme die Kosten.
– Eigentlich wars zum Abholen gedacht.
– Mein Kurier holt ab. Kostet dich nix. Ist wie wenn ich selbst abhole.
– Okay, machen wirs so. Bin bis 12 im Büro.
– Deal.
Ich beauftrage den Kurierdinest, nicht gerade billig. Wenn ich zum Elektronikmarkt nebenan gegangen wäre, hätte ich sicher ein neues Gerät für weniger Geld gekriegt, aber ich verlasse nur ungern das Haus und außerdem bin ich ein Freund der Nachhaltigkeit. Gebrauchte Dinge sind mir grundsätzlich lieber als Neukäufe. Eine unkapitalistische Marotte, würde ich sagen. Zwei Stunden später läutet der Kurier. Durch den Türspion kann ich ihn sehen.
– Legen sie das Paket vor die Tür, sage ich.
– Ich brauche eine Unterschrift, sagt er.
– Schieben Sie den Zettel unter der Tür durch, sage ich.
– Sie müssen auf dem Tablet unterschreiben, das passt nicht unter die Tür.

Ich verlasse nicht nur ungern das Haus, ich öffne auch ungern die Tür, vor allem, wenn es sich um Kuriere handelt. Man hört da so Sachen. Ich hänge die Sicherheitskette ein, öffne die Tür einen Spalt
– Reicht das? Der Kurier schiebt das Tablett durch
– Einfach mit dem Finger … Ich mache meinen Vinzenz, schiebe das Tablet zurück und er legt das Paket ab.
Nachdem er im Aufzug ist, hole ich es rein.
Sobald ich das Päckchen geöffnet habe, beginnt die Odyssee. Das TomTom hat sicher schon einiges erlebt, müsste mindestens zehn Jahre alt sein, vielleicht auch zwanzig. Das gerundete Design mit dem silbrigen Plastikrahmen gefällt mir. Ich mag Nostalgie. Auch dass es nur fünf echte Knöpfe gibt, finde ich toll. Schon überlege ich, ein Unboxing-Video zu machen und es als Dank für @masek ins Netz zu stellen, doch ich muss endlich arbeiten. Mein Kunde wartet nicht. Mit dem mittleren Knopf schalte ich das Navi ein. Eine Landkarte im Windows 95-Stil erscheint und der Prompt: Geben Sie eine Adresse ein. Mit den Pfeiltasten hangele ich mich durch die Buchstaben: Hotel Erika. Das Gerät hat Vorschläge für mich. Hotel Erika in Zweibrücken, Hotel Erika in Bodmannshausen, Hotel Erika in Dresden, Hotel Erika in Bad Doberan. Aber Wuppertal: Fehlanzeige. Okay, vielleicht gab es das Hotel Erika in Wuppertal ja damals, als das Navi programmiert wurde noch gar nicht. Bestimmt ist es ein nigelnagelneues Billighotel am Stadtrand. Es kann also noch nicht in dem Navi gespeichert sein. Ich schreibe Wuppertal und wieder hat das Navi Vorschläge für mich: Wuppertal Bayern, Wuppertal Sachsen, Wuppertal Saarland, Wuppertal Nordrhein-Westfahlen. So geübt in deutscher Topografie bin ich nicht, im Zweifel liegen jedoch die meisten meiner Aufträge im Saarland und wieder hangele ich mich durch das Menü, suche nach der Essener Straße in Wuppertal Saarland. Fehlanzeige.
Nach einigem Hin- und Her finde ich die gewünschte Adresse in Wuppertal in Nordrhein-Westfahlen. Puuuh. Was für ein Straßengewirre dort, Stadt an Stadt und Siedlung an Siedlung. Das Navi zeigt ein Gewirre wie Pilzmycel. Bin ich froh, dass es mich einfach zur Adresse navigieren wird.

Nach dem Frühstück breche ich auf. Mit einem Saugnapf klebt das TomTom an der Windschutzscheibe und es spricht sogar mit mir. Die voreingestellte Sprache ist Deutsch, zum Glück und der Ton der Stimme namens Erkan und Stefan, ist salopp, brachial, wie ein Comedian, der mit türkischem Akzent spricht.
– Musst du nächste Kreuzung rechts, krächtzt es etwa und wenn ich mich verirrt habe:
– Nicht das Rechts, das Andere, Bruda, dreh um, sonst mach ich dich neuen Kurs.
Ich gebe zu, das ist nicht gerade die schnellste Variante, um mein Ziel zu erreichen, aber dafür sehr unterhaltsam und außerdem, ich erwähnte es schon, ich bin ein Fan vom Wiedergebrauch, ein Gegner des Neukaufs, geradezu närrisch verliebt in alte, noch zu gebrauchende Technik.
Nach zwölf Stunden bin ich endlich in Wuppertal. Das Ortsschild schimmert im Licht des Vollmonds. Im Hintergrund dampfen Schlote, wummert die Stadt. Kaum Verkehr zu dieser späten Stunde und die Wahrscheinlichkeit, dass ich meinen Klienten antreffe ist umso höher, je später die Nacht.
Noch drei Abzweigungen und ich bin am Ziel, sagt das Navi. Ich folge Erkan und Stefans Anweisungen, fahre in ein Gewerbegebiet auf einer langen Straße. Links sind Felder, rechts Gebäude. Ich achte stets aufs Navi, beobachte wie sich mein Standort auf der blauen Straßenlinie in Richtung Zielpunkt bewegt.
– Jetzt korrekt links, sagt Erkan.
Fast zu spät reiße ich das Lenkrad herum und lande in einem Feldweg, der ins abgeerntete Maisfeld führt. Mist. Steige aus. Schaue mich um. Auf der einen Seite nur Dunkel und Ungewissheit, auf der anderen Seite die dampfende Stadt. Ganz wie im richtigen Leben. Verflixt. Ich bin doch tatsächlich direkt am Ziel vorbei gefahren. Nur weil ich ständig das Display vom TomTom beobachtet hatte, statt die Umgebung anzuschauen. Etwa 150 Meter zuvor prangt ein großes, leuchtendes Schild über einem schäbigen Reihenhaus, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Hotel Erika 24/7.
Die Karre ist festgefahren. Die letzten Meter gehe ich zu Fuß. Das Foyer des Hotels ist leer. Kein Nachtpoitier. Gutso. Ich streife den Hoodie über den Kopf, falls es Kameras geben sollte. Obschon dieser Ort außer Neonröhren eigentlich nichts Technisches zu bieten scheint. Zimmer 113 ist im ersten Stock. Ich nehme die Treppe, husche den Flur entlang. Ganz am Ende ist die Tür. Nehme den Hoodie runter und ziehe eine beige Cap auf, die mich wie einen Boten aussehen lässt. Ich klopfe, positioniere mich und ein Päckchen, das ich zur Tarnung dabei habe vor dem Türspion. Wer ist da, dumpft eine müde Stimme durch die Tür.
Kurierdienst, sage ich.
– Howdy, sagt mein Gegenüber ahnungslos.


Ich möchte 2025 weiterhin als Künstler und Schreiber arbeiten. Wenn Du mich unterstützen magst, kannst Du hier etwas spenden: https://paypal.me/JRinck133


Dunkles Bildschirmdesign einer Trötnachricht mit Antwort. Jemand bietet ein altes Navigationsgeraät zum Verschenken an, das als Grafik im Tröt erkennbar ist. Die Grafik zeigt einen Bildschirm eines Navigationsgerät mit stilisierter Verkehrsführung aus der Vogelperspektive. Die Trötantwort dazu regt an, aus dem Navigationströt den Plot eines Romans zu machen.* Fediversekollegin https://fnordon.de/@Mirabeaulacht fasst ihre Timeline regelmäßig in Tröts zusammen. Die Passage zitiert diese besondere Art von Tröt-Summary.

** Der inspiriernde Tröt stammt von https://infosec.exchange/@masek und wurde am 9. Januar 2025 gepostet. Und hier der Link zum besagten Tröt (danke fürs Erinnern, Frau SoSo)

Das Überfahren eines anderen Menschen in einem hektischen Moment im unaufhaltsamen Getriebe des gesellschaftlichen Miteinanders

Ich dachte 50? sagt der Mann. Seine Kreditkarte steckt im Tankautomat. Wir tanken unser Auto. Wir haben genug, passt schon, sage ich, drücke weiter den Tankrüssel, 55 Euro, 56 Euro und so weiter. Der Mann bleibt gelassen. Dennoch habe ich das Gefühl, dass etwas schief läuft, ich ihm zu nahe getreten bin im ewigen Weitertanken über die genannte Grenze hinaus. Das Gefühl habe zum Glück nur ich: Ich überfahre gerade einen freundlichen Menschen, der uns aus der Patsche hilft, habe ich den Eindruck und nun, da ich dies schreibe, einen Tag später, hoffe ich, dass es wirklich nur mein mieses Gefühl ist, nicht auch seins, denn so kommt die Welt aus dem Lot. Nachts drehe ich mich hin und her wegen des Ereignisses, wohl wissend, dass es geschehen ist und nicht mehr rückgängig machbar.

Der verflixte Automat aktzeptiert unsere Bankkarte nicht und wir haben nur noch wenige Liter im Tank, womöglich reicht es für 50 Kilometer, sagte Frau Soso. Das ist jetzt zwanzig Kilometer her. Ein kleines Dorf westlich von Bagnols-sur-Cèze. Nebenan tankt ein Mann, unser Mann mit der Kreditkarte, den ich  also fragte, ob er eine Tankstelle wüsste, an der man mit Bargeld zahlen könne. Klar, sagte er, Bagnols-sur-Cèze, da fahren sie die Straße runter, er gestikuliert Richtung Osten, bis zum Kreisverkehr, rechts ab, dann ist da eine Total. Da gibts noch echte Menschen. Fünfzehn Kilometer sind das. Und schon sehe ich uns eine bange halbe Stunde durch die Weingegend am Cèze-Fluss fahrend, immer wieder das Gepiepse der Tankuhr in den Ohren, hoffend, dass wir nicht stehen bleiben. Mein Hirn mahlt in dieser Sekunde Szenarien und wirft Fragen auf: Werden wir beim Trampen mitgenommen? Wie weit müssten wir wohl laufen, um einen Kanister Benzin aufzutreiben? Muss man diese modernen Benziner eigentlich entlüften, wenn man sie leer fährt? Ein Erlebnis vor einem Jahrzehnt kommt mir in den Sinn mit einem Ford, den ich mal bis zum letzten Tropfen zur Tankstelle brachte, volltankte, er nicht mehr ansprang, Benzinpumpe kaputt, zack 500 Euro.

Schon wollen wir los, da sagt der Mann, wir könnten über seine Karte tanken und ihm Bares geben. Wieviel, naja, 50 wird schon reinpassen, sage ich. Haben wir auch. Zeigen ihm das Geld als ob wir TrickbetrügerInnen wären. Hey, klasse, schon steckt er seine Karte ein, verifiziert, wir Tanken. Dann der ungute Moment, den vermutlich nur ich als ungut empfinde. Das Überfahren eines anderen Menschen in einem hektischen Moment im unaufhaltsamen Getriebe des gesellschaftlichen Miteinanders. Äh, moment, sie sind schon über fünfzig, wollten sie nicht … und ich sage, nene, passt schon, wir haben das Geld passend. Die Uhr stoppt bei 60,76 Euro und Frau Soso will ihm 65 geben. Er lehnt ab. Und eigentlich hätte ich die Sache in dem Moment gedanklich aus der Grübelmühle nehmen können. Aber so einfach bin ich leider nicht mehr gestrickt. Zumal es längst nicht mehr um die Sache selbst geht, sondern das dahinter stehende Grundgefühl.

Dass wir als Gesellschaft verachtlosen.

Tage zuvor eine sich ähnlich anfühlende Sache. Seit Stunden im Zug auf dem Weg in die Schweiz. Die R7 Karlsruhe-Basel ist wie meist proppenvoll. Ich sitze im Viererabteil und nebenan im anderen Viererabteil sitzt eine ältere Dame, die ihre Einkaufstaschen auf dem Nebensitz stehen hat und sich auch sonst recht breit macht. Die Beine ausstreckt, sich räkelt, gähnt, mit den Armen fuchtelt immer wieder. Mal liest sie einen Arztgroschenroman von Bastei, mal schläft sie oder stellt sich schlafend. Ein Mann mir schräg gegenüber hat seinen mutmaßlichen Enkel auf dem Schoß. Herzt ihn. Ein rührendes Bild und ich spüre die Sorge des Fremden, der seine Familie wahrscheinlich aus größter Bedrohung nach Deutschland gebracht hat. Ich trage den Urbandoo mit dem FFP3-Filter. Er zieht seinen Schal hoch. Die Frau, die den Sitz blockiert zieht auch ihren Schal hoch. Ich frage mich, ob das ansteckt, das Urbandoo-Tragen und ob ich Maskenträger Null bin. Der Initiator, von dem alles ausgeht. Es herrscht von Bahnhof zu Bahnhof reges Umtreiben im Zug. Leute rein, Leute raus. Viele stehen.  Über zwanzig Haltestellen. Der Sitz gegenüber der Frau wird frei. Der Junge nimmt ihn, baumelt mit den Beinen. Sie sagt, er soll die Beine ruhig halten, die kaum über die Mitte, die Grenzlinie im Abteil ragen, sie habe Angst, dass er sie tritt. Ohne, dass je ein Wort in einer Sprache fiel, spricht sie wie wir Deutschen nun mal mit vermeintlichen Ausländern sprechen, „Du nix treten, machen Aua“ oder so ähnlich. Ich schäme mich fremd. Freiburg. Noch mehr Leute. Der Mann mit Enkel hat einen Platz woanders gefunden. Gegenüber der Frau platziert sich ein Junge, recht groß. Seine langen Beine hält er bei sich, während die Frau ihre Beine immer wieder bis unter die gegenüberliegenden Sitze schiebt. Auf dem Schoß hat der Junge seine Freundin. Wie süß, könnte man denken. Oder: wie stillschweigend protestierend. Mach endlich den Platz frei, Frau gegenüber. Nichts passiert. Die Beiden räkeln hin und her. Die Einkaufstaschen voller Tand sitzen gut. Räkeln ist ein zu positiv besetztes Wort. Es ist mehr so wie mein Hin- und Herwälzen im Bett letzte Nacht. Der Mensch auf der Suche nach einer bequemen Position mit einem unsichtbaren Fundament aus Sorgen und Dünkel.

Ich hatte abgeschlossen mit dem Gedanken, zu intervenieren, die Frau anzusprechen, weil ich es übergriffig fand, die Polizei spielen zu müssen. Den Kapo. In Frieden mit mir selbst und im Grübeln über das Geschiebe zwischen uns Menschen, all unsere Konflikte, erreiche ich, erreichen wir den Badischen Bahnhof Basel. Sehr spät. Aus einer halben Stunde Zeit zum Umstieg sind zwei Minuten geworden. Wir drängen zu den Türen. Wir müssen alle runter zur Unterführung, rauf zum nächsten Gleis. Ein Junge drängt ganz nach vorn. Gutso, denke ich, der muss auch da rüber, das bremst den anderen Zug. Zwei Minuten bei leerem Bahnsteig sind gut machbar. Im Getümmel unmöglich. Ich werde unruhig. Schaffe es halbwegs in Würde und nicht drängend nach draußen, gehe schneller, dem Jungen hinterher, der wie ein Schneepflug eine Schneiße schlägt, die sich so schnell schließt wie eine panische Auster. Blockiert von Menschen. Drüben steht der Anschluss. Ich rufe, muss zum Zug, drängele, versuche mich durchzuquetschen, andere rufen, muss auch zum Zug, auf der Treppe eine Frau mit schwerem Koffer in Gegenrichtung, auf meiner Spur, für sie die Linke, für mich rechts. Schnauzt uns alle an, die wir ihr entgegen drängen, nein, sie schnauzt nicht, sie sagt eher etwas, wie ich bin auch noch da, so seien Sie doch rücksichtsvoll und ich sage, falsche Seite, gehen sie rechts wie es die Regeln verlangen. Beginne sofort, mich dafür zu hassen.

Die Fahrt war so ruhig und nun gerät wegen des Gedränges alles aus den Fugen. Völlig außer Atem erreiche ich den Zug. Wenn es nicht geklappt hätte, wäre ich nur zwanzig Minuten später mit dem nächsten Zug ans Ziel gekommen.

Verflixt liege ich also letzte Nacht wach und denke mich durch das Geschiebe aus Konflikten, Minimalkonflikte von sich begegnenden Menschen, die in einer Hatz-hatz-schnell-schnell-Welt aneinander vorbei reiben und das eine oder andere ruppige Wort fällt, der eine oder andere Sitz steht voller Einkaufstaschen, der eine oder andere schaut weg, blendet sich aus, dämmert dahin, lässt es geschenen, nicht einmal drüber nachdenkend, was gerade geschieht. Dabei wäre ich doch eigentlich in der Position, in völligem Frieden zu ruhen. Muss aber darüber grübeln, hier, nachts auf einem einsamen Weingut in der Garrigue …  ich könnte so sorglos schlummern und in halbwachen Phasen den Mond betrachten, wie er zur Sichel geworden ist am glasklaren mediterranen Himmel, begleitet von Sternen nichts denken, keine Sorgen wälzen, einfach nur sein.

Und habe das Gefühl, es hat System mit der Welt. Die innergesellschaftliche Reibung nimmt von Jahr zu Jahr zu. Wir werden einander pampiger, garstiger, schnell Schlag abtauschender als nötig wäre. Auf der ganzen Welt, im Internet. Überall wo Reibung möglich ist. Wir missverstehen und schieben aneinander vorbei. Achtsamkeit ist ein Stück Abfall geworden, Anstand ist anstößig, lieb sein böse.

In weiter Ferne mit einem gar nicht mal zu großen Puffer zwischen diesen noch als moderat zu bezeichnenden Reibungen im befriedeten Alltag liegen sie schon in den Schützengräben, greifen einander mit Drohne an, werfen Bomben, hetzen sich gegenseitig zu Tode – ein Muster, ein „Pattern“ ist es, das erahnbar ist und das unweigerlich seinen Lauf nehmen wird.

Moorlander lebt!

Das Bild zeigt eine junge Ackerfläche mit saftigem Grün, in die vom rechten Bildrand, an dem ein Hauch Teerweg zu erkennen ist, eine tiefe Reifenspur hinein ragt. Am hellen, diesigen Horizont stehen zwei kahle Laubbäume.

Dies ist – zumindest aus meiner Sicht – die spannende Geschichte, wie für 2025 doch noch ein Moorlander-Kalender entstand, obwohl ich das Projekt letztes Jahr eigentlich aufgegeben hatte. Nach einigen Stunden harter Gestaltungsarbeit mit Inkscape, Gimp und Scribus erblickte am gestrigen 26. Oktober ein erstes PDF als Druckvorlage das Licht der Welt. Euphorisch tat ich auf Facebook und im Fediversum folgendes kund:

Heiko Moorlander lebt! Nach dem katastrophalen Nichterscheinen des Moorlander-Kalenders 2024 wird es für nächstes Jahr wieder einen Kalender geben. Internationale Schlammkunst „Made in Palatinat“ und elsewhere. Wenn Du, der dies liest, einen haben möchtest, lass es mich wissen. Gedankt sei Frau Lakritze, Frau Sofasophia, Herrn SR-QQlka und den alten Kommunardinnen und Kommunarden der Walpodenakademie für den kleinen Tritt in den Hintern.

14 Blätter eines Monatskalenders sind in einem vierspaltigen Raster wie Polaroid-Fotos angeordnet. Unter den BIldern erkennt man die Dateinamen. Die einzelnen Blätter eines 14-seitigen Monatskalenders zeigen Traktorspuren und Reifenspuren, meist auf Feldern, manchmal auch auf Straßen. Unter den quadratischen Motiven sind die Kalendarien der einzelnen Monate zu erkennen. Das Titelblatt ist hochkant A4, eine Reifenspur in einem Neubaugebiet unter dem Schriftzug 2025 Moorlander.
14 Seiten des Monatskalenders Moorlander 2025 als Polaroid-Anordnung zur Ansicht.

Letzter Kick in den Hintern des Künstlers, moi même, war sicher der Besuch der Ausstellung „sein lassen“ des Mainzer Kunstvereins Walpodenstraße 21 (zu der ich auch ein Werk beitrug). Dort sprach mich Frau Lakritze an, was denn eigentlich aus Heiko Moorlander geworden ist und dass der aktuelle Jahreskalender stets ihre Küche ziert und die Besucherinnen und Besucher sie darauf ansprechen, sich wundern, mal geneigt, mal abgeneigt, so ist das mit den kontroversen Empfindungen der Kunst, und dass sie, Frau Lakritze den Kalender sehr möge. Sie würde drei nehmen.

DREI! Das ist doch schon fast eine Auflage. Mühe genug wert, sie sich zu machen, dachte ich. Und ging tags darauf das Projekt an. Kalendarium generieren mit dem Kalendariumsgenerator von Inkscape. Kannst ja mal was machen und in zwei Wochen biste dann fertig. Das Projekt 2023 lag noch in einem Verzeichnis als Scribus-Datei. Das ist ein Desktoppublishing-Programm. Ich glaube ähnlich wie ehedem Quark Express oder Indesign. Egal. Alles da. Ich kopierte es und tauschte die Kalendarien. Fehlten nur noch die Bilder. Und die Titel. Und Kleinigkeiten.

Wider Erwarten biss ich mich durch, ganz entgegen meiner Neigung, die Dinge erst einmal zu beginnen und sie dann wenn Probleme auftauchen, liegen zu lassen. Zwischen Bilderschuften und Euphorie schrieb ich im Fediversum:

… habe den heutigen Tag damit verbracht, den MudArt-Klassiker zu gestalten. 14 Seiten, Format A4, Spiralbindung, 15 Euro plus Versand. Sollte Ende November in Deinem Briefkasten sein. Infos über mein künstlerisches Alterego Heiko Moorlander (der alles hat, was ich nicht hab :-)) gibt es im Erdversteck https://erdversteck.de #MudArt #Konzeptkunst 

Sofort zwei Bestellungen mehr. Zack. Ihr ahnt gar nicht, wie sehr es einen Künstler, zumindest mich, beflügelt, wenn auch nur eine Person den Daumen hoch gibt. Dann ist es mir, jegliche Marktmechanismen ignorierend, schon Wert, eine Idee in die Tat umzusetzen.

Auf der Liegewiese eines Strandbads führt eine vertrocknete Schlammspur zwischen Baumstämmen auf ein liegendes Pärchen zu.
Ausschlaggebend für die Produktion des Monatskalenders Moorlander 2025 war auch dieses Motiv, „A Two River Romance“. Auf der Liegewiese eines Strandbads führt eine vertrocknete Schlammspur zwischen Baumstämmen auf ein liegendes Pärchen zu.

Im Nachhinein betrachtet muss ich sagen, war schon von Jahresbeginn an die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Moorlander 2025 entsteht. Immer wieder fotografierte ich geeignete Motive. Die Sammlung wuchs. Im Sommer ging ein auf den ersten Blick recht monotones Bild einer Spur auf Wiese zwischen Eichenstämmen ins Netz, aber ich wusste sofort, wenn es wieder einen Kalender geben wird, muss „A Two River Romance“ mit rein.

Es ist ja nicht so, dass es die Vorlagen in der echten Welt nicht mehr gibt, nur weil man aus Erschöpfung am eigenen Schaffen liegen geblieben ist, nein nein. Auch für das aktuelle, scheidende Jahr wäre genug „Material“ dagewesen, einen Kalender zu gestalten, aber die Kraft …

Auch das Titelblatt des Kalenders ist bemerkenswert. Es ist vom Motiv bis zur Schrift ein rein appspressionistisches Kunstwerk, sprich ganz und gar auf dem Smartphone gestaltet. Während einer Zugfahrt ging mir eine Neubaugebietsbaustelle am Hochrhein ins Netz, kein besonders gutes Foto, da durch die Scheibe fotografiert, aber die Fahrt war lang und ich „appte“ ein wenig mit Snapseed und plötzlich war das Kalenderdeckblatt fertig. Feinschliff gab es gestern mit Gimp.

Ich bin gerade sehr froh, dass ich die Mühe auf mich genommen habe. Werde nächste Woche einen Druck veranlassen.

Wenn Du einen oder viele Kalender haben möchtest, lass es mich wissen. Ich werde ihn auch in meinen Shop stellen. Der Shop ist übrigens eine weitere Baustelle, die ich demnächst angehen muss.

 

Die Löcher im Dach, der Bogenbau, das Dies und das Jenes

Die Merkwürden des Klimawandels lassen eine Wildkirsche zu liegen kommen neben drei vier Robinien. Oder unter drei vier Robinien. Oder mit ihnen verflochten wie ein Rattanmuster eines japanischen Samuraischwertgriffs, nur in groß. Sieht kompliziert aus, denke ich eines Sonntags, als wir einen Spaziergang entlang des Waldes machen und das Ensemble vor uns liegt. Ohne Spezialwerkzeug kann man das wohl nicht wegräumen.

Ein Problem mehr manifestiert sich im Kopf und wie um es zu untermalen, ruft ein paar Tage später der Nachbar an und macht mich auf das Problem aufmerksam, denn sein Wieschen am Waldrand ist dank des Baummassakers um ein paar Quadratmeter kleiner. Das Problem gesellt sich zu weiteren tragenden Langzeitproblemen in und ums einsame Gehöft. Marodes Dach an Mutters Häuschen, der bröcklnde Kamin und überall in den Scheunen und Hallen liegen Gegenstände, die anderen Menschen gehören. Menschen, die nur mal eben etwas abstellen wollten, das Abgestellte vergaßen oder starben und es hinterließen. Heizungsbauer H., der etwa in der gleichen Zeit wie mein Vater starb, hat ein riesiges Archiv hinterlassen. Uralte, stromfressende Pumpen, die einmal richtig teuer waren, noch unbenutzt. Armaturen und Rohrwerk, Werkzeug, metallisches und hölzernes Rohmaterial, für das man hin und wieder dankbar ist, um eines der vielen Löcher am sterbenden Gehöft zu flicken und den Abriss eine Zeitspanne lang zu verschieben.

Zudem der Nachlass von Journalist F., den ich nur ungern sichten mag. Zwar ist der Freund schon über ein Jahr tot. Dennoch, Gegenstände sind oft ein billiger Erinnerer an Katastrophen, die man einst miterlebte. Journalist F. hatte stets die Hoffnung, das Pflegeheim noch einmal zu verlassen und in einem betreuten Wohnen unterzukommen, weshalb ein Teil seines Hausstands nun in meinem Atelier liegt.

Längst schon wollte ich Journalist F.s Geschichte in diesem Blog aufgeschrieben haben. Seine letzten Jahre der Verelendung. Aber ich traue mich nicht ran. Überhaupt bin ich ziemlich blockiert seit ein zwei Jahren. Ist die Pandemie daran schuld? Das eigene kleine Älterwerden? Die Zipperlein, die damit einhergehen? Der Schmerz über die vielen Toten in der nahen Verwandtschaft? Seit zehn Jahren stirbt im Hause Irgendlink mindestens ein sehr nahe stehender Mensch pro Jahr.

Oder alles zusammen ein Bisschen? Konzentrieren wir uns aufs Älterwerden. Jedes Thema hat seine Zeit und dies ist vielleicht das Thema der zweiten Umwandlung. Die erste ist die Pubertät und es gibt eine zweite, die des von der Mitte des Lebens ins letzte Stückchen. Jene Zeit, in der liegen Gebliebenes aus Jahrzehnten kumuliert und sich zu einem unübersichtlichen Berg aufschichtet.

Multiple Probleme machen mich nachts um drei vier Uhr aufwachen und dann rattert die Gedankenmühle und ich räume rein gedanklich das Atelier auf, flicke Löcher im Dach, beschneide den Windschutz der Frau Mama, hole die Rattangeflechtsbäume von Nachbars Acker. Immerhin dafür gibt es einen guten Nebennutzen: Brennholz ohne Ende.

Ich wäre nicht Künstler, wenn in dem rattanähnlichen Problemgeflecht im eigenen Kopf nicht auch Fäden in die Kreativität führten. So schaue ich mir die Hölzer an und prüfe sie darauf, ob man zum Beispiel Bogen daraus bauen könnte oder andere schöne Dinge. Die Robinie ist zwar giftig, aber sehr gut geeignet als Bogenholz. In den letzten zwei Wochen konnte ich mit dem uralten Traktor, der sogenannten Hölle auf Rädern, etliche Touren zur Holzbaustelle machen und einiges der gefährlichen Situation mit Hilfe der Seilwinde und des 60 Meter langen Seils entschärfen. Mittlerweile liegt alles. Nun regnet es wieder und man kann mit dem Traktor, einem sechzig Jahre alten Porsche Super, nicht mehr auf des Nachbars Wiese, ohne sich tief in die Grasoberfläche einzugraben.

Einige liegende Stämme führen den Blick auf einen roten, uralten Traktor mit kleinem Anhänger zu. Im Hintergrund eine Baumreihe am Rad eines kahlen Achers.
Der Traktor namens ‚Hölle auf Rädern‘ im Einsatz bei der Pappelbaustelle.

Nachts wach. Nachtwachen. So kommt es, dass ich heute bis zehn Uhr schlafe. Das Wetter ist mies, zuvor habe ich vier fünf Stunden Probleme im Kopf gewälzt und mich im Bett. Ein paar Nächte zuvor, in ähnlicher Situation, bin ich um drei Uhr nachts aufgestanden, spülte Geschirr, bereitete Essen vor, sortierte Akten, schickte die Steuererklärung weg, räumte hie und da und bezahlte den Tag mit einen Gefühl unendlicher Müdigkeit. Gesund ist das nicht und über allem bricht auch der Rücken zusammen, merke ich. Das Innere wendet sich unweigerlich gegen den eigenen Körper und verschafft sich Gehör. Ich sollte einen Schnitt setzen … raus aufs Rad oder zu Fuß auf den Jakobsweg … aber erst will ich dies und das erledigt, die Löcher im Dach, der Bogenbau, das Dies und das Jenes erledigt … manchmal gerate ich in Flow, tagsüber, wenn ich arbeite und das ist gut so, denn dann laufen die Zutuns einfach ohne Widerstand und es macht richtig Spaß. Unendlich langsam komme ich voran und wenn ich nachts nicht so sinnlos darüber nachdenken würde, was noch alles zu erledigen ist, mich dabei in einen unangenehmen, verkrampften Wachzustand versetzen würde, könnte es richtig gut sein und gegen Weihnachten wäre ich mit allem zu Erledigenden fertig.

Wenn mir nicht neue Probleme einfielen, sie zu wälzen in der Nächte Sinn.

Das einsame Gehöft ist ein Fass ohne Boden.

Mein Kind-Ich fällt mir manchmal ein, wie es hie und da Arbeiten tätigte, die Scheune ausfegte, andere Kinder animierte, mitzumachen und die Welt in Ordnung zu bringen. Ich glaube, da wurde der Grundstein zum Kümmerer gelegt, der sich vorwiegend die Problemschuhe seiner Nächsten anzieht und hilft, einfach nur hilft.

Aber es gibt auch Positives. Ich denke auch an mich selbst hin und wieder. Schaffe derzeit wieder Kunstwerke. Bin mir jedoch nicht sicher, ob es sich um notgeborene Kunstwerke handelt, die ich aus dem Reich der Gegenstände, die mir nicht gehören, kreiere. Vergessene Gegenstände und Nachlässe. Gegenstände aus dem unendlichen Fundus auf dem einsamen Gehöft. Zinkrohr vom toten Heizungsbauer, das eine seltsame Plastik wurde. Dias, die keine Ahnung woher hierher kamen; schöne Schwarz-Weiß-Lehrdias aus dem Archiv Marburg, die einst zu Schulzwecken dienten, nun aber ein Lampenschirm wurden für eine nackte Stehlampe. Diese Stehlampe hatte Freund QQlka vor dreißig Jahren in einem verlassenen Haus mitgehen lassen.

Ein altes Kalenderblatt eines Holzschnitts von Martin Thönen kam mir gestern unter die Finger. Es lag lange Jahre hier, ich denke zehn, und es war für ein Col-Art Projekt gedacht, bei dem die Teilnehmenden solch ein Blatt neu übermalen oder was-auch-immern sollten. Nur hatte ich nie eine Idee. Gestern dann schon. Das zieselige Muster, das Martin aufs Oktoberblatt gedruckt hatte, hatte mich ganz schön herausgefordert, aber schließlich war klar, jede Art Kunst ist idealerweise auch eine Art Tanz, den die gemeinsam sich beflügelnden Kreativen tanzen und nun, nach all den Jahren ist mir ein ziemlich gutes Kunstwerk gelungen, das ich in die Sammlung meines Freundes Marc Kuhn geben würde.

Kurz nach zehn war ich vorhin wach, nachdem ich die halbe Nacht in Gedanken Dinge repariert hatte und Ausstellungen vorbereitet, Filme geschnitten, das Geschirr gespült, ich sollte reisen, denke ich. Das darf so nicht weitergehen. Diese Art Nachtschlaf ist Gift. Aporpos Gift: Ob man einen Sud aus Robinienholzspänen dafür verwenden kann, um den Holzwurm aus dem Gebälk der Atelierscheune zu vergrämen? Schaue Wetterbericht. Regen ohne Ende. Nächste Woche jedoch: brilliantes Herbstwetter mit Dauersonne und Temperaturen um 20 Grad.

Ich könnte das Saarland umradeln.

Und danach die restlichen Stämme vom Acker des Nachbarn ziehen.