Da hat sich das Blogbübchen wieder mal etwas ausgedacht: wie wäre es, wenn man beim Liveschreiben an jedem nur erdenklichen Ort stoppen würde und den Ideen freien Lauf ließe? Kurze Fetzen direkt gelebten Lebens, Fotos, Informationen, Notizen, Unreifes. Eine Menange a Cinques wie sie unverschämter nicht sein könnte.
Dass ich in meinem künstlerisch schreiberischen Wirken auf direktem Kurs in die gelebte Gegenwart bin, ist seit der literarischen Umrundung der Nordsee klar. Der Gegenwart dicht auf den Fersen. So lautet das Abenteuer. In „Ums Meer“ wurden die Liveblogartikel zeitversetzt, morgens nach dem jeweiligen Erlebnistag geschrieben. Trotzdem vermittelt das Buch den Lesenden einen gutes Livefeeling.
Gestern machte ich ein Experiment, mit dem ich mich noch ein paar Schritte an die Gegenwart herantasten möchte. Der Twitteraccount, den ich schon seit langer Zeit tot liegen habe, musste dafür herhalten. Ziel war, herauszufinden, wie sich das anfühlt, an jeder beliebigen Stelle einer Reise zu stoppen und das aufzuschreiben, was einem durch den Kopf geht. Wenn nix drin ist im Kopf, so beruhigte ich mich selbst, machste eben ein Foto. Ziel der Reise: der Saarlandrundradweg. Einstieg in Homburg, alle 2,5 Kilometer ein Foto der bereisten Strecke. Der Saarlandrundweg ist ein knapp vierhundert Kilometer langer Radweg rund ums Saarland. Ich hab ihn schon lange auf der Liste der zu erradelnden Strecken.
Nun folgt die Twitter Live Schreibe – an dieser Stelle möchte ich mich bei meinen drei Followern herzlich entschuldigen. Es muss schrecklich sein, alle halbe Stunde von einem Tweet belästigt zu werden. Jedoch, liebe Nachwelt, da musst Du genauso durch, wie durch die ersten rohen Liveschreibexperimente auf dem Jakobsweg. Ohne Anfang kein Ende.
Livereisetweet Nr. 1 Technik- und Methodentest: das Rad vorm Start. pic.twitter.com/J3RxvyRX
Das eingebundene Foto zeigt das Fahrrad mit dualer Stromversorgungslösung: Dynamo und Solarzelle laden die beiden Zusatzakkus, die das iPhone mit Strom versorgen. Die Aufregung ist groß. Obwohl ich im toten Twitteraccount nur drei Follower habe, bin ich mir bewusst, dass ich live am offenen Herzen der Literatur herum doktore. Ich stelle mir die Brüder Wright vor, wie sie mit ihrer selbst gebastelten Flugmaschine auf einen Hügel hinauf geackert sind und ihre ersten Flugversuche gemacht haben. Ohne sie könnte heute niemand nach Malle fliegen. Next Tweet.
Pixelmeißelei. Das ist es, was wir tun. Bauen Monumente aus Einsen und Nullen. Tasten uns langsam Richtung Endprodukt.
Geht mir schon lange im Kopf herum, dieser Spruch. Wenn die Gegenwart leer ist, lehrt der Liveschreibende, dann krame in den Tiefen der Vergangenheit nach halbwegs Verwertbarem und fülle sie. Ist wie Wege reparieren. Zu Teer gewordene Fossilien gemischt mit Split, festgewalzt.
Kirrberg durchradelt. Highnoonstiller Dorfmontag. Knallroter Scooter vor nem Haus Nr. 21. Hund kläfft nördlich. Via Rabenhorst n. Homburg.
Bei diesem Tweet bemerke ich, dass die Zeichenzahl limitiert ist, also abkrzn. was das Zeug hält. Bist hier nicht im Blog. Fasse Dich kurz, Mann.
Radelnd durch das Waldgebiet nördlich von Homburg hangele ich mich weiter durch Zeit und Raum. Über die Tweets
Eigentlicher Startpunkt des heutigen Urban Artteets: Saarlandrundweg Homburg. pic.twitter.com/An9PMSqP
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Unbedingt Brille zum Twittern. Urban Arttweet. Country Arttweet? Kann eine Radeltour getwittert werden? Werde gegen den Uhrzeigersinn radeln
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Alle 2.5 km ein Foto des Saarlandradwegs. Kunststraße oder Artline nennt sich das Konzept.
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Bruchhof. Spätsommerradkappenwäsche und nichtartgerechte Haltung von Bauarbeitern. Der Artist in Motion fährt den Denkreaktor hoch.
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Akribisch putzt Frau Blumenkasten. Installateur flucht im Duett. 7.5 km seit Homburg. Gutbeschildert im Wald pic.twitter.com/Xehk87nD
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Jägersburg. Mann streicht Zaun. China Sack Reis. Müllabfuhr Gustavsburg.
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Umkehrpunkt 12.5 km seit Homburg. Waldweg Richtung Höchen. Erstes Twitter-Liveschreibexperiment heute. Artist in Motion radelt nun retour
twittere und fotografiere ich Zwölfeinhalb Kilometer auf dem Saarlandradweg. Einer der letzten warmen Tage des Jahres. Ist das ein Anfang? Ist der Weg ins Tweeten, ergänzend zum Livebloggen der richtige? Ich stecke zu tief in der Materie, als dass ich mir ein Bild machen könnte. Ich bin zu sehr am Startpunkt, als dass ich den Endpunkt sehen könnte.
Abends surfe ich auf Youtube durch Jakobsweg-Filme. Überlege, im Winter wieder nach Santiago zu laufen. Ein Vergleich der alten Texte mit den Ums Meer Livetexten macht selbst mir, Teil des Systems, bewusst, wie sehr die Entwicklung voran geschritten ist. Wieso sollte nicht alles noch besser werden? Bzw. die Dinge können nur dann besser werden, wenn man sie auch angeht.
mein ambivalentes verhältnis zu twitter kennst du ja, aber das hier gefällt mir trotzdem. vor allem die nicht artgerechte menschenhaltung … go on, tweetie :-)
Feine, postmoderne Idee, gefällt mir gut. Twittern war ja nur eine Übung, das würde sich als Blogreihe viel besser machen. Ich bin gespannt.
Deine Metapher vom Meißeln der Pixel finde ich augenöffnend, richtig toll. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Ganz liebe Grüße von der ganzen Mischpoke aus Cley-next-the-Sea
Klausbernd :-)
Für mich klingt das nervig- aber wenn es Dir Spaß macht?
Nuja, Spaß? Ohne Neugier nix Neues. Man muss auch den kranken Weberfindungen Aufmerksamkeit zollen. Bloggen war einst auch als krank stigmatisiert. Dennoch habe ich bei Twitter und Facebook immer dieses Gefühl, dass es sich um kollektive Massenverzweiflungstaten handelt (hei, das Wort gefällt mir – ob ich es soeben erfunden habe? Massenverzweiflungstat. Gleich mal meinen mittlerweile vier Followern erzählen :-)
Schmunzelnd in die Nacht.