Der imaginäre Sklavenwald von Watten

Der Trend scheint in Richtung mobiles Büro zu gehen. Die meisten Dinge, die Mensch heutzutage machen muss, um seinen Job gut zu machen, sind kommunikativer Natur. Und kommuniziert wird per Mail und Telefon. Also per Computer. Längst hat die Künstler-Standard-Arbeit wieder begonnen. Das iPhone vor mir auf der Isomatte, dazu die Bluetooth-Tastatur, schreibe ich diverse Mails, um die LA Ausstellung vorzubereiten. Die Sache wird verdammt eng. Bis 10. August muss das iPad mit der fertigen Kunststraße als fünfminütige Rapidfire-Präsentation in Kalifornien sein. Ich kümmere mich um die Finanzierung und die Technik zugleich. Mein lieber Freund Steph in Paris schlägt JQuery und Ajax vor, wovon ich nur ungefähr weiß, was es bedeutet. Herrjeh, zurück im Reich der Quelltexte. Schon erhalte ich nächtliche Mails, dass er an einer Sache arbeitet, in die ich nur noch die Bilder integrieren muss. Puuh. Meine momentane Einschätzung, dass LA klappt, ist weit geringer, als meine Einschätzung vor drei vier Monaten, dass ich die Runde ums Meer schaffe.

Die Zukunft ist zehn Zentimeter von meinem Kopf entfernt. Wenn ich den Zeltreißverschluss öffne, gehts los. Was werde ich als erstes tun? Schuhe an, Zähne putzen, Taschen packen. Je weiter ich mich voran denke, desto unschärfer wird mein Bild. Wie mit Lesebrille betrachtet. Boulogne etwa vierzig Kilometer. Sinnigerweise bin ich in einem Dorf namens Mont. Das heißt Berg. Die Gegend ist hügelig geworden. Ganz unterschwellig, und ohne, dass ich etwas davon bemerkt habe. Die Zukunft, so nahe sie sein mag – je weiter man versucht, sich in sie hineinzudenken, desto unschärfer wird sie.

Töricht, zu glauben, der Weg sei vorbestimmt. Zu behaupten, es gäbe Schilder, denen man nur folgen muss. Belgien zieht sich. Als ob die pfiffige, imaginäre belgische Verkehrsministerin Annick K. einen künstliche Landesverlängerung beabsichtigt hätte, führt der wohl unbekannteste Teil des Nordseeküstenradwegs kreuz und quer durchs Land. Nur einmal, in Nieuwpoort, berührt die Strecke, deren Verlauf ich folge, die Küste. Wenn man vom Landesinneren Richtung Nordwesten schaut, bauen sich kilometelang Gebäudezeilen entlang der Küste auf. Zehn oder zwölfstöckige Gebilde. Vermutlich Hotels. Wände voller Menschenwesen im Dunst eines heißen Sommertags. Angstmachend. Ich sollte mir das von Nahem betrachten. Aber ich habe keine Zeit. Und keine Lust. Jener Sonntag, an dem ich das Land durchradele – den belgischen Nordseeradweg kann man tatsächlich in einem Tag schaffen – ist vermutlich auch der Nationalfeiertag. Alle wollen zu Küste. Das mit dem Feiertag habe ich auf einem Plakat gelesen irgendwo. So bleibt mir das Inland-Belgien mit seinen Kanälen und Alleen und Getreide- und Maisfeldern.

Mittags rufe ich Monsieur Quehen an, im Rathaus in Boulogne, und wir verabreden uns für Dienstag, 16 Uhr. Ob Frau Hingrez auch zu dem Treffen kommt, ist unklar. Nach dem Regierungswechsel in Paris, ist der Oberbürgermeister der Stadt Verkehrsminister (!) geworden. Und Frau Hingrez, die vormalige Städtepartnerschaftsbeauftragte, ist nun Oberbürgermeisterin. Alle Hände voll zu tun mit dem Fischerfest.

In meinem politischen und gesellschaftlichen Erleben Europas und der Welt klafft eine fast vier Monate große Lücke. Nur am Rande höre ich Horrornachrichten aus Syrien, aus Griechenland, muss in Schottland und Skandinavien bei jedem Geldabheben um den miserablen Kurs bangen. Mit Mühe erfahre ich Tage später, wer Europameister geworden ist. Mit der täglich flexiblen Straßenzukunft ist eine unscharfe gesellschaftliche Gegenwart einher gegangen. Ich lebe in meinem eigenen Kokon. So hat es Henriette auf dem Zeltplatz Beer Ostie skizziert. In der Tat hat sie ein wunderbares Foto gemacht: Künstler im Schneidersitz vor Zelt, es wirkt wie eine Schutzburg, wie ein Kokon. Wir alle leben in unseren eigenen Kokons, sage ich. und manchmal teilen wir sie miteinander. Metamorphierende Wesen in den wilden Wogen zwischen Zukunft und Vergangenheit.

Hatte ich vor knapp vier Monaten geglaubt, die Nordseerunde zu schaffen? Ja. Die Wahrscheinlichkeit dafür, es zu schaffen, habe ich aber nur auf wenige Prozente geschätzt. Habe die unglaubliche Länge an Zeit und Kilometern – das ist ein Kunstgriff, um das eigene Gemüt und die Angst zu besänftigen – in Einzelstücke zu drei Wochen zerdacht. Somit war ich immer nur drei Wochen lang unterwegs. Musste mir das Monster nicht vorstellen. Der Trick hilft auch bei langen Tagesetappen. Versuche nie, dir hundertfünfzig Kilometer weit vorzustellen, denke in Zwanziger-Schritten.

Der französische Teil des Nordseeradwegs ist noch unbekannter, als der belgische. Er führt im Landesinnern etwa zwanzig Kilometer von der Küste entfernt bis nach Boulogne-sur-Mer. Hinweise auf den Weg habe ich nur zweimal gefunden: In der Open Cycle Map ist er verzeichnet und an der Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden auf einem von der EU finanzierten Schild. In Frankreich gibt es kaum Radwege. Meist radele ich über ruhige Landstraßen. An den Kreuzungen stehen längliche Schilder, grün auf weiß, mit der Aufschrift Noordzeeroute. Französisch Flandern. Rings um Dünkirchen. Später sind die Schilder mit Route du Mer (Nachtrag: Sorry, muss natürlich de la Mer heißen) du Nord bedruckt.

Künstlerin Michelle, die die Küste in der Gegend in- und auswendig kennt, hatte mich auf dem Camping Beer Ostie vor dem Kanaltunnel gewarnt. Versuche bloß nicht, in der Nähe des Tunnels zu zelten. Der Tunnel zieht Menschenschlepper an. Sie setzen ihre „Ware“ in der Nähe ab, behaupten, von nun an sei es ein Leichtes, nach England zu kommen durch den Tunnel, und überlassen sie ihrem Schicksal. Dementsprechend desperat sind die Leute. Sie verstecken sich in den Wäldern. Und entsprechend hoch ist auch die Polizistenquote. Die französischen Flics sind nicht gerade bekannt für ihre zarte Hand. Mit einer eigenartigen Vorstellung erreiche ich das Städtchen Watten. Windmühle, Schloss, Kanal, und um 19 Uhr verdammt ausgestorben. Dahinter im schrägen Sonnenlicht schimmern die ersten Wälder. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich genau bin, und wo der Tunnel beginnt. Auf der OpenCycleMap im iPhone ist nichts zu erkennen. Nur rote und blaue Linien, die die Radwege zeigen. Dichter Wald. Insektenschwere Luft. Hitze. Dünkel. In meiner Vorstellung braucht man nur wenige Meter ins Dickicht zu gehen und man findet wilde Lager mit zerlumpten Menschen, die zehntausend Kilometer von daheim entfernt sind und nichts mehr zu verlieren haben außer ihrem Leben, und die zu allem bereit sind für etwas zu essen. Einsame Hunde vor noch einsameren Gehöften, wild knurrend, schüren meine Phantasie. Europas Sklaven! Hier leben sie also. In Verzweiflung und außergesetzlich bereit, ausgebeutet zu werden. Hoffentlich irre ich mich.

Mit einem Mal kratze ich am Irrsinn meiner Reise: da nimmt sich einer die Freiheit, vier Monate aus dem Alltag auszusteigen, kratzt all sein Geld zusammen, das er mühsam verdient hat und schaukelt trallala singend durch die Welt, während weiß Gott fast überall auf dem Planeten Menschen verhungern, zu Krüppeln werden, elend an Krankheiten verrecken, die man mit ein paar Euro für Medizin ganz prima heilen könnte. Und du haust das Geld raus, dass es nur so eine Art ist. Fürs Privatvergnügen. Für die ach so etepetete Kunst, für Kopfgespinste, für deine eigene, kleine, egoistische Vorstellung von einem Schloss aus Zucker.

In einem Dörfchen passiere ich zig Carports voller Mercedese und Audis, die Zweitwagen am Straßenrand – schlimmeres gibt es immer und besseres auch und irgendwie steckt man stets dazwischen.

Bis zum Dörfchen Mont radele ich, kaufe in einer spät noch offenen Epicerie Milch und eine Dose Bier. Man empfiehlt mir den örtlichen Camping, gleich um die Ecke. Minutenlang stehe ich vor der Schranke und überlege, ob ich mir das antue. Zwei Fußballmannschaften Kinder tollen auf dem Spielplatz im Zentrum des Geländes. Mein Trauma der bis zwei Uhr nachts nervenden Kinder in Schleswig-Holstein.
Müde bin ich. Die Beine schwer. Drei Tage a 100 bis 130 Kilometer liegen hinter mir. Und im Kopf installiert habe ich das fikive Bild von Europas desperaten Skalven. Zwölf Euro kostet der Platz. Nun habe ich nur noch einen Euro in der Tasche.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Eine Antwort auf „Der imaginäre Sklavenwald von Watten“

  1. am irrsinn deiner reise kratzen, hm. ich kenne das. ich kratze oft genug am irrsinn des lebens. und ja, nur schon das eigene leben in unserer wohlstandsgesellschaft zu leben, als nicht-reisende wie du, ist doch – sind wir ehrlich – ähnlich egoistisch wie deine reise.
    ein paradoxon.
    nein, lösungen habe ich dazu auch keine.

    dies einfach: du hast uns vier monate lang nicht nur unterhalten, sondern uns auch einiges beigebracht. über land, leben, leute und dass es möglich ist, etwas zu tun, was man sich vorher nicht zutraut. du hast meine grenzen geweitet. und ich ahne, dass ich da nicht die einzige bin.
    ich bin dir dankbar, sehr, trotz des vermissens und alledem. aber das weisst du ja.

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