The Morbaek Plantage Massacre

Der Unterschied zwischen Mensch und Tier?

Wie ein Strudel saugt das Alltagsleben. Ich muss an die Zeichentrickserie Wickie und die starken Männer denken, so komisch das klingt, jene Szene, in der das Wickingerschiff auf hoher See in einen Strudel gerät, unweigerlich dem Untergang geweiht. Wickie hat eine Idee. Wie üblich.

Mit fünfzehn Stundenkilometer rolle ich meinem alten Alltagsleben entgegen. Per Telefon und E-Mail trudeln erste Warnungen ein, so dass ich mir um eine Resozialisierung Gedanken machen muss. Bin ich überhaupt resozialisierbar nach so langer Zeit und nach all den Erlebnissen? Im Süden Norwegens und Schwedens auf den schlechten Radwegen hatte ich noch gescherzt, dass das Radeln auf nasser Straße mit dem schneidenden Geräusch von Allwetterreifen auf Asphalt nur dazu dient, mich wieder an Menschennähe zu gewöhnen. An das alltägliche Gemetzel aus Terminen und Unabdingbarkeiten. Wie weit darf man sich ohne Gefahr davon entfernen? Du wirst Dich verändern, sagte Kommentator Stefan und er muss es ja wissen, hat er doch vor einiger Zeit eine 6000 km-Radeltour durch Europa gemacht. Das Problem an der eigenen Veränderung ist, dass man es selbst gar nicht merkt, weil es langsam geht.

Ein Tier will nur fressen und schlafen. Es baut weder Luftschlösser, noch entwickelt es Sehnsüchte. Derart einfach gestrickt bleibt einem Tier auch jegliche Sorge um die Zukunft erspart. Wahrscheinlich nimmt das Tier Zeit überhaupt nicht wahr. Es kennt nur den Hunger. So ähnlich funktioniert der Idealkünstler. Er kennt nur den Hunger nach Neuem. Er sucht danach, findet es, betrachtet es, lässt es zurück, nachdem er es durch die Maschine gejagt hat.

Ewige dänische Dünen, von graugrünem Gras bewachsen, Krüppelkiefernwäldchen, hinter jedem Hügel ein Ferienhäuschen – der zwei Meter breite Radweg schlängelt sich zig Kilometer weit durch die malerische Küstengegend nördlich von Esbjerg. Ein Traum von einem Radweg. daran rüttelt kein Windchen etwas. Ich bin nicht fit, schleppe mich voran bis in die Mittagszeit – wenn ich alleine radeln würde, würde ich mich auf unbestimmte Zeit in die Sonne legen und vor mich hindösen, aber Ray macht mit demonstrativem Plastiktütenrascheln darauf aufmerksam, dass er langsam unruhig wird. Das Leben mit Menschen ist grundsätzlich ein Kompromiss. Wer keine Kompromisse eingehen will, muss alleine bleiben. Wie ein Tier. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Nachdem alle Plastiktüten zu Ende geraschelt sind, fordert mich Ray auf, lets go. Der Startschuss.

Nun gibt es kein Ignorieren mehr der unterschwelligen Aufbruchsaufforderungen. Ich frage mich, ob das eine Einbahnstraße ist mit den Kompromissen, dass der Schnelle grundsätzlich den Langsamen dominiert – aber dann wird mir klar, dass es egal ist, von welcher Seite man die Kräfteentwicklung betrachtet. Der Langsame bremst den Schnellen und der Schnelle zerrt am Langsamen. So ist das auch auf deutschen Autobahnen. Der Schnelle drängt lichthupend, dicht auffahrend, den Langsamen, der Langsame blockiert stoisch den Schnellen. Es geschieht jetzt, es geschieht immer, es ist ein geradezu natürliches Schauspiel, das die Wollenden und die Nichtwollenden auf der offenen Bühne des Alltags vollführen. Es frisst sich in alle Lebensbereiche.

Paar Tage her, dass ich jenen riesigen Hund sah an einer zwanzig Meter langen Leine vor dem versunkenen Leuchtturm, wie er das Frauchen hinter sich her zerrt, die Nase stur im Sand. Ein wunderbares Bild. Eine Sekunde zu spät betätige ich den Auslöser der Nikon, sonst hätte ich Hundchen links, Frauchen rechts, Leuchtturm in der Mitte und die Leine zum Zerreißen gespannt. Das Leben wartet nicht auf die einen hundertfünfundzwanzigstel Sekunde lang offene Blende eines dahintreibenden Künstlers.

Da ich nachmittags auf einer Parallespur des Lebens dahin radele, mehr dösend, als wach, baldowert Ray einen Wildzeltplatz aus, fragt sich durch in ein Wäldchen namens Morbaek Plantage, wo angeblich niemand etwas dagegen hat, wenn man sein Zelt dort einfach aufbaut und vielleicht gibt es dort sogar einen Shelter. Noch fünfzehn Kilometer bis Esbjerg. Wir bauen auf weichem, trockenem Moos auf. Das Wäldchen ist ein Naturreservat. Ich bin zu müde, um mich zu widersetzen – normalerweise meide ich solche Gebiete.

Nachts Regen. Morgens ist Rays fünf Kilo schwere Frontpacktasche weg. Unglaublich. Das fest verschlossene Ding einfach geklaut. Die unabgeschlossenen Räder stehen noch auf dem Waldweg. Wer klaut eine schmutzige Packtasche voller Lebensmittel und lässt zwei Tausend Euro-Fahrräder stehen? Nur ein Tier tut so etwas. In England wurde mir nördlich von London auf dem Campingplatz Lee Valley eine Lebensmitteltasche aus dem Zelt gestohlen, vermutlich von einem Fuchs. Nur fünf Minuten lang hatte ich das Zelt verlassen, den Reißverschluss offen. Du musst denken, wie ein Fuchs, wie ein wildes Tier, wenn du die Tasche wieder finden willst. Wildtiere halten sich nicht lange mit Formalitäten auf. Die Tasche muss in unmittelbarer Nähe vom Zelt sein. Im dichtesten Gestrüpp erkennen wir Plastiktütenfetzen, die Butterdose, Papier, schließlich die ganze Packtasche, unversehrt, nur die Aprikosen hat das Vieh mit den schlauen Pfoten zwischen Abdeckung und Tasche herausgefummelt. Die Aprikosen, ein Stück Butter und ein Haufen Plastikfetzen. Das Tier lauert vermutlich im Gestrüpp, beobachtet uns, die wir Futter haben. Das Morbaek Plantage Massacre, titele ich scherzhaft.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

5 Antworten auf „The Morbaek Plantage Massacre“

  1. Ob in ähnlichen Szenarien manche Opferzeremonie ihren Ursprung hat?

    Es muss aber schon ein starkes und kluges Tier gewesen sein. Würde ich es jetzt skizzieren, sähe es aus wie ein Grüffelo….

    Lieber Irgendlink, juhuuu, ich erwische Dich noch in Dänemark. Heute bin ich Wohnungssuchenhelfende bei Freunden, die viele Sprachen sehr gut sprechen außer deutsch. Deshalb hier nur so kurz.
    Wünsche Dir gutes Weiterradeln, dass keine gefährlichen Wesen Deinen Weg kreuzen und gutes Kunstweitermachen.
    Schalom,
    frau f

    1. FF, lass uns mal ein Ferienhäuschen in der Gegend mieten, Du und der Herr Hauptstadtethnologe, die SoSo und ich. Dänemark hat das meiste Meer der Welt.

  2. dänemark hat das meiste meer … schöner gedanke (gibt aber nochpaar andere mit am meisten meer ;-)). hach, auf diesen urlaub freue ich mich schon sehr. irgendwie zeichnest du da ein dänemark, das mir richtig lust macht, es zu entdecken.

    ja, irgendwo sind wir doch immer irgendwelche einflüssen, die an uns ziehen, ausgesetzt. ob tier oder mensch. zuerst bei der erfüllung der grundbedürfnisse – aber schon gehts weiter. das mit den kompromissen kennen wir ja beide auch von unseren alltagen und reisen. irgendwie setzt der kompromiss ein gerüttelt‘ mass an bereitschaft und ähnlicher chemie voraus. sonst faulen sie, die kompromisse und fangen an zu stinken.

    ich finde, du hast das gut auf den punkt gebracht. und ich hoffe, du findest jeden tag, was immer du brauchst und dir gut tut.

  3. Seid ihr wohl Opfer von Waschbärn geworden … besser jedenfalls als Opfer von Roybärn zu sein.

    (Wenn ich jetzt zeichnen könnte, hätte ich einen Roy-Bärn gezeichnet: Ein Koala von der Größe eines Grizzlys, das Gesicht von Roy Black, den Hintern von Bud Spencer, die Stimme von Käpt’n Blaubär).

    Oh ja, der Clown war lecker …

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