„You are the boss“, sagt Ray und weist generös mit den Armen auf den Platz am Kopfende des Tisches. Camping Klim Strand ist riesig, gut ausgebaut und hat ein schnelles, offenes Netzwerk. Hier wäre gut livebloggen, aber wir machen nur einen Mittagspausenstopp. Im Servicehaus mit Schwimmbad, Kinderbelustigung und Shop steht vor der Rezeption ein acht Meter langer Holztisch mit wuchtigen Vollholzstühlen. Wunderbar bequem. Der Junge im Shop hat nichts dagegen, dass wir uns an den Tisch setzen, einen Kaffee trinken und unsere eigenen Lebensmittel auspacken. Ich setze mich Ray gegenüber an den Platz neben dem Kopfende. Mag nicht Boss.
Jene Szene kommt mir in den Sinn, paar Kilometer zuvor auf einem unbefestigten Weg, nebeneinander radelnd, beide auf Pfützen und Schlaglöcher zusteuernd, nur in der Mitte des Wegs auf der Grasnarbe kann man ungehindert passieren und wir streben beide dahin, aber es ist nur für einen Platz. Wehret dem Männlein! „Ist ja wie bei Robin Hood“, lache ich Ray zu, „kennst du die Szene, in der er Little John kennen lernt: beide wollen über die gleiche kleine Brücke und keiner will dem Anderen den Vortritt lassen. Also kämpfen sie mit Stöcken.“
„And who are you?“, fragt Ray.
„Robin, und du bist auch Robin“, sag ich.
Wir radeln gleichzeitig durchs Nadelöhr, eine halbe Pfütze pro Person und je ein halbes Schlagloch. Ich muss an Klausbernds psychologische Betrachtung Sherlock Holmes‘ denken, die er vor fast zwei Monaten in seinem Blog veröffentlicht hat (Link). Eigentlich kann man fast allen Helden der Legenden und der Literatur derart auf den Zahn fühlen (inklusive Herrn Irgendlink, würde mein Alterego der Zukunft, Knildnegri, wohl sagen).
Außer dem Shop beim Campingplatz finden wir an diesem Tag keine Möglichkeit zum Einkaufen. Erst in Hanstholm, am Abend gibt es wieder Läden. Es dürfte ziemlich genau zwanzig Jahre her sein, dass ich die seltsamste aller Städte per Radel erreicht habe, um mit der Norröna nach Seydisfjördur in Island überzusetzen. Somit schließt sich ein Kreis. Ich kann mich kaum noch erinnern an damals, aber ich weiß noch, dass mir Hanstholm sehr seltsam vorkam. Stadt mit Bunkermuseum. Was den Schluss zulässt, dass das Leben unter der Stadt stattfindet :-).
Von Süden kommend durchradelt man ein Vildtreservat, bestehend aus Dünen. Den Radweg zwischen Klitmøller und Hanstholm direkt neben der Straße gab es damals noch nicht. Überhaupt hat sich vieles verändert in mir und außerhalb von mir. Die junge „Stierigkeit“ hat sich gelegt. Das Unbedingt-voran-kommen-wollen, das Ziel-fest-ins-Auge-fassen. Man könnte sagen, das Leben hat mehr Qualität, wenn man nichts beweisen muss, wenn man keine Termine wahrnehmen muss, wenn man sich generös ausklinkt aus dem, durch die männlich menschliche Natur vorgegebenem Stress beim Rangeln um imaginäre Alphapositionen. Das Zwillingspfützen-Schema jedoch beweist, dass man sich dem nie ganz entziehen kann. Es ist, als stelle die Natur uns Männern immer wieder solche Nadelöhre bereit, nur, um uns auf die Probe zu stellen, wie weit wir uns von unserem primitiven Männleinsein schon fortentwickelt haben.
Hanstholm ist wie ausgestorben. Einsamer Aldiladen, mürrische Kassiererin. Das Ding hat so gut wie immer auf und ich frage mich, ob die Aldis im Ausland die gleiche Position vertreten, wie die Aldis in Deutschland – Aldimonster an der Kasse zu züchten – früher, als es noch keine Scanner gab, fiel die Kette dadurch auf, dass die KassiererInnen, meist Frauen, so schnell die Preise tippten, dass man mit dem Wegpacken der Ware nicht nachkommt. In keinem anderen Laden war es so dramatisch, olympiaverdächtig schnell, wie bei Aldi. Ein eher fragwürdiges Alleinstellungsmerkmal – hast Du je den gehetzten Blick dieser Spezies Kassenmensch gesehen? Ich glaube, Arnold Schwarzenegger muss in Aldiläden für sein stählernes Vollstreckergesicht trainiert haben.
Der Laden passt irgendwie zu Hanstholm, das sich weit verteilt über die Dünen, Leuchtturm und Beton. Bunker. Aber kein Leben zu finden, kein Zentrum, keine Altstadt. Schon damals nicht, als ich nur hindurch hetzte, um die Islandfähre zu kriegen. Aus Nostalgie fahren wir zum hässlichen, leeren, kalten Hafen. Da nützt die schönste Sonne nichts, Hanstholm ist eine Art Kältepol auf dem Küstenradweg. Ich entschuldige mich bei Ray, dass ich ihn die zwanzig Höhenmeter hinunter gelotst habe, nur damit ich sehen kann, wo ich damals eingecheckt habe. Sie haben eine Landungsbrücke gebaut, glaube ich, und auf der Kaimauer liegt ein Kieshaufen. Ein Kreis schließt sich und ich fühle dabei keine Befriedigung. Nichts. Nur über den nagelneuen Radweg Nummer 1, südlich die Stadt verlassend, freue ich mich. Den wellenförmigen Hügeln folgend führt er neben der Straße bis nach Klitmøller.
Der Shelter, den wir angepeilt hatten, liegt mitten im Naturreservat, nur über die alte Radelstrecke erreichbar, die weiter östlich verläuft, so dass wir daran vorbei rauschen und in Klitmøller einen Radler fragen nach einer Alternative, aber er weiß nur über die Campings Bescheid, zwei in der Stadt. Klitmøller ist zwar auch weit verteilt in der Gegend, um das mal so salopp zu sagen, aber es ist ein Zentrum erahnbar, einen Laden gibt es. Die Stadt wirkt heimelig. Menschen auf Abendspaziergang. So erreichen wir gegen 21 Uhr den Nytrup Camping, bauen auf Platz 15 auf, direkt neben einem einsamen Kerl mit knallrotem Porsche Carrera, an dem ein Deutschlandfähnchen neben einem Dänemarkfähnchen daran erinnert, dass die Fußballmännleins europaweit angetreten sind, um den Alphastatus neu zu ermitteln.
Trübe Gedanken, dass ich ein ziemlich schwieriger Radelpartner bin mit all dem Schwung nehmenden Kunstzeugs, Fotos hier, Fotos da, und die Ruhe weg, auch wenn sich die Sonne dem Horizont neigt. Ich weiß nicht, ob ich mit mir selbst eine Radeltour machen würde. Unsichtbar spüre ich eine Art Band zwischen mir und Ray, der fast immer schneller ist, fast immer vorweg fährt und ich habe das Gefühl, ihn auszubremsen, weiß nicht, wie weit ich gehen darf – muss ich die Reise als pure Kunstarbeit sehen? Wie käme er voran, und wie ich, wenn wir nicht miteinander radeln würden? Wenn er nicht ständig auf meine Fotostopps warten müsste? Wieder einmal stehe ich vor der Frage, wie weit ich gehen darf, wie groß das Opferlamm sein darf, das ich auf dem Altar der feinen Künste schlachte.
(sanft redigiert, mit Link bestückt und gepostet von Sofasophia)
ich fragte mich schon, wie es zwei nicht-alpha-tierchen-sein-wollende miteinander haben. bestimmt rangelt ihr stattdessen um den omegastatus ;-)
das opferlamm der feinen künste – wie groß es sein darf? gute frage. habe keine antwort höchstens: klar wissen, was du willst. und reden miteinander. herausfinden, was ihr wollt.
radelt gut weiter heute, bei sonne, wind und meer :-)
Also ich glaube, das siehst du viel zu negativ, das mit dem Opferlamm und so… Wenn Ray sich durch dich ausgebremst fühlen würde, dann hätte er das Band zwischen euch beiden doch längst zerschnitten und wär dir einfach davongebraust. Wahrscheinlich tust du ihm aber genau so gut, wie er dir, und er freut sich, dass er nicht mehr alleine radeln muss. Ich denke, du brauchst da überhaupt kein schlechtes Gewissen zu haben! :)
Tolle Fotos übrigens, mal wieder! Schwer Fernweh verursachend! ;)
Dir eine schöne Fahrt, komm gut voran mit der Kunst und auf deinem Weg, und hab viel Spaß dabei,
liebe Grüße, auch an Ray und an die Homebase,
Andrea
Ach, du lieber Irgendlink, was bin ich froh, dass du das erwähntest mit den Kasserinnen, die schneller eintippen, als man die Waren wieder in seinen Wagen oder Tüten packen kann. Ich dachte immer, das sei ein Zeichen meines Alters – da bin ich ja beruhigt.
Von der knipsenden Dina und den beiden Buchfeen Siri und Selma herzliche Grüße und gutes Radeln, von mir herzlichen Dank für den Link und feinstes Wetter und easy Vorankommen
Liebe Grüße aus dem hochsommerlichen Cley
Klausbernd :-)
das kann doch Ray entscheiden und da er sich bislang noch nicht gegen dich entschieden hat, scheint mir hier alles in Ordnung… don`t worry… gutes radeln, gutes wetter und einen guten weg
herzlichst frau blau
Nachtrag zu Helden:
Bert Brecht schrieb es – ich glaube in „Flüchtlingsgespräche“ (und zitiere dazu noch aus dem Kopf) – wohl dem, der in einem Land wohnt, das keine Helden braucht (kann auch aus „Mutter Courage …“ sein, oh dear, dennoch, eine treffende Aussage, nicht?!)
Ja, auch von mir liebe Grüße, lieber Irgendlink.
Ich fotografiere mir gerade die Finger wund, das Wetter ist optimal, das was ich Dir so sehr gewunscht habe als Du in Norfolk warst.
Tolle Fotos, mein Kompliment!
Mach’s gut,
Dina
Dina, oft denke ich an Dich, wie Du selbst bei Mieswetter einfach die Kamera rausholst, Dein Spiel mut exaktem Focus und malerisch verunschärftem Hintergrund bei den Portraits. Wie explosionsartig ist es dann erst bei Sonnenschein, wenn Du auf Lichtfang bist :-)
Seit zwei Tagen scheint mir hier die Sonne, wie zuletzt in Norwegen – ob sie hier auch zwei Wochen lang durchhält?
Liebgrüß nach SunnyNorfolk auch an Klausbernd und die Flattrigen.
zum faktor ray noch ein gedanke: oder bist es du, der sich stressen lässt? der meint, er müsse sich anpassen, weniger fotografieren? vielleicht ist es so eine art fremdstress (analog zum fremdschämen)?
ich hoffe, ihr habt es gut, so ganz ohne boss, ihr beiden robin hoods des wilden westen von dänemark :-)
Wie war das auf der Pilgerreise – jeder für sich und doch immer mal gemeinsam.
Das entscheidet doch jeder für sich und wenn es paßt, braucht man sich solche Fragen nicht zu stellen. Ganz nebenbei: die tollen Fotos möchte ich hier nicht missen!
Die Frage, die ich mir jetzt stelle: wie würden zwei „Frauleins“ reagieren. Landläufig heißt es ja, daß dann jede das kleine Stück Kuchen nimmt. Hieße hier: mitten durch Schlagloch und Pfütze, jede auf ihrer Seite, nur um der anderen den Vortritt zu lassen. Oder anhalten und der anderen den Vortritt lassen? (Bin kein Radler, es ist also pure Spekulation)
liebe Grüße und mal ein sonniges gutes Vorankommen
Barbara