Junge, lass den Clown weg! Das blockiert Dich nur.
Wenn ich bloß unterwegs schreiben könnte, dann, wenn die Gedanken in Form von einzelnen Worten, Satzfetzen, ja, ganzen Passagen entstehen. Umblasen von Wind, zerschossen von Sonne, überdacht von Wolken, durchwirkt von Regen, kurbelnd ohne zu realisieren woher, und wohin die Reise geht, entsteht in mir manchmal ein kleines, brüchiges Wort-Universum, das so instabil ist, dass es schon beim nächsten schiefhängenden Briefkasten hinter einer vom Wind zerzausten Kiefer in sich kollabiert und dahin geht, woher es kam. Ins Nichts meiner Gedankenwelt.
Fotografisches Schlachtfest. Kasum vier Kilometer nach dem Start geht es im Dorf Voersaa los. Ein Kerl in Latzhose kümmert sich liebevoll um ein Stück Wiese neben seiner Garage, hat einen Schubkarren voller Gras neben sich stehen und den Rechen, wie von Joseph Beuys arrangiert, daran gelehnt. Fehlt nur noch die Fettecke und das Ding kann ins Museum. Ich frage, ob ich fotografieren darf, und er nickt stirnrunzelnd. Ich erzähle ihm, dass wir zuhause sieben Schubkarren haben, eine Marotte des Überflusses, aus Mangel geboren, drifte um die Ecke weiter, weiter, weiter und erlebe an diesem Morgen ein Dorado der schnellen Schnappschussfotografie. Plötzlich ist alles bunt, alles wichtig, alles interessant. Solche „Läufe“ ereignen sich manchmal, aber auch die Gedanken schlagen Purzelbäume. Mit dem „Material“, das ich in den folgenden Kilometern erknipse, könnte ich einen Bildband füllen: eine Serie von 16 Wandgemälden an der Mauer des Museums in Voersaa, von Kindern gemalte Chronologie der dänischen Könige und Königinnen. Schon sehe ich eine fertige Bildtafel vor mir. An der Tür des Heimatmuseums, das in einem ganz normalen Haus untergebracht ist, hängt ein Schild mit der Aufschrift: Wenn die Tür auf ist, ist das Museum geöffnet, wenn die Tür ikke (nicht) auf ist, ist das Museum geschlossen. Die haben Humor.
Die Flut an Bildern spiegelt sich in meinem Innern wieder, so dass ich auf der ruhigen Strecke nach Fredrikshavn immer wieder das Fon herauskrame und Skizzen aufs Band rede. Schnurgerade Strecke. Man fährt bedacht … bis auf … wie aus dem Nichts schießt in einer Sechziger Zone ein Taxi an mir vorbei mit hndertzwanzig plus X. Au Backe. das hätte können schief gehen. Der Druck des Fahrtwinds umwirbelt mich, so dass ich mich frage, wieso diese unsichtbaren, kaum spürbaren Windatome nicht ungebremst durch mich hindurchjagen. Ist doch wohl genug Platz zwischen den Künstleratomen, aus denen ich bestehe. Ich werde noch wahnsinnig in disem Land, das in meiner Vorstellung eine riesige Wanderdüne ist, die sich mit dem Wind nach Osten wälzt. In hundert Jahren ist Dänemark vielleicht schon in Schweden, scherze ich innerlich – das wäre ein Beitrag, der mal wieder mit einem Clownfrühstück und einem „Liebes Tagebuch“ beginnen könnte.
Dem Taximännlein dichte ich nebenbei eine Geschichte an, dass er eine hochschwangere Frau im Kofferraum hat, die er nach öhm, mist, das Krankenhaus liegt in die andere Richtung, in Fredrikshaven eigentlich, die Geschichte hinkt, egal, die Puppe will nach Kopenhagen ins Krankenhaus, und deshalb jagt der Taxifahrer mit hundertzwanzig Sachen nach Süden. Plötzlich überholt mich ein Feuerwehrauto mit auch über hundert, ohne Blaulich, was mir aber egal ist – auch diese Fahrtwinddruckwelle trifft mich mit Wucht, aber irgendwie passt das zu meiner hanebüchenen hochschwangeren Taxigeschichte, denn die Frau hat ihr Teelicht brennen lassen, welches nun das Häuschen am Stadtrand von Fredrikshavn entzündet hat, ach, Herr Irgendlink, wie hanebüchen sind deine Geschichten. Feuerwehrauto im Einsatz ohne Sirene und Blaulicht, das glaubt dir doch niemand! Doch, so wars, ich schwörs. Mein Eid. Die Feuerwehren in Dänemark haben kein Blaulicht und Sirene, weil hier so wenig los ist. Sie sausen einfach durch dich hindurch und du merkst gar nix davon. Jawoll.
So treibt mich der Südwind nach Fredrikshavn. Das ist ein Fall fürs Clownfrühstück. Dieser Tag. Diese Situation, denke ich und formuliere am Stadtrand eine Geschichte mit einem Clown namens August-mit-A-mit-Kringel-drauf, der mal wieder so dumm ist, dass er mir ins Netz ging und ich ihn zum Frühstück verspeist habe. Seine Schuhe waren ein Yard lang und ich habe sie zu einem Kreuz geformt am Straßenrand aufgestellt.
Fredrikshavn ist die größte Stadt Norddänemarks. Gewitter jagen mich hinein. Es gelingt mir, über dreißig Kilometer weit, den Schauern auszuweichen, mich an Tankstellen unterzustellen, in Straßencafés abzuwarten, in einem Laden so lange einzukaufen, bis ein Hagelschauer das kurze Stück über die begrünte Sanddüne, auf der ich radele Richtung Nordosten überquert hat. In einem Schönpuppenkleiderlädchen kann ich eine Weile rumlungern, auf Einladung der Besitzerin. Ich helfe ihr, die Kleider, die sie vor der Türe stehen hat, hinein zu tragen, um sie vor dem Schlagregen zu retten. Etliche Damen im Laden, junge Frauen um dreißig, die sich die vorwiegend in rosa gehaltene Mode betrachten, ein bärbeißiger, nicht sehr amüsierter Kerl reicht seiner Freundin ein Kleidungsstück nach dem anderen. Ich mag den Laden. Die Besitzerin schenkt mir einen Spratz Kaffe ein – die Kanne ist leider fast leer. Es gibt Lebensmittel von hoher Güte, Tee, Kaffee, Gewürzöle, Geschenkartikel und Kleider. Ein sehr spezieller Stil, der die Touristinnen, die auf dem Weg nach Skagen sind, wie eine Aalreuse anzieht, sie fängt, sie erst wieder entlässt, wenn sie ein wenig Geld dagelassen haben. Bis vier Kilometer vor Skagen radele ich dank dieses geschickten Regenschauer-Hoppings im Trockenen, nur, um bei einer versandeten Kirche, von der nur noch der Turm zu sehen ist, im Schlagregen zu enden. Alle Kleider an, auch die Neoprengamaschen, komme ich in die Stadt, finde Rays Jugendherberge, stehe vor verschlossener Rezeption. Kaum zu glauben, die machen um 17 Uhr schon dicht. Da es mir wegen rauchender Zeitgenossinnen, die mürrisch vor der Tür stehen, nicht sonderlich attraktiv scheint, suche ich nach Campingplätzen. Wildzelten fällt flach. Die Gegend wirkt gut bewacht, naturgeschützt – überall um die Stadt sind Camping verboten-Schilder aufgestellt, Waldbrandgefahr, Hunde an die Leine, Privat … es gibt zwei Campings nördlich der Stadt, von denen ich den nördlicheren anpeile. Der regen lässt nach. Ray schreibe ich eine SMS. Seit Stavanger habe ich ihn nicht mehr getroffen, aber wir haben stets unsere jeweiligen wo-sind-wirs geteilt. Ich war immer ein bis drei Tage hintendran.
Nach dem Duschen steht sein Radel neben meinem Zelt und ich treffe ihn im TV-Raum, wo wir das neueste austauschen, beschließen gemeinsam weiter zu radeln am nächsten Tag. Ein Berliner Radler namens „Rute“, Rastaman, der gegen den Uhrzeigersinn um Dänemark radelt, gibt uns Tipps zu den „Shelters“. Das sind Biwackplätze mit hölzernen Verschlägen, in die man gerade so reinpasst zum Schlafen, Achtzig Zentimeter hohe Kabäuschen. Über tausend Stück gibts davon in Dänemark. Sie kosten 25 Kronen pro Nacht, wobei es schwer ist, das Geld zu entrichten, weil niemand da ist, dem man es geben könnte. Rute hat ein Buch, in dem auf dänisch die Shelters beschrieben sind und in einer Karte eingetragen sind. Drei heiße Tipps notiert er uns auf einen Zettel: Nummer 9, Nummer 63 und dann noch jenen, bei dem man aus dem Kabäuschen direkt auf die Nordsee schaut. Vorsorglich fotografiere ich die Karte und das Symbol, mit dem die Dinger auf Hinweisschildern gekennzeichnet sind. Die geheime Zwischenwelt halbhoher spartanischer Übernachtungsgelegenheiten, quasi Gleis Zweieinhalb von Dänemarks Campingwelt.
Die Dichte des Tages mit all seinen Erlebnissen und Bildern, lässt mich nachdenken über die Vermutung, dass Kunstschaffen und Schreiben einem unsichtbaren Zyklus folgt, ähnlich wie Mondphasen, und dass es gilt, die Durstphasen, in denen „nichts kommt“ ebenso zu meistern, wie die Überflussphasen, in denen fast zu viel ist. Fürs Liveschreiben eine enorme Herausforderung – wie halte ich einen splatterhaften Artikel, der sich aus der Vielfalt von Erlebnissen, die fast alle gleichzeitig auf einen herniederprasseln, zusammen, so dass er eine wohlige Form bekommt?
Klausbernds Anmerkungen in den Artikeln zuvor, das eine nachträgliche Überarbeitung der Einträge in diesem Liveblogbuch wihtig ist, kommt mir in den Sinn. Jawohl, so muss es sein. Und gleichzeitig darf man dem Proagonisten auch zuschauen bei seiner Operation am offenen Herzen der Literatur. Jetzt.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Huch, soviel zu erleben an einem Tag! Euphorie klingt aus Deinem Artikel. Leben pur. Ein Tag, an den man sich zurückerinnern kann, wenns mal nicht so gut läuft. Trotz des Regens. Oder gerade deswegen. denn ohne ihn wärst Du vorbeigefahren an manchen Dingen und Menschen.
Inch, so sehe ich das auch: Verirrungen und Unbilden bringen letztlich doch Glück.
Hm. Nur mal zum Anfang Deines Textes.
Hast Du einmal an die Nutzung eines kleinen, stimmaktivierbaren Diktiergerätes (vielleicht sogar in digitaler Ausführung, also ein MP3-Player einfachster Bauart mit Aufzeichnungsfunktion, meiner mit 4GB faßt etwa 12 Stunden Sprachaufzeichnung) gedacht? Dann könntest Du nämlich wirklich live Deine Gedanken aufzeichnen, alles, was Dir während der Fahrt durch den Kopf geht.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß da ziemlich viel zusammenkommt: Das Abschreiben, Sortieren, sauber Ausformulieren gelang erst richtig gut, wenn ich vor jedem Fetzen ein Stichwort – eine Kategorie, ein Zielformat – angab.
Den Schönpuppenladen hätt ich gern gesehen und die Shelter …