Das Leben ist ein Ponyhof

Genug geweint! Stenungsund ist eine Chemiestadt. Mein schwedischer Campingnachbar erzählt, dass es gar nicht übel ist, auf Tollenäs, weil der Wind meist aus Südwest kommt, und man kriegt von dem Molloch, eine Firma, die mit dem Namen Nobel endet, überhaupt nichts mit. Ich muss an Mainz Mombach denken, den Geruch von verbranntem Kaffee, den die nahe Fabrik bei bestimmten Windverhältnissen in die 1990er Jahre-WGs wehte und meist wohnten wir unterm Dach in kleinen, überhitzten Kammern, schliefen bei offenem Fenster.

Es gibt Radwege in Schweden! Schon seit Stenungsund führt eine breite, fein geteerte Extratrasse an der E6 entlang. Und Schilder gibt es auch. Bei Jörlanda kommt man auf kaum befahrene Landstraßen. Plötzlich sind zig RadlerInnen auf dem Weg, so dass ich an einer Kreuzung, an der in Warnwesten gekleidete Frauen, eine Herde radelnder Kinder über die Straße leitet, anhalte und frage, ob etwas besonderes sei. Schulaus, sagt die Frau. Hum? Aber die anderen, die „Großen“? Keine Ahnung.

Kurze Zeit später überholt mich Helmar. Im nebeneinander Radeln erzählt er mir von der Global Biking Initiative (www.gbi-ev.org), die alljährlich unterwegs ist quer durch Europa und Geld sammelt für einen guten Zweck. Über hundert Radlerinnen und Radler nehmen daran teil. Jeder hat es sich zur Aufgabe gemacht, unterwegs 500 € zu sammeln. Das sind die Voraussetzungen, um an der organisierten Tour teilnehmen zu dürfen. Wie das Geld zusammen kommt, ist einem selbst überlassen.

Die diesjährige Tour führt von Oslo nach Düsseldorf. Helmar beschleunigt mein Vorankommen und vermutlich verlangsame ich seins. Er fährt ohne Gepäck. Die Strecke ist flach. So merke ich kaum, wie wir voran treiben, immer wieder andere aus dem GBI-Team treffen. Ich könne ja in Göteborg am Hafen vorbei schauen, sie haben auch ein Presseauto im Tross, das am Hafen wartet. Schon leuchtet die rote Studiolampe im Innern von Hobbymedienstar Irgendlink. Wir reden Radlergeschichten. Es läuft fast immer nach ähnlichen Prinzipien ab, so ein Radreisendengespräch: über die Wohers und Wohins hangelt ein jeder sich zur eigenen Radlerhistorie durch, und so bilden wir auf wenigen Kilometern skizzenhaft zwei halbe Menschenreiseleben ab, um irgendwann wieder Tschüss zu sagen. Bei uns Kunststraßenbauern ist es meist das nächste 10 km-Foto, das den zarten Strom der Begegnung unterbricht, und den nächsten, in diesem Fall Helmar, in die „Freiheit“ entlässt. Helmar macht noch ein Foto von mir, dann klinkt er sich seinen KollegInnen ein. Multiple Hallos sausen in Rennradgeschwindigkeit an mir vorbei.

Paar Kilometer später taucht unerwartet ein Stützpunkt auf: Pavillonzelt mit Verpflegung, Pressebus, Warnwesten, Rotes Kreuz, knapp fünfzig RadlerInnen schwätzen, lachen, gehen zum Pinkeln hinter die Bäume, eine kleine, feine internationale Familie. Beklommen stoppe ich und laufe Ulrich in die Arme. Er führt mich ein, gibt tiefgreifende Infos über das Projekt. Schon zum fünften Mal findet die Tour statt. TeilnehmerInnen von überall, Neuseeland sogar, Ägypten, Südafrika, um nur ein paar „Exoten“ zu nennen.

Die Sache ist gesponsert von verschiedenen Firmen, unter anderem dem Telekommunikationsanbieter mit dem halben Ying-Yang-Logo. Ulrich erzählt mir ein bisschen über die „Einzelschicksale“, so dass ich fasziniert zuhöre und mir wieder einmal klar wird, mit wie wenig Infos man Menschen skizzieren kann, so rein erzählerisch, oder liveliterarisch, sogar winzige Hinweise genügen heutzutage, um eine Person, deren Namen man vielleicht gar nicht kennt, im Internet ausfindig zu machen, die Spur weiter zu verfolgen, ein größeres Bild zu erlangen. Die rumänische Radlerin etwa spricht fließend alle romanischen Sprachen, Englisch und Deutsch. Fast alle im Team verstehen Deutsch. Wie schwierig es ist, internationale Gepflogenheiten zu berücksichtigen, etwa bei der Unterbringung muslimischer oder katholischer Frauen, die auf keinen Fall mit Männern zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen.

Ulrich macht mir Lust auf Menschen. Lust, dazu zu gehören. Auch wenn die Radeltour mit etwa hundert Kilometer pro Tag leichten Wettkampf-Charakter hat, könnte ich mir vorstellen, da mal mitzufahren. Für jede Teilnahme gibt es einen Stern am Trikot. Ulrich hat schon fünf. Ein Effekt des gemeinsamen Radelns, stelle ich fest, ist, dass die Gruppe Tiefen auffängt und Höhen verstärkt. Im Sog der gemeinsamen Straße fällt weder der Verkehrslärm auf, noch spüre ich meine müden Oberschenkel.

Wie im Rausch treibe ich, nun wieder alleine, Richtung Göteborg. Bei einem 10er-Foto kommt mir ein Mann mit unendlich quietschender Kette entgegen, grüßt auf schwedisch, saust vorbei, „You need Oil“, rufe ich ihm nassforsch hinterher, und er kehrt um, bereit zu einem Schwätzchen. Sogar auf Deutsch. Auch hier ein Fetzen Menschenleben, schnell erzählt. Nach und nach beiße ich mich an einem Flickenteppich von Menschenleben fest, winzige Informationen, oft nur ein Blick, die Art, wie jemand Hallo sagt, genügen schon, für einen Pinselstrich in meinem Skizzenbuch der menschlichen Gesellschaft des frühen 21sten Jahrhunderts. Hach. Wenn ich auf tollkühn göttliche Weise die Punkte nur eines einzigen Tages miteinander verbinden würde, könnte ich eine Chronik der Menschheit schreiben, geifere ich in Kungälv, vorbei an einem Schloss, während mich vier Iren überholen, einen Hügel hinauf keuchen, dort warten an einer Bushaltestelle auf einen fünften und einen sechsten Iren und ich frage sie, woher kommt Ihr, near Dublin – aha – sie essen Bananen und der freundliche Ägypter flitzt vorbei, allesamt auf den Hafen Göteborg zudriftend, wo um 16 Uhr die Fähre nach Kiel fährt.

Mittlerweile blinkt Mili, mein Zwischenakku wieder und signalisiert, dass er während der Fahrt sich auflädt. Was mich zu dem einzig logischen Schluss bringt, das Ding hatte zu viel Wasser. Habe ich die Kilometer wenigstens nicht umsonst geradelt, schmunzele ich in mich hinein. Brave Mili, lädt wieder solange sich das Vorderrad mit dem Dynamo dreht.

Neben stark frequentierten Straßen, der E6 und anderen, durch nicht sehr reizvolle Landschaft nach Göteborg. Gewerbegebiet, Supermarkmonster, ein Elektromarkt, ein schwedisches Möbelhaus, die Frühschicht auf dem Heimweg radelt vor mir her, eine rothaarige Frau, noch in der Arbeitskleidung. Der Apfel, in dem wir leben, arbeiten, leiden und lieben drückt uns unweigerlich seinen Geschmack auf, seine Firmenkluft, Brandmarke der Dazugehörigkeit.

Im Elektromonstermarkt, der so groß ist, dass man den Campingplatz in Tollenäs darin unterbringen könnte, frage ich nach Kontaktspray für die Elektroden meines Pufferakkus, für die gesamte Fahrradelektronik. Aber sie haben keinen hausinternen Reparaturservice, verschicken die abgegebenen Geräte schwedenweit, somit keine Werkstatt und auch keinen Monteur/Monteurin, der oder die mir mit ein paar Tropfen die Leitfähigkeit verbessern könnte. Ich kaufe einen weiteren Zwischenakku und überlege, dass ich den längst gärenden Artikel zum Thema Mangel und Überfluss und deren pulsierend Wechselwirkung endlich mal schreiben sollte – seit ich Pfingsten total ausgehungert in Norwegens Fjorden keuchte, habe ich ungewöhnlich viel Lebensmittel dabei, sorge immer dafür, dass es mir auch ja an nichts mangelt und das Akkuproblem hat nun dazu geführt, dass ich einen zweiten besitze, den ich nicht unbedingt brauche, der mir aber die Angst, den Schmerz, die Tränen und das Gejammer nimmt, das ich erleide nur dadurch, dass es die letzten beiden Tage so eine Art Schmalhans-Küchenmeister-energetischen Privatkollaps gegeben hat.

Verstehs, wer will, aber ich vermute, so ticken wir Menschen: Mangel ruft Überfluss hervor und der Überfluss führt zu einer degenerativen Wegwerfmentalität, die uns letztlich wieder in die Krise und somit zurück zum Mangel führt.

Göteborg taufe ich um in SoSoborg. Die Stadt hat sich lange genug mit dem, naja, weit hergeholt, Namen eines deutschen Dichters geschmückt, soll sie nun den Namen einer Schweizer Schriftstellerin tragen. Ha. Die Stadt ist schön. Ich mache kurzes Programm, Fahrrad schiebend. Sonne lacht, bastele insgeheim an einer Bildcollage zu Ehren von SoSo.

Mein Plan, von hier direkt nach Fredrikshafen in Dänemark überzusetzen verflüchtigt sich dank besserer Radwege und dank der Sonne. Der prophezeihte Sommer. SoSoborg verlasse ich dem Meer folgend auf gut beschilderten Radwegen, frage mich bei Fußgängern und Radlern nach den nächsten Ortschaften durch: Särö und von dort über den alten Bahntrassenradweg nach Kungsbacka. Alles prima anhand der Schilder zu finden. Schon meißele ich rein gedanklich an einem Monument aus purem Granit für den schwedischen Verkehrsmninister Björn K.

Gegen Abend wird es schwer, einen Wildzeltplatz zu finden. Dicht besiedelte Gegend. Wiesen noch nicht gemäht, alle Plätze, die mir gefallen, gut einsehbar, privat besessen. Bei einer Kirche wäre der Friedhof schön, aber so pietätslos will ich nicht sein, weiter, weiter weiter, bis zu jenem Reiterhof, den SoSo schon gebookmarkt hat (alleine auf Basis meiner Koordinaten, die ich ihr gemailt hatte und des Vornamens der Besitzerin, hat sie die Website ausfindig gemacht). Ha.

Ich frage eine Frau, die vor der Pferdekoppel ihrer Tochter beim Reiten zuschaut, ob ich das Zelt auf der Wiese hinterm Hof aufschlagen kann – die Frau entpuppt sich als Deutsche, Hamburgerin, seit Jahren hier lebend und sie vermittelt an Nathalie, welche mir anbietet, in dem Container zu wohnen, in dem die Gäste während Reitturnieren und anderen Veranstaltungen auf dem Hof wohnen. Islandpferde haben sie. Ponys, denke ich. Soll nochmal jemand sagen, mein Leben sei kein Ponyhof.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

6 Antworten auf „Das Leben ist ein Ponyhof“

  1. Ohh. I like this story. Even if the google translator makes it funny when I translate it into Norwegian. You’re a good storyteller. I will try to attach a link to Fredriksstad Blad about the trip on bicycle; Oslo-Düsseldorf. It says:
    400 employees from 22 countries, all from telecompanies, do this route to collect money for children in need. When they reached Fredrikstad, on their first day, they had already collected €200.000. Not bad at all.

    http://www.f-b.no/nyheter/sykler-oslo-dusseldorf-for-barn-i-nod-1.7392371

    Keep on writing, I am reading and enjoying every day.

    God tur videre :-D
    Tone og gutta og Rasmus

    1. Thank you so much for the research, dear Tone.
      I think about an article, where I would mention Jon-Olafs experiment at school – we talked about it in Pizzanini. I will contact you by mail for to ask some questions. In the next days. Cheers
      Jürgen

  2. Lieber Irgendlink,
    Selma, Siri und der Master wünschen dir einen guten Morgen.
    Wir schließen uns Tone an, wir finden, dass dein Schreiben zunehmend post-moderner wird, da du mehr und mehr das Medium, in dem du dich ausdrückst, reflektierst. Das finden besonders wir Buchfeen toll. Wir alle drei in Cley lesen diese Stellen mit roten Bäckchen und Glitzeraugen – und ehrlich gesagt, uns interessieren die Fahrradprobleme weniger, aber wir sind auch keine Radler. Aber das ist das Erstaunliche, trotzdem lieben wir deine Berichte und am meisten, wie gesagt, jene über das Berichtschreiben.
    Have a nice day & take care
    Selma, Siri und der Master

  3. Es ist immer die Situation an sich.
    Obwohl Dir schon öfter die Sinnfrage mit starkem Gegenwind entgegen brauste, lässt Du Dich nicht vom Fahrrad schmeißen. Das ist BRAVO an sich (nicht die olle Zeitschrift, eher Beifall mit Getöse!)

  4. Zu dem Thema ‚Überfluss und Mangel‘ sind noch viele Überlegungen notwendig. Ich denke, die Überfülle an allem, selbst an visuellen Eindrücken, ruft Probleme hervor.
    Gute Weiterreise,
    April

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