Entscheidungen

„Wenn es im Leben nicht voran geht, liegt es fast immer daran, dass Du eine Entscheidung nicht triffst. Du verhedderst Dich in einer Vielzahl von Möglichkeiten, zappelnd wie ein Fisch, und es gibt kein Entrinnen, solange Du Dich nicht dazu durchringen kannst, beherzt das Messer zu nehmen und alle Möglichkeitsstränge zu kappen, bis auf einen, dem Du sodann folgst“.

(Private John W. Banks, 6. Juni 1915 während eines Heimaturlaubs)

Kommentatorin Andrea hat sicher recht: der Campingplatz in Ula wäre nichts für mich, wenn er geöffnet wäre, wenn tausende Touristen ihn bevölkern, wenn es laut ist, Geplärre, Grillfeuer, Party. Die Fjorde und die Einsamkeit haben mich verändert. Jedes noch so leise Geräusch macht mich nervös. Wenn es regnet, „schneiden“ die Autoreifen in den Pfützen. Dabei habe ich es noch gut: In Norwegen darf man auf Landstraßen nicht schneller als siebzig fahren. Wer es trotzdem tut, riskiert lebensbedrohende Geldbußen: tausend Euro für zwanzig Kilometer zu schnell, plus Verkehrssündenpunkte. Die Menschen halten sich also meist an die Geschwindigkeitsregeln. Selbst die mit den dicken Karren.

Zwischen Sandefjord und Tønsberg bin ich drauf und dran, das gesamte norwegische Radwegenetz zu verteufeln, ihm einen Negativstern zu geben für miserable Beschilderung, für enge Straßen, für viel Verkehr. Dabei genügt es, wenn an entscheidender Stelle nur ein Hinweisschild fehlt, um für Kilometer auf der falschen Spur zu radeln. Mein Konzept mit GPS-Track und Karte und Schildern, funktioniert in dieser Gegend nicht mehr. Zu viele Straßen, zu viele Kreuzungen. Ich nähere mich Oslo. Durchquere gutes, weites Ackerland, aufkeimende Getreidefelder, frisch geeggte Äcker. Wenn die von eiszeitlichen Gletschern rund geschliffenen Findlinge und die zig Meter langen Felsbrocken nicht wären, könnte ich fast glauben, ich wäre zu Hause auf der Sickinger Höhe. Beim Radeln auf den Hauptstraßen wird mir klar, dass es immer eine Frage der Tageszeit ist, ob eine Straße ruhig wirkt, oder nicht. Genauso verhält es sich mit vielem im Leben.

Eine Frage des günstigen Zeitpunkts. Radele ich sonntags vor zehn Uhr etwa die Höhenstraße zwischen Zweibrücken und Martinshöhe, erscheint sie mir als die friedlichste und radlerfreundlichste Straße der Welt. Werktags um acht ist sie lebensgefährlich.

In Tønsberg bin ich so zermürbt von meinen Verirrungen im Feierabendverkehr, dass ich auf blasphemische Weise diese älteste Stadt Norwegens einfach links liegen lasse und auch den Radwegschildern der Nordseerunde nicht mehr folge, sondern einem Schild folge in Richtung Horten, dem Fährhafen über den Oslofjord. 16,9 km steht drauf. Nur, um mich auch dort zu verirren. Kaum einen Kilometer an der Strecke, weist ein Schild nach rechts auf drei mögliche Wege. So, welchen bitteschön nehme ich denn? Der erste endet nach hundertfünfzig Metern. Der zweite sieht danach aus, als führe er in eine Hofeinfahrt, also nehme ich den Dritten, radele auf Schleifen zurück nach Tønsberg. Finde nach drei Kilometern ein Schild neben der Statue eines erstarrten, kupfernen Roald Amundsen mit der Aufschrift Horten 16,8 km. Das gesamte globale Radwegnetzwerk verfluchend.

Mir dämmert, dass es eine verdammt schwierige Sache ist, einen Fernradweg gut auszuschildern. Wenn ich nur an England denke, mit wie vielen Mühen und zigtausenden von Aufklebern mit Pfeilen in alle Richtungen sie ihren Nr. 1 Radweg ausgeschildert haben. Hut ab. Ihr solltet eine Schule aufmachen für Radwegebeschilderer.

Aus meiner kleinen Sicht liegt das Problem des Wegs in der Gegend um Tønsberg darin, dass es zwei oder drei Alternativen gibt. Dass man von Seiten des Nordseeradwegebaukonsortiums es versäumt hat, eine klare Entscheidung zu treffen mit nur einem einzigen Radweg. Immer wieder gerate ich in die Endlosschleife der Beschilderung zwischen den Alternativen.

Hysterisch lachend phantasiere ich, dass ich in dieser Gegend etliche Radler treffen könnte, die seit Jahren umher irren, gefangen zwischen den Alternativen, und dadurch, dass sie mal der einen, mal der anderen Möglichkeit folgen, radeln sie im Kreis. Wirre Zausel à la Catweazle, die wie aus einer anderen Zeit vor den Wundern der Moderne stehen.

Letztlich der Straße 365 folgend, die in die E6 übergeht, gelingt es mir, mich am Oslofjord nördlich zu lavieren – stets auf einem extra Radweg direkt neben der Straße.

In Borre habe ich einen Campingplatz ins Auge gefasst, der nur 6 km vom Fährhafen entfernt liegt. Noch immer habe ich eine Nacht auf dem Campingplatz „gut“, da ja Ula nichts gekostet hat, die Dusche geschlossen, und auch am Tag zuvor der Platz, den ich angepeilt hatte, zu war. Nicht dass ich es allzu genau nehmen würde.

Querab von der E6 folge ich einer winzigen Straße Richtung Oslofjord, werde auch nicht müde, nach zeltbaren Alternativen Ausschau zu halten. Neben dem Friedhof von Borre zum Beispiel, nur für den Fall, dass der Platz zu ist, oder mir nicht gefällt. Riesenpötte im Fjord. Ich treffe den Platzwart Pizzaessend an, und er lädt mich sehr freundlich ein, einfach erstmal das Zelt aufzubauen. Ruhiger Familiencamping. Zahlreiche Wohnwagen, ein paar Hütten. Hinter den Kulissen, stelle ich später im Badhaus fest, hat das unscheinbare Plätzchen am Fjord es aber in sich. Hightech pur. Ich komme mir vor wie auf einem Raumschiff. Blitzblankes Waschhaus, Chipkartensystem für die Abrechnung von Warmwasser und Strom in der Gemeinschaftsküche. Mit 125 Kronen im normalen Bereich plus 12 Kronen, die mir von der Chipkarte abgebucht werden für 5 Minuten heiß duschen.

Der Platzwart kommt aus Fredrikstad, wohnt den Sommer über beim Platz – gerade fährt die Stenafähre nach Kopenhagen vorbei, erklärt er mir am kühlen Abend während des lang anhaltenden Sonnenuntergangs.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

11 Antworten auf „Entscheidungen“

  1. Aber hängt man dann nicht irgendwann an einem ganz dünnen Seil, wenn man sich selber alle anderen Möglichkeitsstränge gekappt hat? Ich glaube, ich trau mich das gar nicht. Ich fühl mich wohler und sicherer, wenn ich weiß, da gibt’s noch ’ne alternative Möglichkeit! ;)
    Oslo… Sooo weit schon! Und das alles mit reiner Muskelkraft vom einsamen Gehöft aus! Wahnsinn!
    Wir waren 2002 mal ein paar Tage in Oslo, natürlich hat es dauergeregnet, was ja dort leider keine Seltenheit ist. Also sind wir im strömenden Regen durch den Vigeland-Park gelaufen. Niemand dort, außer wir beide und die vielen genial tollen natürlichen Skulpturen dort. Das war wirklich wunderschön und ich glaube, an diesem Tag waren wir zur genau richtigen Zeit am genau richtigen Ort! Wär das ein schöner Sommertag gewesen, hätten wir uns die Figuren mit tausenden anderen Leuten teilen müssen, aber so… ;)
    Komm gut voran und liebe Grüße, auch an die Homebase,
    Andrea

  2. Ein interessantes Zitat von damals und ebenso interessante Überlegungen dazu. Und ich dachte immer, es sei ein Charakteristikum unserer jetzigen Zeit, zu viele Wahlmöglichkeiten zu haben. Mein Spruch ist in letzter Zeit oft: ‚Unser Problem ist die Fülle.‘ Das macht nicht nur die Entscheidungen schwer, sondern kostet auch viel Zeit, nicht nur beim Verirren auf dem Fahrrad, sondern auch beim Überlegen, was wohl das Beste wäre.
    Ich wünsche dir ein ‚gutes Händchen‘ bei der Wegewahl und sonstigen Entscheidungen und weiterhin ‚Gute Fahrt‘,
    April

    1. liebe april
      ich gestehe, dieses zitat ist fiktiv. erinnerst du dich an jenen artikel über den jungen soldaten, den jürgen in schottland, im zusammenhang mit dem dortigen kriegerdenkmal, kreiert hat? dieses zitat hier hat irgendlink ihm in den mund gelegt.
      dass aber auch damals schon die freie wahl problematisch gewesen sein mag, bezweifle ich nicht. das wörtchen „viel“ (viele mögliche wege) war damals einfach noch ein bisschen „kleiner“.
      liebgrüß, soso

      1. SoSo, so wahr. Wir schöpfen aus dem Vollen in unserer Zeit. Andrea, es gibt auch Momente, in denen ich viele Wege zur Auswahl zu schätzen weiß. Ich meine diejenigen Knotenpunkte, an denen man ohne Entscheidung nicht mehr weiter kommt.
        Dina, so recht hast Du mit dem Oslofjord. Vor fast genau 24 Jahren bin ich hier mit der Kielfähre zum erstenmal nach Norwegen gekommen.

  3. Viele kluge Worte, hmmm.
    In Norwegen sind die Schilder rar. Auch wenn man Auto fährt. Man muss aufpassen, ein Schild zeigt die Richtung und dann …nichts mehr. Völlig anders als in D, auf deutsche Straßen wiederholen sich die Hinweise, manchmal zu viel, manchmal sehr hilfreich. Doof mit den Radwegen, sag das mal den Journalisten von Fredrikstad Blad:-)

    Gutes ankommen!

    Dina

  4. @ SoSo: Stimmt, ich weiß es jetzt wieder. Deshalb kam es mir so bekannt vor. Früher hatte man ja nicht so oft die Wahl. Das machte es einerseits leicher, andererseits war man unfreier.

  5. Ich find`s einfacher, wenn es nicht mehrere Möglichkeiten gibt. Der ganze Prozess des Entscheidens, jene Qual der Wahl – zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust (meist noch ein paar mehr) – und des Haderns fällt weg.
    Liebe Grüße aus dem sonnig warmen Cley next the sea und gutes Ankommen in Amudsens und Dinas Geburtsstadt
    Klausbernd :-)
    Siri und Selma lassen dich auch sooo liiiieb grüßen! :-) :-)

    1. Klausbernd, ich will die Stadt nun umtaufen in Dinastad. Sie hat lange genug einen Männernamen gehabt. :-)
      Bin am Stadtrand und radele nun weiter zu Tone und ihrer Familie. Bin genauso gespannt auf die Begegnung, wie damals in Cley mit Dir und den Buchfeen und Dina.
      Und was die Möglichkeiten angeht. Viele sind zwar gut, aber das Hadern und das stillstehen, wenn man nicht weiterkommt, das nervt.

      1. … und dazu kommt die frage der freiheit: wer gibt mir die möglichkeiten zur wahl? andere menschen? die umstände? ich selbst?

        ich habe lieber wenig oder nur eine selbstgewählte option als viele von außen diktierte :-)

  6. @sofasophia: Ja, da stimme ich dir absolut zu! :)

    Dann wünsche ich dem Radler einen sehr schönen Abend im Kreis von Freunden… und uns allen anderen auch! ;-)
    Bei uns im Saarland ist morgen Feiertag, das hebt meine Laune gerade enorm! :D

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