Touristenroulette

Im Gegensatz zum Dunnet Head, dem nördlichsten Zipfel der britischen Insel, ist Lindesnes, die Halbinsel im Süden Norwegens, wunderschön. Der Leuchtturm eine Augenweide, nicht so umbaut und unzugänglich und kahl, wie der am Dunnethead. Ich bleibe auch von Natofliegern verschont. Die Sonne scheint. Bei zehn Grad weht ein steifer Westwind. Ein Zehnkilometer-Abstecher von der Nordseerunde, der sich lohnt. Unweit des Südkaps befindet sich auch ein Campingplatz. Letzte Einkaufsmöglichkeit ist der Kiwimarkt in Høllen, nur für den Fall, dass jemand …

Im bogenförmigen Besucherzentrum lade ich Akku und schreibe den vorigen Beitrag. Zersiedelt. Zerfahren. Ich fühle mich so matschig wie nach der schlimmen Nacht auf der Shetland-Fähre. Das ist es. Ich komme einfach nicht mehr so gut mit Unregelmäßigkeiten zu Recht. Je älter man wird, desto starrer wird man, desto intoleranter, desto anspruchsvoller.

Ein Rückwärts, wie es die Natur von Grund auf vorsieht, ist dem modernen Menschen ein Gräuel. Seit unsere Gesellschaft sich dem ewigen Wachstum verschrieben hat, phantasiere ich, haben wir diese Probleme mit dem Rückwärts. Wer käme heute auf die Idee, weniger Lohn zu verlangen, anstatt mehr? Selbst Stillstand in der Lohnspirale, ist schon ein Drama. Weniger Urlaub? Weniger Feiertage? Weniger Geschenke, als letztes Weihnachten? Wir leben in einem Ballon, der permanent mit Luft gefüllt wird. Jedes Kind weiß, dass Ballons irgendwann platzen. Baff! Der stetige Wandel zwischen Kommen und Vergehen, wie es die Natur vormacht mit geboren werden und sterben, ist etwas, was einen niemand lehrt. Nenn‘ es Erfahrung. Schau‘ gut hin. Höre auf deinen gesunden Menschenverstand.

Am kleinen Beispiel „Ich“ erfahre ich, dass ich die beiden Fjordttage mit den ewigen Steigungen gepaart mit den begrenzten Lebensmittelressourcen wider die Natur gehandelt habe. Ich habe ewiges Wachstum gespielt, wie die großen Wirtschaftsmogule es da draußen in der Welt tun. Durch die Glasfront des Besucherzentrums in Lindesnes starre ich in das Rund, ein offener Platz, über den wenige Touristen scharwenzeln – sie alle laufen vom Kassenhäuschen bei der Schranke, links in meinem Blickfeld, erst einmal in die Mitte des von Felsen umrundeten Platzes, orientieren sich, blättern ohne nachzulesen in dem Prospekt, das man ihnen in ihrer jeweiligen Landessprache gegeben hat, spähen die Möglichkeiten aus: über eine Rampe kann man zu den Häusern nördlich des Leuchtturms gelangen und zu einer Bucht voll blauen Wassers. Die holprige Granittreppe direkt daneben führt offenbar direkt zum Leuchtturm und die breite, forumsähnlich gebogene Treppe ganz rechts in ihrem Blickfeld führt in das Besucherzentrum, in dem ich sitze. Von außen sieht das Besucherzentrum aus, wie eine Cafeteria. Aber hinter einer Phalanx aus Tischen, Kinderspielecke und gemütlichen Loungebänken hat man drei Höhlen in den Fels gemeißelt, in denen sich zwei Kinos befinden und ein Ausstellungsraum. Hier wird über die Geschichte der Leuchtfeuer in Norwegen informiert. Im großen Kinosaal zeigt man abwechselnd, immer zur vollen Stunde, einen Film auf Englisch, Deutsch und Norwegisch.

Später, als ich, noch immer müde, im Hof auf der Bogentreppe sitze, kann ich den familieninternen Entscheidungsprozess der Neuankömmlinge hautnah akustisch erleben. Ich spiele mit mir selbst Touristenroulette. Das Pärchen wird zunächst in die Cafeteria gehen, wette ich. Die wollen Leckeis essen. Eine fünfköpfige Familie verblüfft mich. Schon von weitem höre ich, dass sie aus Deutschland kommen: „Sieben Euro hat uns das jetzt gekostet, pro Person!“, nörgelt die Mutter. Die fast erwachsenen Kinder, schätze ich, werden zuerst zum Leuchtturm hoch wollen. Aber sie hat die Hosen an: „Da rein“, sagt sie, „guckma, was im Prospekt steht.“ Er schweigt. Treu folgen alle.

Ich stelle fest, dass das Alleinereisen Vor- und Nachteile hat. Man ist zwar frei, aber seiner Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit völlig ausgeliefert.

Gegen 16 Uhr spüre ich wieder Kräfte, ackere hinauf zum Haus des Webmasters, der mit mir ein Interview machen wollte, treffe ihn nicht an, besteige das Radel, verlasse Lindesnes auf dem Weg, den ich gekommen bin, kaufe noch einmal im Kiwimarkt in Høllen ein, radele weiter auf dem Radweg Nummer 1, der über die fast unbefahrene 460 nach Vigeland führt. Da er so gut wie flach ist, jubiliere ich innerlich. Ich könnte es bis Mandal schaffen. Dort auf den Zeltplatz, der in der Karte eingezeichnet ist. Vielleicht treffe ich sogar Matt wieder, den ich morgens kurz gesehen hatte. Er wollte auch nach Mandal. In Vigeland steht ein Schild: Radweg nach Mandal 11 km. Ha. Das ist nichts. Dennoch sagt mir ein Gefühl, dass ich meine Wasserflasche auffüllen soll. Bei einer Tankstelle. Weiter flache Strecke an der E39 entlang auf separatem Weg. Das macht Laune bis …

… der Vestlandske Hovedveg, jene alte Postroute von Oslo über Kristiansand nach Stavanger hat mich wieder. Ungeteeerte Splitroute, wunderschön, nur noch geschätzte 8 km bis nach Mandal, aber bei Steigungen um zwanzig bis dreißig Prozent muss ich schieben. Die Vegetation ist grandios. Dichter Wald, untermauert von Felsen. Mein Zeltplatz in Mandal rückt in weite Ferne. Ich bin froh, dass ich für’s Wildzelten gerüstet bin. Um ehrlich zu sein, ich mache es gerne. Ich habe gerne keine Menschen um mich. Der einzige Reiz, den ein Campingplatz hat, sind Wifi und Dusche.

Der Vestlandske Hovedveg führt nur wenige hundert Meter parallel zur E39 vorbei an einem See namens Hegrestadvatnet. Bei der Hegrestad Brücke, einem kaum vier Meter langen Holzsteg, baue ich das Zelt direkt am Weg auf. Zwei norwegische Radler auf dem Weg nach Lindesnes, morgens in Kristiansand gestartet, und vorhin ein Mountainbiker, sonst niemand. Ich wasche mich im See. Tauche bis zum männlichen Hirn ein ins eiskalte Wasser. Tausende Stechmücken, weshalb ich im Zelt koche, und leise säuselt die E39 in der Ferne.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

7 Antworten auf „Touristenroulette“

  1. Lieber Irgendlink,
    weißt du noch, als ich in Cley dir ein paar Zitate aus mein kleines Schreibbüchlein vorgelesen habe und du von Monika Rinck und http://www.begriffsstudio.de erzählt hast?
    Ja, genau in diesem Buch, ein liebes Geschenk von Siri Buchfee, habe ich gerade folgendes eingetragen:

    „Allein sein hat Nachteile. Man ist zwar frei, aber seiner Orientierungslosigkeit und Unentschlossenheit völlig ausgeliefert.“ Jürgen Rinck, Lindesnes, 30.05.2012

    Danke dafür! Schade eigentlich, dass der Webmaster nicht da war.

    Liebe Grüße nach Süd-Norwegen

  2. Trifft man in fremden Ländern Landsleute, sieht man die greller, schonungsloser, interessierter, wie durch eine stark vergrößernde Lupe, finde ich. Führungsmutter klasse beschrieben, auch das Andere, auch und besonders der philosophische Teil…
    Du Kaltwasserschwimmer.
    Gruß von Sonja

  3. Komisch nicht, Engländer verbünden sich gleich mit ‚fellow countrymen` im Ausland, die Deutschen meiden sie.
    Liebe Grüße aus dem Garten und feines Radeln
    Selma Buchfee

  4. deutsche im ausland zu treffen hat mir schon manch schamesröte ins gesicht getrieben…
    und wieder freut mich dein velosophieren dein wildes sein… wie recht du hast, wenn du schreibst, dass uns niemand mehr den tanz vom leben und sterben lehrt… wie dankbar ich schon wieder bin, dass ich genau das gelehrt bekam und seitdem der tanz ein anderer geworden ist!

    1. Wahrscheinlich waren es die Natoflieger. Der Sturm. Wäre mal interessant, die Äußerlichkeiten umzudrehen, Dunnet bei Sonne und Windstille und Lindesnes mit Tieffliegern.
      Lindesnes Leuchtturm ist definitiv der schönere. Wohingegen der Weg zum Dunnet definitiv der schönere ist. hach, die Subjektivität und der Moment.

  5. Nein, ich mag es wenn es stürmt! Ich liebe den Sturm überhaupt. So ein schneller Wechsel zwischen Sonne und Regen. Der Sturm, der vom Meer her übers Land fegt. Vielleicht mag ich den Flecken deshalb. Auch weil dort nix ist, außer dieser einsame Leuchtturm. Keine Menschenseele. Und wenn man ein Stück an den Klippen entlangläuft, immer darauf bedacht, dass der Sturm keine Pause macht, weil er einen doch davor bewahrt, hinunterzufallen. Sich gegen eben diesen Sturm lehnen und den Puffins zu sehen und was sonst noch in den Klippen brütet. Hinaus schauen aufs Meer. Über Trockenmauern steigen. Manchmal dahinter Schutz suchen. Das Salz schmecken.
    Aber gut, ich bin kein Schönwetterfanatiker. Mein Lieblingsmonat ist der November. Da oben, scheints, ist immer November.

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