16. Mai 1912. Ein ungewöhnlich warmer Tag. Windstill liegt Gills Bay. Die Spätfähre nach St. Margarets Hope legt an diesem Abend ohne Private John W. Banks ab. Nachdem der junge Rekrut im Regiment der Gordon Highlanders sich ein Herz gefasst hatte und seiner angebeteten Anne Munro einen Heiratsantrag gemacht hat und sie ihm ein klares Ja gegeben hat, feiert er mit seinen Freunden im Schwarzen Krug. Er soll nicht ahnen, dass die politischen Nachrichten dieser Tage, die von den meisten Menschen nur für ein Säbelrasseln ihrer adligen Staatsoberhäupter gehalten werden, schon bald einen Weltkrieg auslösen werden, den er nicht überlebt.
Thurso erinnert mich an Pajala, Lappland, eine der letzten Städte Schwedens im Dreiländereck zu Finnland und Norwegen. Kahle Zweckwohnbauten säumen den Stadtrand. Tankstellen, Gewerbeflächen, Firmengelände. Statt krüppligem Wald, wie Pajala, ist Thurso umringt von Weiden.
Trotzdem bin ich froh um das Zimmer im Waterside. Nordwinde haben die Gegend voll im Griff. Einen Zeltplatz zu finden, der genug Windschutz bildet, wäre pures Glück. Das Zimmer riecht ein bisschen schimmelig und das Fenster hat eine einen Zentimeter breite Ritze. Nicht sehr warm trotz voll aufgedrehter Heizung. Raus aus Thurso führt der Radweg 1 über den Thurso River, östlich der Stadft auf schnurgeraden Countryroads druchs Hügelland.
Bei Castletown wird die Gegend endlich wieder interessant. Gigantische Meeresbucht. Sandstrand. Auf Inchs und Neils Tipp hin, radele ich über Brough hinaus zum Dunnet Head. Dem allernördlichsten Punkt auf dem schottischen Festland. 3 Meilen gegen den Wind durch eine unbeschreiblich schöne Ginsterwüste. Ich weiß nicht, ob ich den Weg gemacht hätte, wenn der Wind in die umgekehrte Richtung geweht hätte. Zu sehr hätte mich das Sackgassengefühl beängstigt, ich müsste ja dann zurück gegen den Wind. Stunde hin, zehn Minuten zurück, Liebling, so war mein Tag. Auf der Landzunge gibt es massenhaft gute Wildzeltplätze, auch einen sehr gut gegen den Wind geschützten Platz finde ich in einer Sandgrube, wo ich mich für zehn Minuten unterstelle (neben der senkrechten etwa drei Meter hohen Abbruchkante – der Wind weht den Regen horizontal über mich hinweg). Der Head selbst ist nicht so spektakulär. Just, als ich eintreffe, jagen zwei Tiefflieger über den Leuchtturm. Schmerz! Testosterongefüllte Natodeppen. Der Leuchtturm, naja. Kurzum: der Weg dahin ist wie bei so vielem, besser, als das Ziel.
Zurück mit 40 Sachen und über einen Ort mit dem Namen Barock auf den N1, der parallel zur nicht sehr stark befahrenen A836 führt. In der Nähe eines Kriegerdenkmals überholt mich ein schwer bepackter Radler aus Oxford. Er will nach John o‘ Groats und dann gleich wieder zurück auf der beliebten Strecke zwischen dem Nordosten und Südwesten der Britischen Insel. Tse. In dem Moment kann ich gar nicht verstehen, warum er in JOG gleich umkehrt und am heutigen Tag schon wieder zurückradelt. Bei dem Sturm. Beim Kriegerdenkmal mache ich im Windschutz der Mauer, mit der es eingezäunt ist, Pause. Die Sonne wärmt. Ich kann sogar meinen Helm auf den Boden legen, ohne dass er weggepustet wird. Lese die Namen, die Daten, auf vier Seiten des Steins sind etliche Regimenter notiert und etwa zweihundert Namen von Menschen, die nicht mehr leben. Die vermutlich nie die Chance hatten, ihr Leben so zu leben, wie sie es für richtig gehalten hatten. Ich konnte Krieg nie verstehen. Die drastische Zwangslage, in einem Regiment zu dienen, einkaserniert mit Männern gleichen Alters, mit denen man im normalen Leben im Pub allerhöchstens mal ein Bier trinken würde und über das Wetter schwätzen. Monatelang der Willkür höherer Käfte ausgeliefert, unkomptenter Vorgesetzter, fanatischer An-Irgendwas-Glauber und Dafür-Kämpfer und andere in die Scheiße Reinzieher.
Froh, nie gedient zu haben, versuche ich mich in das Leben der jungen Privates Unt. Lieutenants hinein zu denken. Aristokratie, Kaiser, Königin, 1912 war das Leben und das Denken und das Empfinden der Menschen völlig anders. Ich habe einmal gehört, dass man 1914 auf allen Seiten voller Begeisterung in den Weltkrieg gezogen ist. Ob das stimmt? Ob die Leute heutzutage auch noch so begeistert in den Krieg ziehen? Hat es sich angefühlt, wie wenn man in einem Fanbus voller Ultras zu einem Fußballspiel fährt?
Kurz vor JOG treffe ich zwei Radler ohne Gepäck. Sie sind von Landsend gekommen, paar Wochen geradelt, hatten durchwegs Sauwetter, so wie ich – weg mit dem Mythos Westküste hatte Gutwetter. In Thurso haben sie ihr Gepäck im Hotel gelassen, radeln die letzten Meilen nur, um es abzuhaken.
Plötzlich da. Kein bewegender Moment. Busparkplatz, Fährhafen, Coffeeshop, Touribuden. Fast alles zu. Der Campingplatz ist schön, aber es gibt kaum windgeschützte Plätze. JOG ist enttäuschen. Die kleine Orkneyfähre schaukelt im Hafen und auf einem Hügel darüber steht ein Wegweiser: Landsend achthundertsoundsoviel Meilen, Nordpol soundsoviel und ein Platzhalterschild mit „Your Town“ ist angebracht, auf dem man seine Stadt mit Lettern schreiben kann. Das Schild ist eingezäunt, eine winzige Bude daneben, in der ein Mann friert. Wenn man sich unter dem Schild mit eigenem Ort fotografieren lassen möchte, kostet das etliche Pfund. Die beiden Engländer, mit denen ich in JOG eingelaufen bin, machen ein Foto von mir vor der Absperrung. Griesgrämig starrt uns der Fotograf aus der Bude an. Fast wie ein Tier im Zoo.
Um Punkt 15:30 baut er das Schild ab, schließt die Bude, nimmt die Absperrung weg. Tse. Später, bei näherem Betrachten der Bude, entdecke ich allerlei Fotos, die in Schaukästen außen dran hängen. Kriege Mitleid mit dem Fotografen. Offenbar handelt es sich um eine uralte Idee, fast schon serielle Kunst, wieviele tausend Fotos wohl auf die Art an dem Ort entstanden sind? Eine großartige Sammlung muss das sein: Radler, Wanderer, Gruppen, Familien und ewig gleich sind die Schilder Richtuing Landsend und Nordpol und stets anders die Orte, aus denen die Fotografierten kommen. Manjarin fällt mir ein Nähe Foncebadon auf dem Jakobsweg. Dort oben in den Bergen steht auch eine ganze Menge Schilder – ich glaube, im Jakobswegbuch habe ich sogar ein Foto davon gezeigt. Dort könnte man das JOG Konzept 1:1 umsetzen.
Mit der Fähre verlasse ich um 17 Uhr das Schottische Festland.
Puuh, war der Artikel anstrengend, seit 3:13 MEZ nachts schuften. Nun kräht der Hahn. Es dämmert.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Wie weit Du schon gekommen bist! Pure Bewunderung aus der warmen, kaum testerongefüllten Friedensstube.
Wieso radeln Leute irgendwo, um was abzuhaken?
Das fragt eine ohne jeden sportlichen Ehrgeiz.
Deiner ist ja auch nicht sportlich, sondern….
Ich weiß, im dumpfigen Schlafstübchen dämmern, ist keine Alternative.
Das Leben muss gelebt werden, auch in Ginsterparadiesen und unter unspektakulären Leuchttürmen und griesgrämig Dasimmergleichefotografierenden.
Ich stelle mir vor, dass Du ab jetzt nur Rückenwind hast?
Gruß von Sonja
Auf der Fahrt nach Kirkwall die „Italien Chapel“ nicht vergessen. Nach der „Churchill Barrier Nr 2“ und kurz vor der 3, rechts abbiegen, ca 300m. Wurde von italienischen Kriegsgefangen im WW2 erbaut. Ist sehenswert. Weiterhin gute Reise. Das Wetter in N wird Dir wohlgesonnt sein.
Speedy49
lieber Irgendlink,
was du zum soldatentum und zur kriegstreiberei schreibst spricht mir aus dem herzen. sicherlich hat eine frau noch einmal eine andere sicht auf diese dinge, und doch, es gibt ja auch soldatInnen. ich kann weder die männliche, noch die weibliche seite nachvollziehen. was treibt den menschen andere niederzumetzeln anderes, als propaganda, hassegeschüre auf den vermeintlichen feind und am anderen ende die gier? gier nach mehr land, mehr rohstoffen etc. eine neverending story, wie mir scheint, aber vielleicht lernt mensch ja doch noch? die hoffnung stirbt zuletzt.
etwas abhaken wollen, das gibt es wohl auch nicht nur bei den radlern. erlebte es schon ich den siebziger jahren in norge, wo menschen einmal hoch und flugs wieder runter fuhren (mit auto/zug etc.) nur um ein foto von sich am nördlichsten punkt gemacht zu haben. der ebenso unspektakulär sein soll, wie der nördlichste punkt schottlands, den du beschreibst.
eine knipsbude… da ist sie wieder, meine idee, und dort auch umgesetzt. wäre der fotograf ein künstler, was könnte er mit diesen bildern alles tun!
ui, was für ein langer kommentar- jetzt aber flugs aufgehört und dir einen weiteren erholsamen pausentag gewünscht. von herzen Li Ssi
Du erwähnst diese Ginsterlandschaften bei uns auf der Insel, das ist Gorse (Stechginster, auch eine Bachblüte) und das Sprichwort sagt, solange der Gorse blüht, darf man nette Mädchen und nette Jungs küssen – und, zumindest hier in Norfolk, blüht immer ein Gorse-Strauch so leuchtend gelb.
Well, dieses Abhaken … ich kenne das auch. Auf einer Expedition in die Hoch-Arktis ging es mir u.a. darum, möglichst nah an den Nordpol heranzukommen – 85 Grad N wären toll gewesen (ich bin ja bescheiden ;-) ), ich hab`s aber nur bis 82 Grad N und ein wenig mehr geschafft, voll blöd, konnte nix abhaken.
Siri und SelmaFee sind zu Dina nach Norwegen geflattert, um mit ihr den Nationalfeiertag heute zu feiern, ich sitze zu Hause, werde gleich die Tomaten gießen und wünsche dir nun auf deiner Rückreise Wetter vom allerfeinsten.
Liebe Grüße
Klausbernd