Er
Die Träume verfolgen ihn wie fast jede Nacht. Im Schlafsack wälzt er sich hin und her, während das schwarze Ding auf ihn zu braust. Mit den Kabeln sieht es aus wie eine Höllenmaschine. Grün funkeln zwei LEDs, künstliche, tote Äuglein. Es springt, landet auf seinem Bauch, dumpfer Schmerz, er erwacht. Die Blase drückt. Er muss raus. Zuerst verwechselt er die Toilettentür, versucht vergeblich, den Code, der in Britannien an den meisten Campingplatztoiletten auf einer silbernen Tastatur einzugeben ist, bei der Damentoiltette einzugeben. Schlaftrunken mit voller Blase findet er endlich das Männerklo, erleichtert sich. Die Lüftung surrt. Das Nachtlicht flackert. Was ist das da hinten in der Ecke neben dem Waschbecken? Wieder diese grünen Augen. ES! Langsam dividieren sich Traum und Realität. Das ist nicht das Monster aus dem Traum, die Höllenmaschine. Das ist echt! Kupfer, Kabel, LEDs, ummantelt von schwarzem Kunststoff. Er zieht den Stecker, schiebt es in die Tasche seiner Jogginghose, geht. Die Morgendämmerung ist nah.
Ich
Es ist schon hell. Seit ich den Seidenschlafsack habe, friere ich nicht mehr. Die topfebene Wiese auf dem Campingplatz Dingwall ist so bequem, dass ich mich noch einmal umdrehe, weiter schlafen könnte, aber mein Hirn ist längst damit beschäftigt, Wahrscheinlichkeiten auszurechenen, nach denen mein Akku, den ich im Badhaus lade, entdeckt worden sein könnte, womöglich abhanden gekommen sein könnte. Der Platz und die Leutchen hier wirken so friedlich, so reich in ihren Wohnmobilen, dass ich es für ausgeschlossen halte, dass das Ding nachher, wenn sie alle aufstehen, geklaut werden könnte. Dennoch, man kann nie wissen. Die Wahrscheinlichkeit für den Verlust steigt mit jeder Minute. Um sechs Uhr Ortszeit habe ich Gewissheit: mein Zusatzakku ist weg und wie die Blogeinträge zuvor zeigen, er taucht auch nicht mehr auf. Seit einigen hundert Meilen versuche ich, in Computerläden und bei Fahrradgeschäften und in Telefonläden, einen neuen Zwischenakku zu kaufen, den ich mit dem Radnabendynamo laden kann und der mein iPhone auflädt. Eine Pufferbatterie. Bisher sind alle Versuche gescheitert. Ich hatte es aber auch nicht allzu eilig, habe alle Tipps für Fachläden, die man mir gab in Berwick, in Sunderland, in Whitby und so weiter, ausgeschlagen, weil sie mich mit dem Fahrrad über Meilen auf einer Hauptstraße in die Gewerbegebiete großer Städte gebracht hätten.
Das zwei Jahre alte Ding, das mir schon auf der Radtour nach Andorra gute Dienste geleistet hatte, hat zwar einen Wackelkontakt, aber mit etwas Geschick und ein bisschen Isolierband, kann ich den Stecker des Nabendynamos so fixieren, dass Strom gesammelt wird. An Steckdosen, rüttelfrei, lädt es prima, wenn man es in die richtige Lage bringt. Ein schwer zu reitendes Pferd zweifellos. Niemand kann damit etwas anfangen. Für meine Reise ist es ein elementarer Ausrüstungsgegenstand, fast so wichtig wie Handschuhe.
Der Kardiologe
Ein Herz fragt Ihr? Ihr wollt wissen, wie ein Herz funktioniert? Und ich darf keine Fachausdrücke verwenden, damit man nicht merkt, dass meine Erklärung von einem ahnungslosen Blogger namens Irgendlink geschrieben wurde, der nur so tut, als schreibe ein Kardiologe, höhö, es aber so klingen soll, als würde ein Herzspezialist erklären, ein Herz ist ein Muskel, der verbrauchtes Blut voller CO2 aus den Muskeln rauspumpt und frisches Blut im Körper verteilt, hat ungefähr zwei bis drei Kammern, ist im Prinzip hohl, ein Muskel, der nie ermüdet, der nie verkrampft, das macht ihn so besonders. Das Herz ist das wichtigste Organ im menschlichen Körper. Der Motor quasi. Wenn es steht, stirbt alles. Deshalb könnte man es durchaus mit dem Akku vergleichen, den Irgendlink, der vorgibt, ein Kardiologe schreibt diese Zeilen, benötigt, um sein live gebloggtes Reise-Kunst-Projekt „Ums Meer“ durchführen zu können. Die Geschichte, die er gleichzeitig erlebt und niederschreibt und fotografisch dokumentiert, lebt davon, permanent in seinem Blog gezeigt zu werden. Wie das menschliche Blut, so darf der Datenstrom nicht einen Tag still stehen.
Oke, nochma zum Mitschreiben: Herz, Hohlmuskel, elementar, nie Stillstand. Wenig genug Fremdworte?
Crank II
Ein Actionfilm mit ironischem Touch. Der Protagonist erwacht auf dem Operationstisch, angeschlossen an Maschinen und Kanülen und Elektroden. Sein Herz galt als das beste Herz der Welt, weshalb ein reicher Geschäftsmann es ihm kurzerhand hat explantieren lassen, es sich selbst einpflanzt und dem Helden gnädigerweise ein elektrisches Kunstherz überlässt. Einen Spielfilm lang ist der Held auf der Suche nach dem Geschäftsmann, um sein echtes Herz zurückzuholen. Akkuprobleme führen immer wieder zu grotesken Szenen, weil der Akku des Kunstherzes aufgeladen werden muss. Auf dem Highway stoppt er etwa einen Wagen, öffent die Mortorhaube und klemmt Überbrückungskabel an Brustwarzen und Autobatterie, um den Kunstherzakku zu laden. In einem voll besetzten Fußballstadion kopuliert er mit seiner Freundin vor dem Tor, weil Reibung statische Ladung erzeugt … die rasante Busfahrt von Dingwall nach Inverness kommt mir vor wie Film, rasant, unaufhaltsam und stoisch zugleich. In Dingwall habe ich alle Läden abgeklappert, die einen Ersatzakku verkaufen könnten.
Dass ich nun im Buss sitze ist purer Zufall. Vielleicht wegen des Regens, der wenig Lust zum Weiterradeln macht? Oder ist es mein Instinkt, die Beharrlichkeit, selbst winzige Chancen wahrzunehmen? Hoffnung? Aus dem Busfenster tut sich eine Welt auf, die einem als Radler verschlossen ist: Industriegebiete, Gewerbegebiete, Orte des Kommerz am grauen Band, das niemals endet. Umsteigen in Inverness, raus in den Retail Park. Das Maplin. Eine Art Mediamarkt, nur viel kleiner. Nebenan ein gigantischer Tesco Monstermarkt, Outletläden, Mode, Tankstelle und ganz hinten ein Gartenmarkt namens Homebase. Den muss ich unbedingt fotografieren für SoSo in der Homebase.
Maplin verkauft mir anstandslos genau den Akku, den ich benötige, schon geladen. Ich bin so glücklich, dass ich gar nicht merke, dass Glück ebenso lähmend für die Kreativität sein kann, wie Unglück, vergesse das Homebase-Foto. Schon sitze ich in einem 17-Sitzer Flughafenbus, der Fahrer nimmt mich ausnahmsweise mit zurück in die Innenstadt. Erstmals erlebe ich einen ungeduldigen Inselbewohner, der hupt und flucht und droht im Straßenverkehr. Rasanz pur, umsteigen in Inverness, keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. In einer Mischung aus Glück und Hektik und Reflektion, was die Ereignisse des Tages betrifft, drifte ich durch die Gegend am Bahnhof, muss die Linie 27 suchen, die mich nach Dingwall zurückbringt.
Was geschieht mit mir? Wieso bin ich so weit außer der Mitte, nur wegen eines simplen, technischen Geräts? Vielleicht ein Kratzen am Verständnis über die Bedeutung dessen, was ich tue? Man kann es sehen, wie man will: es könnte sich bei dem, was hier geschieht, in Inverness – Mann mit Bus unterwegs, Dinge gekauft, weit weg von daheim – einfach um eine Fahrradreise handeln. Aber es geschieht mehr: die Sache wird digitalisiert. Es gibt, wie die Kommentare in Echtzeit zeigen, mindestens acht Menschen, die mitfiebern, die sich für das virtuell reale Ding, das hier läuft, interessieren. Und es ist blanke nackte Kunst, eine Kunst, die es so vielleicht noch nicht gegeben hat, schwer darstellbares Zeug, das vielleicht nie die Nische der digitalen Welt verlassen wird. Aber es muss entstehen, es muss weiter wachsen. Die Reise must go on.
Schlage, mein Herz, schlage. An der Bushaltestelle Nummer fünf am zentralen Busbahnhof Inverness steht ein grummelnder alter Kerl neben mir mit übervollen Einkaufstüten. Redet er mit mir? Oder mit sich selbst? Hört er, was ich denke? Rede ich etwa, was ich denke? Ist er verrückt, oder ich? Eine überbräunte Russin mit fettigen Bäckchen, eine winzige alte Dame, die in ihrem Koffer Prospekte sortiert. Es hat aufgehört zu regnen. Ein Punker ohne Irokesenschnitt mit Nasenring, knallenger Hose, Tatoos und Krücken. Alle wollen auf den selben Bus. Du musst sie aufschreiben! Sie sind schön, sie sind bunt, sie sind einzigartig. Sie alle wird es nicht mehr geben, wenn erst ihr Herz steht. Nur jetzt sind sie. In dieser Konstellation kommen wir nie nie wieder zusammen. 14:27. Der iPhoneakku zeigt fast 100 Prozent. Per SMS buche ich einen neuen Wochen-Datenpass für 14,95 €.
Stille
Gleich wird Künstler Irgendlink den Waldweg hinauffahren bis zur Bank beim Wanderparkplatz Glen Aldie. Durstig, hungrig, müde, glücklich und er wird sich für eine Weile hinsetzen, hoffen, dass die Sonne hinter den Wolken hervorlugt, die sich in den letzten 30 Kilometern seiner Tagesetappe seit Dingwall ab und zu gezeigt hat. Er wird so voller Gedanken sein, dass er an einem bombastischen Blogartikel dichten wird, den er unmöglich für veröffentlichbar halten wird. Er wird an einer bizarren Mischung verschiedener Sichtweisen des heutigen Tags dichten und das Ganze mit ein bisschen nordschottischer Landschaft abzumischen versuchen, wobei er darauf pochen wird, dass der Mensch doch eigentlich friedlich wie ein Lamm auf der Wiese liegen könnte, umgeben von Wolle.
Wer ich bin?
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Tatsächlich ein bisschen bizarr ;-) Aber das macht den Reiz aus.
Gutes Radeln weiterhin,
April
Acht? Es sind mindestens neun. Addiere die Immerguens dazu, die auf der heimischen Terrasse mitfiebern.
Gruss an Dich und Dein Herz, die Immergruenen aus der Hochstrasse
Ah, liebe Immergruens, was hab ich schon oft an Euch gedacht, unser letztes Beisammensein mit Henkersmahlzeit und den Bildern, die mir Herr Immergruen ins Hirn tätowiert vom Wind und Wetter in Schottland. Wie recht Du hattest.
Aber große Netzlüclen gabs bisher nicht. Am Drumochterpass zeitweise. Und heute erwarte ich wieder zwanzig Meilen ohne Netz. Mittagspause bei den Falls of Shin.
lieber Irgendlink!
doch… auch ein Herz kann krampfen!
Und es krampft… zum Beispiel vor Schreck. Weil irgendwer sich von grün leuchtenden Augen hat verführen lassen. Und dann erst geht ein Krampfreigen los, bis das Herz im Hintern, oder wo auch immer noch, wieder lacht… :o)
„Du musst sie aufschreiben! Sie sind schön, sie sind bunt, sie sind einzigartig. Sie alle wird es nicht mehr geben, wenn erst ihr Herz steht. Nur jetzt sind sie. In dieser Konstellation kommen wir nie nie wieder zusammen. “
DAS ist sooo schön! danke
und winke winke… ;o)