Der Weg ist nicht der Weg

Seit Sunderland schon, das ist jetzt zwei Wochen her, geht mir der „Weg“ nicht mehr aus dem Sinn. In Sunderland habe ich Michaels Blogbericht vom letzten Jahr, der noch immer gut erhalten im Internet liegt, aufgerufen. Und stelle fest, dass er auf den Tag genau vor einem Jahr in Sunderland übernachtet hatte, bevor er auf der Norseeküstenroute nach Schottland weiter ackerte. Ich lese seine Tagesetappen, während ich selbst die gleiche Strecke radele. Stelle fest, dass mich das insgeheim unter Druck setzt. Wie weit ist er damals gekommen? Werde ich „rechtzeitig“ am Fährhafen sein? Werde ich am Abend eine schöne Unterkunft finden? Wo lagen seine Probleme? Wie kann ich sie umgehen?

Aber verflixt. Das darf doch nicht wahr sein! Auf diese Art eine Unruhe in die ansonsten elegant verlaufende, träumerisch gegenwärtige Reise zu bringen. Gegenwart, das ist es doch, was du willst, Herr Irgendlink. Nichts vor dir, nichts nach dir, nur du und dein Weg. Weder willst du eine Vorlage schaffen für andere, die gleiche Strecke zu erradeln, quasi in die Fußstapfen des heldenhaften Nonames zu treten, der du faktisch bist, noch willst du dich an die „Regeln und Gesetze“ halten, die andere aufgestellt haben, indem sie zufällig den gleichen Weg benutzt haben. Der Weg ist immer neu und immer frei. Er ist wie Worte und Buchstaben. Jeder Buchstabe, gib mir ein E, wurde schon Milliarden Mal geschrieben, ach was, wird in diesem Moment Milliarden Mal geschrieben. Jedes Wort wurde unzählige Male gesagt, gedacht, geschrieben, ja, wird es in diesem Moment in allen Sprachen der Erde. Dennoch entstehen immer neue Kombinationen aus Worten. So einzigartig wie Michaels Weg im Mai 2011 und wie sein Bericht darüber, so ist auch dein Weg und dein Bericht. Und so wird es auch in 400 Jahren noch sein. Wenn es dann noch Menschen gibt und Straßen. Mit ein bisschen Glück, wenn die milliardenteuren Navigationssatelliten noch am Himmel hängen und die Bits und Bytes noch existieren, aus der Dein Kunst- und Reiseprojekt besteht, wird irgendjemand auf die Idee kommen, die „Original-Bildstandorte“ aufzusuchen und nachschauen, was davon übrig geblieben ist. Auch er, oder sie, nennen wir ihn oder sie der Einfachheit halber Knildnegri, wird letztlich zu dem Schluss kommen, dass es keinen Sinn macht, den Weg der Vorangegangenen  akribisch nachzuvollziehen. Vielleicht ist es wie mit Worten, die sich automatisch ihren individuellen Weg suchen zu einem individuell geformten Stück Text und die nie nie nie in ihrer Zusammensetzung gleich sind. Man stelle sich das vor, heute setzt sich einer vor die Tastatur und fängt an zu schreiben an einem großen Roman, sagen wir Faust, ohne je von Goethe gehört zu haben und wenn er nach ein paarhundert Seiten endet, hat er aufs Wort genau den Original-Faust geschrieben, ahnt nicht, dass es das alles schon gibt …

Es gibt vielleicht keine unbegangenen Wege auf diesem Planeten. Alles was ist, und wohin ein Lebewesen gehen kann, wurde begangen. Von Menschen, von Affen, von Dinosauriern, von Außerirdischen, von Einzellern von Spezies, von der wir heute noch gar keine Ahnung haben, dass sie einmal existiert haben. Sie alle haben die Strecke erlebt, genau wie du, Mister Irgendlink, der du dich ab Kinross von der „Original“-Nordsee-Küstenstrecke aufgemacht hast ins Inland. Warum? Um die Highlands zu erleben, und weil du eine Vorstellung hattest von der Strecke Nummer 7 zwischen Inverness und Glasgow. Ein malerisches Highlight deiner Reise hast du dir zurechtgezimmert, ein Schmankerl, das sich im Kern, beim Pass of Drumochter, als eine gewundene ehemalige Bahnstrecke entpuppen würde, die durch eine grüne, menschenleere Schlucht führt, mit Tunneln und Hängebrücken, Wasserfällen und Felsen. So hat dein Hirn in Kinross geflunkert, um dich in die Berge zu locken, die sich als unspektakuläre, von kargen, braunen Büschen bewachsene Etwase herausstellen sollten, und dein imaginärer Bahnstreckenradweg mit den Tunnels und Hängebrücken entzaubert sich als stinknormale Landstraße, die auf einer zerfallenden Strecke zwar trafficfree, aber sehr nah bei der neuen, autobahnähnlichen A9 verläuft. Von Romantik keine Spur, sieht man einmal von deinem gestrigen Wildzeltlager direkt am Bach ab. Du wuschst dein Geschirr, du packtest das Zelt, du schuftetest dich enttäuscht nur noch 500 Fuß höher bis zum weitläufigen Drumochter, Regen setzte ein. Das Reisen war dennoch nicht trist, aber es war auch nicht schön. Betrogen fühltest du dich um das Wahr-werden deiner Vorstellung. Hattest du nicht etwas von „The Gap“ geschrieben, dem ominösen Sprung, den das noch immer nicht durch Dich erforschte Enneagramm bereit hält? The Gap ist der Sprung in der Mitte des zu durchlaufenden Schemas. Das, wofür man Mut braucht. Wo man etwas riskieren muss. War nicht die Reise von Anfang an als eine Mitte-des-Lebens-Reise gedacht? 46 Jahre bist du. 46 mal 2 gleich 92. Mit ein wenig Glück …

Das uralte Prinzip des Labyrinths besagt, dass man sich auf der Suche nach dem Zentrum zunächst auf gewundenem Pfad dem Kern nähert, ihn aber nicht erreicht und in dem Moment, in dem man fast dort ist, sich wieder bis ganz nach draußen bewegt. Eine seltsame Kontraktion des Sich-dem-Ziel-näherns und sich wieder Entfernens. Schier verzweifeln könnte man daran, wenn man ahnt, wie nahe man ist, und wie weit man sich wieder entfernen muss, um letztlich  zum Kern vorzudringen. Ein Labyrinth im klassischen Sinn ist eine einfache Sache. Man muss den Weg gar nicht kennen. Man muss ihn nur gehen. Wenn es aus nur einer Wand besteht, streift man am besten mit dem rechten oder linken Arm daran vorbei und macht die Augen zu, ignoriert sämtliche Sackgassen. Da man Kontakt zur Wand hält, wird man sie hin und zurück durchlaufen und man wird stets wieder auf die Hauptstrecke kommen. Bis zum Zentrum. Von dort gelangt man auf die gleiche Weise wieder hinaus. Ist der Gap und das Zentrum des Labyrinths und meine Mitte des Lebens identisch?

Vom Drumochter Summit – nur etwa 450 Meter hoch mit dem Radel schnell erklommen, Steigung selten größer, als 4% – rolle ich Ewigkeiten abwärts, stets in der Nähe der neuen A9, manchmal auf einem knapp einen Meter breiten, holprig geteerten Pfad direkt daneben. In den Bergen Schnee, im Tal triste, graubraune Suppe, Rückenwind. Die Radstrecke 7 ist ein Flopp. Wie wohl die 1 an der Küste ausgesehen hätte? Bei Michael kann man seine 1, erlebt im letzten Jahr, lesen. Er ahnt genau so wenig, wie die 7 sich anfühlt, wie ich ahne, wie die 1 sich anfühlt. Zwei begangene Wege im Abstand von einem Jahr sind wie zwei begangene Wege im Abstand von einem Jahr: völlig verschieden. Zudem aus dem Blickwinkel zweier unterschiedlicher Menschen.

Entzaubert Andreas Altmann in einer knallharten Reisegeschichte nicht den fernöstlichen Wohlfühl-Weg-Wort-Klassiker: „Der Weg ist das Ziel“ und sagt, „Der Weg ist der Weg“, so muss ich widersprechen: Der Weg ist noch nicht einmal der Weg.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

7 Antworten auf „Der Weg ist nicht der Weg“

  1. Lieber Irgendlink,
    well, die Weisheit des Labyrinths wie die des Enneagramms liegt darin, dass man sich vom Ziel entfernen muss, um es im Zusammenhang zu sehen. Nur Distanz bringt den Überblick. Deswegen führt der Umweg häufig viel produktiver zum Ziel, eine Lehre, die schon Ibsens Per Gynt lernen musste. Ich glaube übrigens nicht, dass der Weg der Weg ist – denn es gibt ja viele Qualitäten den Weg zu erleben (Weg ist nicht gleich Weg). Ich glaube, es kommt darauf, mit welchem Bewusstsein man den Weg erlebt. Und da bist du super, wirklich. Deine „normal philosophischen“ Reflexionen erfreuen mich, ich glaube, darauf kommt es an – für dich wie auch für deine Leser wie mich.
    Eigentlich wirfst du auch die Frage auf, kann man noch etwas Neues machen. Klar doch, da sind wir wieder beim Bewusstsein, man kann mit neuem Bewusstsein seine Taten erleben, wie du es gerade machst. Und das ist der Clou von der Spirale (über die Jill Purce ein anmutiges Buch schrieb) und dem Enneagramm: weder der Weg noch das Ziel zählt, es kommt auf das Bewusstsein an, mit dem man ihn bewältigt (oder auch aufgibt).
    Also weiterhin feines Radeln und Sinnieren, Sonnenschein und Frohsinn wünschen dir
    Klausbernd und die Buchfeen Siri und Selma, Dina ruft „liebe Grüße!“ – sie ist bereits in Norwegen

    1. Klausbernd, Du lieferst mir einmal mehr die nötigen Denkanstöße und einige Puzzlestücke, die mir noch fehlen. Ganz lieben Dank dafür.

      Was ich aus Norwegen höre, ist nicht so erfreulich, rein wettertechnisch. Freu mich trotzdem bald dort zu sein.

      Ich hoffe, wenigstens Ihr „Südländer“ kriegt bald Frühling.

  2. Welch ein feiner Artikel und kluge Kommentare, mir hat das tägliche Irgendlinklesen gefehlt. Das Wetter i Norge ist durchwachsen, aber überwiegend schön, es kann sich täglich noch bessern!:-)
    Herzliche Grüße aus Fredrikstad,
    Dina

  3. So wie Du den Weg schilderst als «…ein Schmankerl, das sich im Kern, beim Pass of Drumochter, als eine gewundene ehemalige Bahnstrecke entpuppen würde, die durch eine grüne, menschenleere Schlucht führt, mit Tunneln und Hängebrücken, Wasserfällen und Felsen»: genau so stelle auch ich mir die Highlands – trotz Deiner Beschreibung! – vor. Und so werd ich sie mir auch weiter vorstellen. Denn Du hast vielleicht nur eine schlechte Zeit erwischt, eine, in der der Nebel zwischen den Welten Dir den Blick auf genau diesen magischen Kern nicht erlaubt hat …

    Und wenn der Weg nicht das Ziel und nichteinmal der Weg ist: Deine Suche nach Sinn und Schönheit und WahrheitErkenntnis ist das Ziel und der Weg und der Ausgangspunkt – vielleicht. Aber: Das weißt nur Du, ich kann es nur vermuten, hoffen und voller Spannung nachverfolgen …

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