Mein Halbwissen über die Aboriginies, die australischen Ureinwohner, sagt, dass sie ihr Land in Songlines aufgliedern. Sie besingen besondere Punkte, Quellen, Wasserlöcher, Felsen, markante Stellen im ansonsten kahlen, orientierungslosen Kontinent. So haben sie, an Hand der Lieder eine exakte Karte ihres Landes, die kein Fremder nachvollziehen kann. Von Generation zu Generation werden die Lieder und somit das wichtige Wissen, wo ist die nächste Wasserstelle, wo finde ich Nahrung, weiter gegeben. Die Strecke wird zum Informationsträger.
Das Denken in Strecken, das ich den Engländern zu Beginn meines Auftenthalts auf der Insel unterstellt habe, kommt mir in den Sinn. In der Gegend um Dover waren die Ortsangaben in den Touristenprospekten nicht etwa XY-Straße Haus Nummer soundsoviel, sondern: raus aus der Stadt 1,5 Meilen über die XY Straße Richtung Z, dort auf der linken Seite liegt das, was du suchst. Streckendenken.
Vor fast 20 Jahren, als ich die erste Kunststraße gebaut habe, war mir das Streckendenken, das ich dabei anwende, noch nicht bewusst. Intuitiv habe ich die Kunststraße, bei der ich alle 10 Kilometer ein Foto der bereisten Strecke mache, als Artline bezeichnet. Analog zu den Songlines der Aboriginies. Erst 2010, bei der Wiederbegehung der Kunststraße Zweibrücken-Andorra, ist mir klar geworden, wie sehr wir uns anhand der Wege, die wir zurücklegen, eine Merkstrecke basteln. Erinnerungen werden an markanten Punkten verankert. Superdenker wenden dieses Prinzip an, um sich scheinbar zusammenhangloses, etwa eine Zahlenkette, bestens zu merken. Anstatt sich die Ziffern selbst zu merken, machen sie in Gedanken einen Spaziergang durch ihr Wohnzimmer: Sofa gleich 5, Tisch gleich 8, Schrank gleich 3. Und so weiter.
Manchmal sind die Radwegeschilder mit Farbe besprüht, oder zertrümmert. Ein Angriff auf das Gedächtnis?
Bemerkenswert in der Rezeption des Gallowhill-Zeltplatzes ist die Wand im Flur, grün oder rosa gekalkt; mit Klebestreifen hängen verschiedene Zettel griffbereit neben der Eingangstür: „Bin im Garten – Bin in 10 Minuten zurück“ und so weiter. 10-20 Stück in verschiedenen Farben mit der die pfiffige Besitzerin den Gästen Mitteilungen macht. Die Rezeption ist im Farmhaus, der Zeltplatz auf einer fein gemähten Wiese dahinter.
Wenn ich mir die Tasgesstrecke auf der Karte betrachte, kommen die Erinnerungen an die kleinen Ereignisse, aus denen sich der Tag zusammensetzt: Über die fast menschenleere Gegend um Stronachie und Path of Condie nordwärts, Pause in der Sonne vor Kuhweide, null Autos in einer halben Stunde, steil ab, steil auf, und wie mich die Strecke an die Königsetappe in Zweibrücken Andorra erinnert: von Chappeauroux am Allier über drei Pässe bis nach Le Pont de Montvert am Tarn. Knapp 100 Kilometer Berg und Tal. Eine Gegend wie Mont Lozère durchquere ich. Im Norden erkenne ich schneebedeckte Hänge. Ein Wanderer prognostiziert, dass ich Schnee haben werde. In einem Vorgarten weissagt einer, dass es bis Minus sechs Grad kalt werden soll, weshalb ich in Perth, das gut bestückt ist mit Fußgängerzone und allerlei Läden, auch Outdoorläden, Thermounterhose, Seideninlay-Schlafsack, eine Weste kaufe. Präpariert für Winter, sowie eine Flasche Brennspiritus für abartig teure 3,89 Pfund (Halbliter). Auf der Flasche, die mir vor zwei Wochen in den Fenlands geschenkt wurde, klebte ein Zettel 1,98 Pfund. Später kaufte ich für 2,99 Pfund. Nun das. So kann ich mich an die vermutlich abartigen norwegischen Preise gewöhnen. (Normalerweise hätte ich in der Stadt noch andere Läden besucht, um den Brennstoff billiger zu kriegen, dachte mir aber, ich kaufe für 1,99 und mit den restlichen 2 Pfund kaufe ich mir die Entspannung, nicht mehr suchen zu müssen, nicht mehr das Rad unbewacht in der Fußgängerzone stehen lassen zu müssen, nicht mehr rennen, Ruhe kaufe ich und Wärme). Der Spirituskocher eignet sich bestens, um das Zelt innerhalb von Minuten in einen schwitzhüttenähnlichen Zustand zu versetzen.
Raus aus Perth entlang des River Tay, vorbei an Golfplatz, Vororte, Angler, Hochzeit, bei der die Männer im Kilt vor den Kameras posierten. Weitab vom Meer nun, folge ich der Radstrecke 77, die in Bankfoot auf die 7 mündet, welche Inverness und Glasgow miteinander verbindet. Hinter Bankfoot ein Schild: Inverness 104 Meilen. Zwei-drei Tage schuften. Die 7 führt vorbei am Loch Lomond. Ich habe Lust auf Berge. Ein grün gezeichnetes „trafficfree“-Stück im Kern der Strecke hat mir den Mund wässrig gemacht. Es führe über den höchsten Transportweg Großbritanniens. Das Gap of Dunloe von Schottland, die Porte de Envalira des Nordens, der Kyberpass der westlich zivilisierten Welt. Nur anhand der Karte und meiner Erinnerung, entstehen Bilder von der Strecke, die ich nie zuvor bereist habe. Ist das was vor mir liegt wie die Königsetappe in Zweibrücken-Andorra? Oder wie damals in Irland das Gap of Dunloe, Ginsterbüsche, Pferdekarren, Souvenirsladen auf der Anhöhe?
Ich durchquere Waterloo, erreiche den überfüllten Campingplatz von Inver, fahre ein Stück weiter und finde in einem urigen Fichtenwald eine wunderbare Wilkdzeltgelegenheit. Kaum 1 km vom Camping entfernt.
In Dunkeld, gleich nebenan, wummert ein Fest. Open Air Konzert vermutlich. Die Bässe kommen bis zum Zelt, stören aber nicht. Nachts im Halbschlaf birnge ich das Bassgewummer aber in Zusammenhang mit dem Rascheln von Wildtieren, weshalb im schlaftrunkenen Zustand aus einem Reh , Hasen oder Fuchs ein riesiger Elch wird, stampfend und raschelnd, oder ein „Galloway“, wie Emil schreibt. Zum dritten Teil von Lind Kernigs Abenteuern aus der Zukunft bitte hier klicken.
Die Kunststraße Zweibrücken-Andorra findet sich bei Irgendlink unter der Rubrik Kunststraßen. Mit Links zu den iPhonefotos als animierte Landkarte.
(sanft redigiert, mit Links bestückt und gepostet von Sofasophia)
den einen wird der mund wässrig beim lesen einer landkarte, den andern beim lesen einer menükarte :-)
gute weiterfahrt durch die berge!!!
Guten Morgen, und hoffentlich Sonne und einen stetigen Rückenwind sollst Du heute haben.
Neue Winterausrüstung mitten im Frühling zu kaufen: eine notwendige, verwirrende Geschichte. Da sehe ich mal wieder, wie klein mein Horizont ist: Halle (Saale) ist in Europa, das Wetter in Halle (Saale) ist also auch das Wetter in Europa. Ja, es gibt die Alpen und Spitzbergen – aber der Irgendlink ist ja nur in England/Schottland unterwegs, und dort ist Europa (ohne Extreme) und also das Wetter wie hier. Alles andere würde ja auch meinem Verstand, meiner Erlebniswelt, meinen Erfahrungen widersprechen (obwohl ich schon erlebte, daß es vorm Haus wie aus Eimern regnete und hinterm Haus kein Tropfen fiel, gut eine Stunde lang).
Etwas ähnliches wie diese Verwirrung angesichts Deines Einkaufes von langen Unterhosen im Mai habe ich tatsächlich einmal am eigenen Leibe verspürt. Nie wollt ich nach Bayern, in die Alpenregion. Immer nur Berge rauf und Berge runter. Und dann? Dann war ich in Unterammergau und in dessen Umgebnung unterwegs und habe die Bayern beneidet um ihre wirklich steigungsarmen Radwege, die so viel ebener waren als meine täglichen Wege im Erzgebirge … Für mich ein ganz klassisches Beispiel für das beschränkte Erfassungsvermögen meines Geistes. (Und ja, ich extrapoliere, weil ich ein Mensch bin, auch auf die gesamte Menschheit.)
Ich staune, wie weit du Richtung Inland fährst. Sehr interessant, die Strecke zu verfolgen (danke, SoSo). Du vergleichst sehr viel. Das ist bestimmt auch eine instinktive Methode, um das Gesehene und Erlebte einzuordnen und zu verankern.
Gute Reise weiterhin und hoffentlich keinen Schnee,
April
Frieren und Kälte sind alles andere als nett, aber für „Märchenfrauen“ eben doch inspirierend, zumindest für die neulich versprochene Kinderstory, die, wenn auch etwas entfernt, doch Leser zu deinem Projekt führen könnte. Ich hoffe es mal, dass die Werbetrommel im Märchenwaldblog, mehr aber im Blog „Frühlingsgeschichten“, dir neue Besucher bringt.
Ansonsten wünsche ich dir weiterhin viel Glück und alles Gute und tolle Erfahrungen, ja, und zunächst einmal einen guten und nicht ganz so kalten Tag heute.
Lieber Gruß
Elke,
die seit Tourbeginn jeden Tag durch dein Blog „tourt“ und über das Potenzial künftiger Projekte und Texte, die sich aus dem, was du erlebst, ergeben, staunt …
:)
Liebe Elke, nun hab ich erst die Möglichkeit zum Download – Akku und Empfang waren dürftig seit gestern. Perverser Weise bin ich in einer Art Autobahnraste, die zwischen Radweg 7 und A 9 liegt. Das iPhone trinkt strom und ich Kakau. Und Schnee liegt auch, aber bisschen höher erst. Mein „Pass“ war nur 450 m hoch.
„Australische“ Gedanken in Perth- einer großen Stadt- ebenfalls in Australien
Baba, ich kannte Perth bisher nur als australische Stadt.
ist doch noch spannend, dass wir, je älter wir werden, verwandte landschaften, städte, straßen gleich mit der erinnerung wie damals in… verbinden- dabei wird auch dieses landschaft, diese straße etc. letztlich eizigartig sein und wäre sie die zuerst bereiste, gesehene, erlebete, erfahrene gewesen, dann würdest du ( oder ich oder wer auch immer noch) in andorra denken, ach, das ist ja wie damals in schottland zwischen x und y…
klar, aber kalt und dazu vollmond… nun bist du ja gerüstet! meinen glückwunsch, auf mein seideninlay wollte ich nie mehr verzichten ;o)
gute nacht
Lissi, das ist ein klasse Hinweis mit dem „umgekehrt denken“.
Neues gibts nur noch in den Rotzen des Alltags.
Äh, den Ritzen. Muss das O aber auch so nah neben dem I liegen auf dem glatten Tichscreen :-)