Das Piratennest in der engen Bucht ist ein wahrer B&B-Strich! Schon am Ortseingang treffe ich den ersten Luden, einen freundlichen Mann mit Hund, der mich auf die Frage, ob er denn im Dorf ein B&B wisse, anlächelt, klar, er böte zum Beispiel eins. Für 50 Pfund. Das Devon Haus. Zur T-Junction, also zur T-Kreuzung, dann rechts, zweites Haus, ich könne mir das Zimmer gerne anschauen und ein Platz fürs Fahrrad habe er auch.
Kaum eine halbe Meile denke ich darüber nach, ob es gut ist, dem erstbesten in die Hände zu laufen, nur weil er freundlich ist, und mich für 50 Pfund einzumieten. Dass es nur noch nieselt, sehe ich als Bloggesurteil für einen Campingplatz. Im Dorf reiht sich ein B&B ans andere und auch ein Campingplatz ist in Sicht. Qual der Wahl. Einen bärtigen Zausel frage ich im Shop, wie denn der B&B-Durchschnittspreis hier ist, 50 Pfund okay.
Joaaa … Das geht billiger, sagt die Shopbesitzerin und greift zum Telefon. Wählt drei, vier Nummern, ja, ein Radler aus Deutschland, 40 Pfund okay? Ich nicke. So lande ich drei Häuser weiter im Wayfarer Bistro. Der Besitzer erinnert mich an eine Figur aus Jo Nesbøs Roman Der Erlöser, an einen von zwei Brüdern, der eigentlich groß gewachsen ist, sich aber stets klein und dienstbar gibt. Ein Mann mit Geheimnis.
Morgens sehe ich seine entblößten Unterarme über und über tätowiert, was in England häufig vorkommt. Dennoch male ich ihm eine Seefahrer- oder Bohrinselkarriere in den Lebenslauf. Ob wir alle zwei Gesichter haben? Robin Hood’s Bay hat sie auf jeden Fall. Über eine 30% fallende Straße gelangt man, den aus Treppen bestehenden Gehwegen folgend, bis zum Hafen. Fahrrad binde ich vor dem Wayfarer fest. Das Unterdorf ist verwinkelt, kaum schulterbreite Gassen, überall Souvenirsläden, Cafés, Pubs, Museum. Haus des Küstenwächters. Darin befindet sich ein Infozentrum mit spielerisch aufgearbeiteten Details über die Küste. Durch winzige Fenster starrt man auf die Bucht.
Mit etwas Glück wird der Tag sonnig. Die Nikon kommt auch zum Einsatz, mitsamt Polfilter. Aber es will mir nicht so recht von der Hand gehen. Fotografieren ist für mich in erster Linie eine Gefühlssache. Vielleicht liebe ich deshalb das Smartphone mit seiner vergleichsweise miesen Optik, weil es mir alles Denken abnimmt, und ich mich voll und ganz auf das Um-mich-herum konzentrieren kann.
Der N1 führt weiter über den Cinderrail bis nach Whitby. Über dem Hafen ist meilenweit die Kirchenruine zu sehen, die einst als Kulisse für Bram Stokers Dracula diente. Unheimlich. Auch mit dem Dorf scheint es nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Ein dunkel gekleidetes Paar, er mit Zylinderhut und langem Mantel, sie mit pechscharzem Kleid und zusammen geklapptem Regenschirm, überqueren die Straße. Okay. Hat sich jemand verkleidet. Aber die High Street in der Fußgängerzone ist voll von solchen Leuten. Und von Fotografen, die diese Leute ansprechen, um sie zu fotografieren. Ein hagerer Kerl, der aussieht wie ein Totengräber, weiß gemalter Teint, Augen mit Kajal abgedunkelt, erklärt warum: Zwei Mal im Jahr trifft sich Europas Gothic-Szene in Whitby zu einem Festival. An Halloween und eben jetzt, kommendes Wochenende.
Der Hafen ist bei einsetzender Flut unheimlich. Wie aus dem Horrofilm hängt Tang an den Anlegestegen und eine braune See tost zwischen den Kaimauern. Für normale Touristen gibt es einen Steambus, der von einem Kerl gesteuert wird, der wie Monty Pythons Terry Gilliam aussieht.
Hinter Whitby ist der N1-Radweg für knapp 20 km noch nicht fertig, so dass man über eine mäßig befahrene, enge Straße nach Sandsend und weiter kurbeln muss. Ein Arbeiter, der den Müll aus dem Straßengraben fischt, erklärt mir die Alternativen: entweder durchs Inland über Aislaby, Egton usw nach Middlesbrough, oder an der Küste entlang. Um die Banks komme ich sowieso nicht herum. Die Banks sind Rampen, auf denen die Straße mit bis zu 30 Prozent Steigung durch die zerklüftete Landschaft führt. Da die Bank hinter Sandsend offenkundig auf grüner Wiese bleckt, nehme ich die Route 52, „Moor to Sea“, die zudem nur auf unbefahrenen Countryroads verläuft. Das Wetter hat sich gebessert. Zum Glück. Kaum auszudenken, wenn ich gestern ein permanentes 20% Auf und 20% Ab mit voller Regenmontur hätte bewältigen müssen. Und im Nebel. Wenn man sich die Wälder wegdenkt, könnte man meine, man wäre in Island.
In Egton treffe ich die tägliche Hilda. Sie heißt Amber, lädt mich zum Tee ein, stellt mir auf den Betonpfosten vor ihrem Haus einen Teller Kuchen. Schneller Austausch von Lebensgeschichten, was man sich in etwa vorstellen muss, wie das Prinzip der blinden Kontur beim Zeichnen. Während du dein Modell beobachtest, skizzierst du, ohne aufs Blatt zu schauen, und erhältst, mit einiger Übung, ein ungenaues, krakeliges Bild von hohem Reiz, das du anschließen kolorieren kannst. Hilda ist auch Radlerin, war in Deutschland, genauer gesagt in München und in Salzburg(!). Mann geschieden, Sohn raucht und hat deshalb das Radeln aufgegeben. Sie will auch mal touren und notiert sich dershalb die Marke meiner Packtaschen. Menschenleben im Schnelldurchlauf. Aber wir haben so viele Gesichter, wir Menschen, und sind ja so tiefgründig.
Ich klettere über zahlreiche Auf und Abs, die selten unter 16% Steigung oder Gefälle haben bis auf etwa 250 Meter über dem Meer. Am Straßenrand läuft braunes, torfiges Wasser, langhaarige Heidschnucken, immer wieder muss ich Viehsperren überqueren, quer in die Fahrbahn eingelassene Stahlschienen, die verhindern, dass die Schafe, die hier freien Lauf haben und oft auf der Straße liegen, nicht ausbrechen.
Ab Kildale geht es wieder abwärts. In Great Ayton frage ich mich nach einem Campingplatz durch, Bloggesurteil: wenn die Sonne scheint, und das hat sie fast den ganzen Tag getan, versuche ich abends zu zelten. Ein Junge, der sich als Tom vorstellt, erklärt mir drei Campingplätze: einer teuer, einer weit weg, der dritte kompliziert zu finden, und für den Notfall gibt er mir seine Telefonnummer, damit ich ihn anrufe, wenn ich bei ihm im Garten zelten möchte. (Das Angebot habe ich nur deshalb ausgeschlagen, weil er gerade mit seiner Freundin unterwegs war und ich die beiden aus dem Rhythmus gebracht hätte.)
Ich finde keinen der drei Campingplätze, frage mich zu einem Vierten durch, der Fletcher’s Farm zwischen Great und Little Ayton. Schon der schlammige Weg dahin hätte mich stutzig machen müssen, das dunkle dampfende Vieh, wiederkäuende Kühe, die mich aus einem über und über von Mist quellenden Stall anstarren. Die Fletcher’s Farm wirkt so verlassen wie Draculas Schloss. Dämmerung. Eisiger Nordwind. Abendrot. Ich frage die Nachbarn, wo ich in dem Labyrinth aus Framhaus, Stallungen den Eingang finde. Der Fletcher ist nett, eines von zwei Gesichtern? 10 Pfund will er fürs Zelten, keine Dusche. Dixiklo, das sich als dreckigstes Klo Englands entpuppen soll.
Natürlich bleibe ich hier. So groß kann kein Trotz sein, wenn sich die Nacht nähert und man sich in einem streng eingezäunten Gebiet befindet, in dem es außer Straßen und Weidezäunen nichts gibt, wo man sein Zelt aufbauen könnte.
Das Klo-Problem? Habe ich gelöst, indem ich mich so benommen habe, als würde ich tatsächlich wild zelten. Ich hoffe, der Fletcher hat gute Gummistiefel, falls er jemals den kleinen Platz zwischen Bach und Dixieklo betreten sollte.
(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)
Anmerkung: Heute regnet es wieder bei Irgendlink. Er plant eine B&B-Phase. Die WordPressApp arbeitet grad unzuverläßig, was hoffentlich nur mit dem schlechten Empfang zusammenhängt. Abwarten und Daumen drücken. Und bitte nicht traurig sein, wenn Irgendlink die Kommentare nicht sofort beantwortet. Er kann sie nicht lesen. Zudem hat er nur noch wenig Akku.
Danke für den tollen Bericht! Man erfährt eine Menge über England darin. Ein richtiges Abenteuer, diese Reise. – Oho, ein Wildpinkler ;-) Ich habe gestern auch einen gesehen, aber mitten in der Stadt. In Fletcher’s garden find ich’s OK ;-)
Während Klausbernd sich als Eigenbrötler betätigt, lese ich ihm deinen Text vor, der uns erneut sehr gut gefallen hat. Großes Lob auch von den Buchfeen. Wir folgen dir auf Schritt und Tritt, eine tolle Beschreibung der Landschaft und die Städtchen, die ich letztes Jahr zum ersten Mal kennenlernen dürfte. Das Gefälle ist echt heftig, endlosmühsame steile Straßen und gefährliche Abfahrten.
Deine Egtoner Lebensskizze ist eine sehr gelungene Metapher!
Liebe Grüße Dina,
die jetzt die Fensterbänke abtrocknen geht. Es hat heftig reingeregnet und kühl ist es immer noch in Norfolk. Leider.