Nach dem Messeabbau gestern Abend rufe ich QQlka an, um mich „anständig“ zu verabschieden. Morgens, als wir seine WG in der Walpodenstraße verlassen haben, war er nicht erreichbar. Es gehört sich einfach, sich zu verabschieden. Der finale Sonntag der Kunstmesse brachte glücklicher Weise ein paar Verkäufe, wobei die Situation sich in der letzten Stunde unangenehm zuspitzte, so dass keine Möglichkeit mehr war, für einen gemütlichen Abschied von den Kolleginnen und Kollegen. Um Punkt 19 Uhr geht das Surren von Akuschraubern durch die Halle, werden ganze Auto-Anhänger herein gefahren und mit Skulpturen beladen, saußen die Aufzüge auf und ab, demontieren alle ihre Stände, kennt jeder nur noch sich selbst. Die Messearbeiter demontieren die Namensschilder über den Ständen und werfen sie auf einen Haufen, was mich irgendwie an Friedhof denken lässt, an Grabeinebnungen, an Grabsteinlager für nicht bezahlte Grabstätten. Abraum. Zwischen zwei Kunden, die beide das gleiche Bild in letzter Sekunde kaufen wollen, verspreche ich meinem Freund, Maler Schalenberg, noch mal bei ihm am Stand vorbei zu kommen. Aber erst am Mainzer Kreuz, mit voll geladenem Künstlerauto, erinnere ich mich an das Versprechen. Herrjeh! Mit einem Schlag bin ich todtraurig und vermisse die vier Tage in der Rheingoldhalle, diese heimelige Nestwärme unter uns Kunstschaffenden. Natürlich kehren wir jetzt nicht mehr um, nur um Maler Schalenberg Tschüss zu sagen. „Der wird sowieso alle Hände voll zu tun haben, seinen Stand abzubauen, der wird auch heim wollen, wie wir alle“, versucht SoSo, mich zu beruhigen.
Aber das Problem ist größer, als man vermuten könnte. Ich nenne es den Streckendefekt der soeben passierten Gegenwart. Ein Arbeitstitel. Der Streckendefekt der soeben passierten Gegenwart beschreibt die eigentliche Entfernung zu einem Ereignis im Verhältnis zur tatsächlichen Entfernung.
Wenn du beispielsweise in einem fernen Land, 2000 km von zu Hause entfernt, an einer wunderschönen Katze vorbei fährst, von der du denkst, das wäre ein tolles Fotomotiv, „das Licht stimmt, die Haltung des Tiers, sein wunderbares Fell, die elliptischen Augen, das muss ich unbedingt fotografieren“, und es dir nicht gelingt sofort anzuhalten, um das Foto zu machen, dann bist du, auch wenn du nur 100 Meter an dem Tier vorbei gefahren bist, faktisch 2000 km weit entfernt. Warum? Weil die Richtung, in die du dich bewegst, es nicht mehr zulässt.
So kommt es, dass ich von Maler Schalenberg – obwohl mir nur fünf Kilometer von ihm entfernt einfällt, dass ich vergessen habe, ihn noch einmal zu treffen – 130 km entfernt bin. Mehr noch, ich bin zeitlich nicht etwa die 10 Minuten entfernt, die es bräuchte, zurück zu fahren, sondern mindestens drei Monate, wenn ich nächste Woche auf die Radreise um die Nordsee starte.
Auf der A63 zurück nach Hause ist mir heulend elend zu Mute. Zu intensiv war die Messezeit. Das Nachlassen von Druck und Anspannung bringt uns Menschen den elementaren Abläufen der Gefühle nahe. Ich frage mich, wie es den Kolleginnen und Kollegen wohl ergeht, wie sie das Verlassen der Messe empfinden, stelle mir eine Anti-Sternfahrt vor, vom Zentrum strahlen wir zurück in die Heimat, die für die Einen im Norden liegt, die Anderen im Süden, im Westen, im Osten. Irgendwo in diesem kleinen feinen Rheinland-Pfälzchen sind jetzt 150 heulende Elende unterwegs, die sich ihre Gedanken machen um die vergangenen vier turbulenten Tage in der Rheingoldhalle.
Ich bin der sentimentale Tränensackträger der feinen Künste, oder so.
Schnitt. Ein Abend später. Ich werde vermutlich nächsten Montag auf die Reise ums Meer gehen können. In Online-Karten stecke ich die ersten Etappen ab, schaue nach Unterkünften, Zeltplätzen. Im Anfangsstadium werde ich nicht wild zelten. Da bin ich zu dünnhäutig. Ein zwei Wochen brauche ich zur Abhärtung, zur Umwandlung des zart besaiteten Kunstbübchens in den bärbeißigen Europenner.
Da kann man schon von Künstlerstress sprechen. Vielleicht sieht man sich noch, wenn derselbe es zulässt, da jj am Wochenende kommt. Man kann mit dem Iphone glaube ich auch telefonieren.
Stimmt, das mit dem Telefonieren hab ich mal in der Bedienungsanleitung gelesen. :-)
Na, du „Europenner“? :-)
Aufgrund der angespannten Zeitlage im neuen Job komme ich ja nur noch selten vorbei, aber ich freue mich für dich wenn du endlich wieder unterwegs bist.
Viel Spass an der Nordsee :-)
Das „KeineZeitHaben“ ist ein Phänomen. Wenn ich bloß wüsste, wo die Notbremse ist. Danke für die Wünsche, Andreas.
Grandioser Durchblick in Sachen eigener Person. Schillernder reisender Diamant. Wie geht bärbeißig bei Dir?
Gruß von Sonja, die gern mehr aufmünterisch wäre.
Wir hängen an der Grenze seit ner halben Stunde. Lauferei ohne Ende. SoSo muss Formulare ausfüllen. Zwischen hunderten LKW sind wir ganz verloren.
oh,oh- und ich dachte, alles wäre europa….wünsche euch gutes fortkommen…