Wie war das doch kürzlich? Herr Irgendlink will mit Freunden ein paar Tage durch Burgund wandern, fragt um Urlaub, welcher abgelehnt wird. Da der Owner aber die großen traurigen Tackeraugen des Herrn Irgendlink nicht erträgt, gibt er ihm spontan eine Woche Urlaub (nicht die gewünschte Woche, sondern die ab dem Tag, an dem Herr Irgendlink nach dem Urlaub gefragt hat, also jetzt). Das war montags, ein Loch in der Zeit, was tun? Mittwochs schon sitze ich im Zug nach Speyer, wo vorm Dom eine der Hauptrouten auf dem Jakobsweg durch den Pfälzer Wald beginnt. Im Zug mache ich mir Gedanken um die Probleme des modernen Menschen, hauptsächlich darüber, dass viele Träume nur deshalb nicht wahr werden, weil man die Lücke im Alltag, die sich hin und wieder auftut, nicht so recht auszunutzen weiß. Es ist kennzeichnend, dass ich in jener Woche des plötzlichen Urlaubs immerhin zwei Tage gebraucht habe, um mich überhaupt aufzuraffen. Zwei Tage, in denen ich sogar darüber nachdachte, gar nicht erst aufzubrechen, weil die Zeit für 130 Kilometer zu Fuß ja doch recht knapp ist und ach, das Wetter … und weh, daheim warten tausend Baustellen, das Buch sollte ich fertig schreiben, Freunde treffen. Die wertvollen Lücken im Alltag sind bedroht von kleingeistigen Überlegungen zum Thema Lebensformatierung. Anstatt Grenzen aufzulösen, geht der Trend – je länger man lebt – dahin, sie aufzubauen.
Man wird starr im Lauf der Zeit.
Letzten Samstag in einem Hotel im flachen Oberbayern unweit von Gerstefeldern, Elektrizitätswerken und Maisäckern herumzulungern ist sicher eine hohe Aufgabe für den denkenden Menschen. Aus dem Fenster meines Zimmers sehe ich eine wilde Camping-Siedlung, zwanzig dreißig Autos, Wohnmobile, Zelte auf dem Damm am Kanal des Kraftwerks. Manchmal weht der Wind Fetzen von Musik herüber: Umpf Umpf Umpf Umpf, Umpf im schnellen Elektro Techno-Irgendwas-Rhythmus. Ich kenne mich da nicht so aus. Die Festivalgäste haben dort bei einem kleinen Badesee eine Kolonie auf Zeit gegründet. Ein bisschen beneide ich sie um ihr leichtes, unbeschwertes Leben. Unmittelbar unter dem Hotelfenster steht ein hässliches, langes, fünfziger Jahre Mietshaus, verlassen, mit Eternitdach. Ich krame das iPhone aus der Hosentasche, überlege zu bloggen, oder Bilder zu bearbeiten, starte aber schließlich die Geocaching-App und schaue, was es in der Nähe für Erdverstecke gibt. Eines, der Biergarten namens Schlossallee, ist nur 300 m entfernt, weiters gibt es einige Kapellen, die in der Geocachingdatenbank gelistet sind, sowie eine Badesee-Serie. Aha. Trüber Tag, nicht sehr warm Ich weiß gar nicht, warum ich mein Handttuch und die Badehose von zu Hause mitgebracht habe. Sie lagen auf dem Stapel der Dinge, die man schnell mal einpackt, wenn man weg muss. Unordnung. Die Lücke im Tag ist unmittelbar. Wanderschuhe habe ich auch eingepackt. Tse. Immer hat er Hintergedanken, der Herr Irgendlink. So stapfe ich also los mit dem kleinen, leichten Rucksack, auch habe ich zwei Brötchen dabei, die ich vom Frühstücksbuffet abgezweigt habe und einen Liter Wasser. Im Dorf frage ich nach der Leni-Kapelle, so heißt einer der Geocaches. Niemand weiß, wo das ist. Die Geheimnisse der Geocacher sind sehr filigran, oft wird man zu Orten geführt, die selbst die Einheimischen gar nicht kennen. Deshalb schätze ich dieses Hobby der weltweiten Schatzsuche so sehr. Ich verirre mich, habe auch gar keine Lust, Schätze zu suchen. Die Verstecke, die mir das GPS des iPhones anzeigt, dienen mir hier in dieser garstigen Landwirtschaftsgegend mehr als Orientierungspunkte, denn als kniffelige Herausforderung. Irgendwann lande ich auf dem Damm des Kraftwerkkanals, der sechs Meter über dem topfebenen Tal liegt. Ich bin etwa 2 km von der wilden Party entfernt, Musikfetzen und Donnergrollen. Ein Taxifahrer hält neben mir, Serbe vielleicht, fragt, ob ich ein Taxi bestellt habe, reagiert mürrisch, als ich verneine. Ein Mann und eine Frau seien hier unterwegs, hätten seine Zentrale angerufen, und er habe nun die Aufgabe, sie zu finden. Ich bin aber kein Mann und eine Frau, sage ich.
Vielmehr bin ich der Pilger, das wird mir in dem Moment klar, und ich bin der Erleber dieser Geschichte und der, der sich das alles merken muss. Auf das Diktiergerät des iPhones spreche ich: wie wäre es, wenn ich von nun an die Geschichte rückwärts erzählen würde, so wie in dem Film, den ich kürzlich gesehen habe, wo der Undercover-Agent seinem verbrecherischen Auftraggeber eine Begebenheit erst vorwärts erzählen muss, und dann nochmal genau umgedreht, damit der Auftraggeber prüfen kann, ob er lügt. Ja, genau rückwärts den Tag erzählen, hier auf dem Damm am Kraftwerkkanal, begonnen beim mürrischen serbischen Taxifahrer, zurück zur Frau mit Hund, vorbei an den beiden Jungs, die mit dem Quad am Waldrand geparkt hatten, dann der Mann mit dem Elektrofahrrad, der damit jeden Tag nach München und zurück fährt, ein sehr netter Kerl, mit dem ich ein Viertel Stündchen geschwätzt habe. Alte Frau, die nicht weiß, wo die Leni-Kapelle ist … So entferne ich mich immer weiter von dem Dorf, in dem mein Hotel ist, erreiche schließlich einen kleinen See, einen aus der Geocaching Badesee-Serie. Eine Frau mit Kind paddelt im Schlauchboot. In der Mitte des Sees ist eine Badeinsel. Mein GPS zeigt genau dahin. Zur Lösung des Rätsels, welches sich um den Geocache rankt, muss ich also auf die Badeinsel. Just, als ich mit dem Finger das Wasser prüfe, es ist nicht sehr kalt, bricht die Sonne durch die Wolken. Obwohl es windig ist, ziehe ich die Badehose an und tauche ein, schwimme hinüber, fühle mich seltsam frei und mir wird klar, wie wichtig es ist, jede nur erdenkliche Lücke zu nutzen, jede nur erdenkliche Chance. Je älter man wird, desto hochnäsiger oder fauler wird man. Ich kenne den genauen Grund nicht, warum man mit zunehmendem Alter keine Chancen mehr wahrnimmt. Vermutlich ist es die Behäbigkeit, die sich in dein Leben schleicht, bei manchen vielleicht auch die Hochnäsigkeit, oder eine Art Nachlässigkeit, die aus dem Trugschluss rührt, ich habe doch schon alles tausend mal gesehen, tausendmal erlebt, ich brauche das nicht mehr. Wie ich so im See schwimme, das Wasser angenehm warm, prasseln plötzlich die Erinnerungen an all die tausend Seen, in denen ich schon geschwommen bin, auf mich ein. Keiner von ihnen ist ein Grund, nicht auch in diesem See zu baden. Genau wie die Lücke in diesem Samstag es allemal wert ist, mit Wandern gefüllt zu werden, auch wenn dies ein entwerteter Samstag ist, den ich fernab von Heimat, Liebe, Freunden verbringe. Kein Grund ihn nicht zu nutzen, um frei zu sein.
Auf der Badeinsel kann ich das Geocacherätsel lösen, bin aber später, wieder an Land, zu faul, den Cache auch zu heben. Ich folge dem kleinen Fluss A. auf einem Radwanderweg, plötzlich ist die Gegend sehr schön, trotz Mais und Gerste. Dickbäuchige Oberbayern mähen Gras. Ein Jäger beäugt mich durch sein Fernglas aus einem Hochsitz. Mein Kopf ist voller Ideen, die ich fleißig ins iPhone diktiere. Das iDogma par excellance. Ich skizziere den Plot meines geplanten, bauesoterischen Kriminalromans. Erstmals habe ich die Hoffnung, dass das verrückte Buch auch tatsächlich entstehen könnte. Schreiben ist letztenendes Fleißarbeit. Nicht so wie hier im Blog muter darauf los schreiben und, außer Konkurrenz, mal schauen, was daraus wird. Das ist mir in diesem Moment klar. Wenn ich jemals ein größeres Schreibwerk schaffen will, dann muss ich vorher die Struktur planen, dann kann ich mich nicht einfach so durch den Tag treiben lassen wie an diesem Samstag. Im Grund muss ich das, was mir an diesem Tag die Geocaches sind, Marksteine, Themen, Charaktere, skizzieren, bevor ich überhaupt los lege. In einem Dorf mit Bahnhof und Laden habe ich ca. 15 km in den Beinen, kaum müde. Die Ideen sprudeln, dass es nur so eine Art ist. Auf dem örtlichen Sportplatz ist ein Fest. Zwei Kilometer entfernt hört man nun das Festivaltreiben hervorragend, da es genau in Windrichtung liegt. Am Waldweg nahe des Festivals sind plattgelegene Grasflächen. Die Gäste müssen hier übernachtet haben, gelagert, sich geliebt. Nun laufe ich mitten im Schallkegel der Nachmittags-DJs. Monotone Rhythmen, sehr eingänglich, gebe ich zu, jedoch auch so unglaublich vorhersehbar. Ich glaube, diese Musik entfaltet ihre Kraft erst dann, wenn man mitten drin ist und wenn man Geleichgesinnte um sich hat. Beim Festivalgelände wird der Wanderweg über den Parkplatz umgeleitet. Kein schöner Anblick. Vor den Autos hängen die Besucherinnen und Besucher auf Liegestühlen, Beats aus den Radios, Kleiner Feigling, Vodka, Jägermeister, Geplapper und die Schöngeschniegelten mit Papis BMW auf Imponiertour im schwarzen Schlamm, Gas-spielend, Ellbogen-fensterlnd, scheinen mir nicht gerade meine liebsten Gleichgesinnten zu sein. SIE werden auf MEINER V.I.P. Lounge Drogen nehmen, Mädchen abschleppen. Der Eintritt zur V.I.P.-Lounge kostet satte 130 Euro für die beiden Tage, lese ich auf der Veranstaltungshomepage. Da ist das eigentliche Festival mit 30 Euro geradezu günstig.
Beim Abendessen im Hotel hat der Tisch mit den Kraftwerksleuten Verstärkung bekommen. Mein Mannheimer Wortführer, der fast nur über Stundenlöhne, Freelancer, Selbstständigkeit geredet hat, ist nicht mehr der alleinige Redner. Es hat mir auch schon zum Hals heraus gehängt, wie er seine Lebensangst und seinen Futterneid in der Gaststube ausgebreitet hat. Stattdessen höre ich nun vermehrt die Stimme eines Mittvierzigers, der sich zu philosophischen Lebensfragen, Kunst und Kultur äußert.