Gravitation des Eigenheims

Es hat eine Weile gedauert und ich will es auch nicht zu laut hinaus posaunen, aber ich finde langsam zu meiner alten Kraft zurück. Es wird wieder mehr Artikel geben. Mein Plan: am Wochenende reiße ich mir die Dinger aus dem Leib, tippe sie krude dahin und verteile das Ganze dann auf die Wochentage, so dass abends immer etwas hier erscheint. WordPress ist so praktisch und pflegeleicht als Blogsoftware. Einfach Artikeldatum einstellen und er erscheint zur geplanten Sekunde.

Im Amt ohne Wiederkehr habe ich mich nun eingelebt – vielleicht liegt es am, seit drei Jahren ersten Urlaub, der mir im August blüht, dass ich etwas motivierter bin?

Habe eben nochmal Josef mit dem Postrad (siehe Artikel zuvor) recherchiert. Sein Postrad steht mittlerweile im Technikmuseum Seydisfjördur im Osten der Islands – in Jörgs Reiseblog aus dem Jahr 2007 gibt es einen Bericht darüber. Und tolle Bilder, so dass ich doch liebäugele, nach Island zu fliegen. Aber ohne Fahrrad macht das keinen Spaß und mit Fahrrad ist es mir zu aufwändig. Vielleicht Josefs Kiste im Museum leihen? ;-)

Anyway. Ist ja lange hin bis zum Urlaub und es können noch viele Kollegen im Amt ohne Wiederkehr erkranken, so dass der Urlaub einfach weg-ge-ixt wird.

Auch rosa Pappe ist nur Papier (siehe auch Artikel zuvor).

Wenn es nach dem Ex-Owner geht, werde ich den Urlaub sowieso in der neuen Tackerwerkstatt verbringen in gemütlichen zwölf Stundenschichten bei freier Zeiteinteilung. Heute beim Einrichten der Arbeitsplätze geholfen. Es ist eine gediegene Traumwerkstatt, die einem Berliner Künstleratelier alle Ehre machen würde. Nun wartet der Ex-Owner auf Ex-Kollege T., welcher als einziger Arbeiter verblieben ist. Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass es ihm wohl gut geht, letztes Lebenszeichen Anfang der Woche. Von wo, weiß ich noch nicht, aber mein Tipp ist, er erreicht dieses Wochenende Santiago. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wenn man nach mehrwöchiger Radeltour ein Ziel erreicht hat, der Weg nach Hause das Dringendste ist, was man tun will. Ich glaube, es hat etwas mit Anziehungskraft zu tun und ist wie im Weltraum: je näher man der Masse ist, desto größer die Anziehung. Dies erklärt auch, warum eine Weltumradelung für normale Menschen schier unmöglich ist. Die Anziehungskraft des Eigenheims ist auf den ersten 5000 km einfach viel zu hoch.

Lochfraß im Gehirn

Neben mir ein Fresszettel, auf welchen ich Urlaubsziele gekritzelt habe, Abflugzeiten, Preise. Mallorca steht drauf. Da könnnte man prima wandern; nur Flug ist kaum billiger, als mit Hotel. Mallorca ist einer der Standardfluchtwege des modernen Angestellten. Aber es findet sich auch Manchester in der Liste für, lumpige 20 Euro hin und zurück. Von dort, so gärt es in meinem Hirn, könnte ich per Zug in die Robin Hoods Bay fahren und rüber zur irischen See laufen. Coast to Coast ist DER Fernwanderweg in Nordengland. Noch im Programm sind Funchal (Madeira) und Island. Letzteres würde mich am Meisten reizen, ist aber mit kalkulierten 1500 Euro für anderthalb Wochen einfach unerschwinglich.

Die Basis für all meine Amtsbübchenmorgenblütenträume ist ein rosa Blatt, auf dem man mir doch glatt zwei Wochen Urlaub eingetragen und durch zahlreiche Unterschriften genehmigt hatte. Das Verfahren ist, wie alles auf dem Amt ohne Wiederkehr, präzise und treffsicher: Das Blatt kommt in eine sogenannte Laufmappe, ein einfaches Stück Karton mit vielen Kästchen vornedrauf. In die Kästchen schreibt man jeweils die Zahl einer Dienststelle, zu der das Blatt geleitet werden soll. Per Hauspost geht die Sache rund und kommt irgendwann erledigt wieder zu einem zurück. Allein das ist schon eine kleine Urlaubsreise. „Die willfährigen Abenteuer eines rosa DIN A 4 Blatts“ werde ich dereinst meine autobiographischen Aufzeichnungen über mein Leben im Amt ohne Wiederkehr nennen. Durchaus bestsellerverdächtig.

Wenn mein Hirn sich nicht von Innen heraus auffrisst und ich alles, was ich erlebt habe, einfach vergesse.

Letzte Woche lag ich beklommen im Bett und versuchte einzuschlafen, aber das was ich gesehen hatte und woran ich mich sollte immer erinnern, was ich jedoch vergessen hatte und nur durch Zufall im Internet wieder fand, ließ mich nicht los. Kann doch nicht sein, dass Du J. vergessen konntest, den du 1992 in Reykjavik auf dem Campingplatz kennen lerntest und mit dem du ein Schwätzchen hieltest. Nichts besonderes. Nur Smalltalk. Aber J. ist besonders. Er ist eine Island-Koryphäe und viele Island-Urlauber werden ihn irgendwann gesehen, oder gar kennengelernt haben, denn er ist der Einzige, der mit einem uralten Postrad die Insel durchquert. Jahr für Jahr. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Bei meinen Recherchen zum Urlaub fand ich ein Bild von ihm im Netz, datiert auf 1999. Da erinnerte ich mich wieder. Es gibt vermutlich auch Tagebuchaufzeichnungen über das Erlebnis. In meinem Hirn war die Begegnung wie ausradiert.

Sowas macht Angst.

Nun versuche ich, mich mit nüchternen Überlegungen zu beruhigen. Rein der Vernunft folgend, hast du im Laufe deines Lebens so viele Menschen kennen gelernt, an die du dich nie wieder erinnern wirst – es ist einfach nicht sinnvoll, jeden kleinen Smalltalk zu rekapitulieren – und an J. mit dem Postrad, glaubst du, solltest du dich erinnern. Warum? Weil er etwas besonderes ist? Eine Trophäe, ein Pokal der Lichtgestalten? Ja, genau so muss es sein: dadurch, dass J. eine gewisse Berühmtheit genießt und viele ihn kennen, wird die Smalltalk-Begegnung zu etwas Besonderem. So als würde man einem Popstar die Hand schütteln und sie nie wieder waschen wollen.

Kann ich mich also beruhigen? Ist das Erlebnis J. vor fast 20 Jahren nur ein verstaubter Pokal, der in die hinteren Reihen der Glasvitrine meines Kleinhirns gerutscht ist?

Ich fasse zusammen:

Die Idee Lifereise am Beispiel Kollege T. ist zwar gescheitert, aber noch lange nicht aus den Augen.

Das Amt ohne Wiederkehr lähmt mich mehr, als mir lieb ist.

Mein Motto lautet Dorma et Labora – schlafe und arbeite – ein alter christlicher Spruch, den ich an die momentanen Gegebenheiten adaptiert habe. Man kann es wörtlich nehmen.

Wo Kollege T. ist, weiß ich immer noch nicht. Es gibt aber keinen Grund zur Sorge, denn wenn einem deutschen Radler in Spanien etwas zustößt, erfährt man das recht schnell. Mein Tipp: Kollege T. wird dieses Wochenende Santiago erreichen.

Wetten?

Bergmassiv der Akten

„Weißt du, Junge, eigentlich müsstest du jetzt mal sechs Tage und Nächte am Stück schreiben“, sagt meine innere Stimme.

„Hum?“

„Jaha, Geschichten schreiben. Hast so viel erlebt. Fetzige Wochen, in denen du dich unters Deckmäntelchen der Larmoyanz ducktest. War schön dunkel, da unter der imaginären Decke, unter der dich niemand sieht, oder? Weinerliche Memme.“

„Ömm?“

„Nun sei nich so wortkarg“, spricht harsch die innere Stimme, „Liebling, wie war dein Tag? Gibs zu: aufregend.“

„Mhm, aufregend.“

„Spaß gehabt?“

„Nuja.“

„Mensch, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, deine Blogleser wollen wissen, wie es weiter geht im Amt ohne Wiederkehr.“

„Tja“, seufze ich, „die Geschichte ist einfach viel zu komplex. Weiß nicht, wo ich beginnen soll. Vielleicht mit dem Mount Everest der Akten?“

„Jajaja, beginne damit, ist zwar nicht das Größte, aber sehr plakativ.“

Diese verflixte innere Stimme treibt mich noch in den Wahnsinn. Ständig fordert sie, ich solle Geschichten erzählen, Dinge aufschreiben, der Nachwelt oder der Blogwelt etwas hinterlassen.

„Na gut“, sag ich, „aber nur den Mount Everest der Akten, hier und jetzt, ist ja schnell erzählt. Dann darf ich mich aber hinlegen, oder?“

„Ta ta ta“, gebietet die innere Stimme, „erzähl erstmal und mache es gut, Junge, schön langsam und der Reihe nach.“

„Boa, Mann“, fauche ich genervt, „.?%$!..“

„Na?“ Die innere Stimme pocht auf die Uhr, „je eher du anfängst, desto eher kommst du ins Bett.“

„Okay, das mit der Almwiese der Akten, das war so“, formuliere ich die Geschichte vom Mount Everest der Akten (um die innere Stimme zu ärgern sag ich aber Almwiese), „ich habe die letzten Wochen im Amt ne ganze Weile Akten sortiert. Ordnerweise und hab irgendwann ausgerechnet, wie hoch der Stapel ist, den ich täglich durchwälze. Ist nicht gerade 8848 Meter hoch, aber der Dramaturgie wegen hab ich mir ausgedacht, die Geschichte Himalaya der Akten oder Todeszone der Verwaltunmg oder Wasserloses Land der Bürokratie zu nennen; waren eigentlich nur 15 Meter, die ich durchwühlt habe.“

„Ei du Trottel, jetzt hastes versaut. So kann man doch keine Geschichte erzählen“, die innere Stimme kocht vor Wut, näselt und äfft mich nach, „chab isch akhten sortiert und warn chenau chünftschehn Metter“, und sie grinst mit schaumigem Mund, „daraus hättste so ne tolle Geschichte basteln können, über die sich alle total schepp lachen, aber nee, wie üblich packt Monieur Superliteratenhanswurst Irgendlink Pointe und Fakten in einen kurzen Satz. Ich könnt kotzen. Das könntste auch in der Überschrift alles bringen, brauchst gar keinen Blogartikel mehr zurecht schustern. Suuupertiitel: Heititei 15 Meter Akten, boa.“

„Nu hör aber mal auf, du Blödmann, sag ich zur inneren Stimme“, ich hab extra für diesen Artikel dich, die Innere Stimme erfunden, damits ein bisschen lockerer wird, damit ich das wenige Nchts einer guten, na sagen wir, wenigstens witzigen Idee halbwegs schön in diesen Artikel packen kann. Du würdst doch überhaupt nicht leben, wenn ich mir dich nicht um 18:45 ausgedacht hätte.“

Der hab ichs aber gegeben, der inneren Stimme. Und nu hau ich mich hin.

– boa, stellt Euch das mal vor, was man als Aktenfuzzie tatsächlich im Laufe des Lebens durcharbeitet, wenn man alle Ordner zusammen rechnet –

Wo ist Pilger T.?

Nun beginne ich, mir Sorgen zu machen um Ex-Kollege T. Pfingsten startete er mit dem Rad nach Santiago de Compostella. Von unterwegs meldete er sich ein paar Mal und berichtete knapp, was geschehen war und wo er sich gerade befindet. Meist musste ich ihm bei diesen Telefonaten einen Campingplatz oder eine Unterkunft ergooglen. Kein Problem. Web machts möglich. Den letzten Anruf erhielt ich aus Bordeaux. Mit einbrechender Dunkelheit war er in die Stadt geradelt (keine gute Idee), fand keine günstige Unterkunft, Handy-Akku beinahe leer. Ich konnte ihm mit dem letzten Saft, den sein Handy bot einen Ausweg smsen, und sogar ein kurzes Gespräch war noch möglich. Er hatte schließlich doch ein Bett in der Jugendherberge ergattert, sogar ein Einzelzimmer. „Ich sperre jetzt ab und trinke den Wein, den ich gekauft habe …“ Dann riss die Verbindung ab.

Die Spur verliert sich. Er wollte nach St. Jean Pied de Port, dem letzten französischen Pilgerort vor den Pyrenäen. Ab da würde er gut aufgehoben sein, denn der Camino Frances ist bekanntermaßen ein ausgelatschter Pfad, auf dem man hunderte von Gleichgesinnten trifft und der für den modernen Pilger offenbar perfekt erschlossen ist.

Ruft T. nicht mehr an, weil er keine Hilfe mehr braucht, oder weil sein Handy den Geist aufgegeben hat, oder ist ihm in Bordeaux etwas zugestoßen?

Verschwindet einfach im Nebel des Unwissens.

Alle seine Bekannten und Freunde, die ich gesprochen habe sind sich jedoch einig: T. hat es bis zu dem berüchtigten Weinbrunnen von Irache geschafft. Dort zeltet er seither und hat einen Bypass gelegt, so dass das köstliche Traubengetränk mitten durch sein Zelt fließt.

Wollen wir mal hoffen.