Lochfraß im Gehirn

Neben mir ein Fresszettel, auf welchen ich Urlaubsziele gekritzelt habe, Abflugzeiten, Preise. Mallorca steht drauf. Da könnnte man prima wandern; nur Flug ist kaum billiger, als mit Hotel. Mallorca ist einer der Standardfluchtwege des modernen Angestellten. Aber es findet sich auch Manchester in der Liste für, lumpige 20 Euro hin und zurück. Von dort, so gärt es in meinem Hirn, könnte ich per Zug in die Robin Hoods Bay fahren und rüber zur irischen See laufen. Coast to Coast ist DER Fernwanderweg in Nordengland. Noch im Programm sind Funchal (Madeira) und Island. Letzteres würde mich am Meisten reizen, ist aber mit kalkulierten 1500 Euro für anderthalb Wochen einfach unerschwinglich.

Die Basis für all meine Amtsbübchenmorgenblütenträume ist ein rosa Blatt, auf dem man mir doch glatt zwei Wochen Urlaub eingetragen und durch zahlreiche Unterschriften genehmigt hatte. Das Verfahren ist, wie alles auf dem Amt ohne Wiederkehr, präzise und treffsicher: Das Blatt kommt in eine sogenannte Laufmappe, ein einfaches Stück Karton mit vielen Kästchen vornedrauf. In die Kästchen schreibt man jeweils die Zahl einer Dienststelle, zu der das Blatt geleitet werden soll. Per Hauspost geht die Sache rund und kommt irgendwann erledigt wieder zu einem zurück. Allein das ist schon eine kleine Urlaubsreise. „Die willfährigen Abenteuer eines rosa DIN A 4 Blatts“ werde ich dereinst meine autobiographischen Aufzeichnungen über mein Leben im Amt ohne Wiederkehr nennen. Durchaus bestsellerverdächtig.

Wenn mein Hirn sich nicht von Innen heraus auffrisst und ich alles, was ich erlebt habe, einfach vergesse.

Letzte Woche lag ich beklommen im Bett und versuchte einzuschlafen, aber das was ich gesehen hatte und woran ich mich sollte immer erinnern, was ich jedoch vergessen hatte und nur durch Zufall im Internet wieder fand, ließ mich nicht los. Kann doch nicht sein, dass Du J. vergessen konntest, den du 1992 in Reykjavik auf dem Campingplatz kennen lerntest und mit dem du ein Schwätzchen hieltest. Nichts besonderes. Nur Smalltalk. Aber J. ist besonders. Er ist eine Island-Koryphäe und viele Island-Urlauber werden ihn irgendwann gesehen, oder gar kennengelernt haben, denn er ist der Einzige, der mit einem uralten Postrad die Insel durchquert. Jahr für Jahr. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Bei meinen Recherchen zum Urlaub fand ich ein Bild von ihm im Netz, datiert auf 1999. Da erinnerte ich mich wieder. Es gibt vermutlich auch Tagebuchaufzeichnungen über das Erlebnis. In meinem Hirn war die Begegnung wie ausradiert.

Sowas macht Angst.

Nun versuche ich, mich mit nüchternen Überlegungen zu beruhigen. Rein der Vernunft folgend, hast du im Laufe deines Lebens so viele Menschen kennen gelernt, an die du dich nie wieder erinnern wirst – es ist einfach nicht sinnvoll, jeden kleinen Smalltalk zu rekapitulieren – und an J. mit dem Postrad, glaubst du, solltest du dich erinnern. Warum? Weil er etwas besonderes ist? Eine Trophäe, ein Pokal der Lichtgestalten? Ja, genau so muss es sein: dadurch, dass J. eine gewisse Berühmtheit genießt und viele ihn kennen, wird die Smalltalk-Begegnung zu etwas Besonderem. So als würde man einem Popstar die Hand schütteln und sie nie wieder waschen wollen.

Kann ich mich also beruhigen? Ist das Erlebnis J. vor fast 20 Jahren nur ein verstaubter Pokal, der in die hinteren Reihen der Glasvitrine meines Kleinhirns gerutscht ist?

Eine Antwort auf „Lochfraß im Gehirn“

  1. Hab jetzt selber nachgeschlagen, Dosis war nicht ausreichend zur endgültigen Vernebelung, Link werde ich aber protestweise ebenfalls nicht setzen.

    Frage, die sich nach Lektüre für mich aufdrängt: Soweit ich weiß, ist Kleinhirn nicht Voraussetzung für eine Einstellung in Amt und Würden, welche höhere Position soll das also sein?

    Ergänzend sei noch hinzugefügt, dass Wasserersparnisse wegen Prominenz sich nicht wirklich lohnen, aber das kriegt schon jeder selbst raus mit der Zeit.

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