Vielleicht ist der Punkt nun erreicht, an dem die einzige Antwort auf alle Fragen lautet: Schreib‘!?
Mit mulmigem Gefühl sehe ich die nächsten Wochen. Keine Chance auf Pilgerschaft. Je unmöglicher etwas wird, desto größer baut es sich in deinem Kopf auf, stellt unerfüllbare Forderungen, zermahlt dich zwischen Wirklichkeit und Wahn. Die Rückenschmerzen sind fast vergangen. Der Physiotherapeut hat beste Arbeit geleistet. In nur zwei kurzen halben Stunden hat er das, über Monate verschobene Skelett wieder begradigt und mir zwei Tipps mit auf den Weg gegeben: So viel Rückengymnastik wie Zähne putzen sollst du tun. Und: schürfe an den unsichtbaren Fundamenten des Eisbergs, der dich quält.
Wohl komme ich deshalb zu dem verrückten Schluss, ich muss, parallel zu allem, was da in den nächsten Wochen auf mich zu rollt beginnen, für Geld zu schreiben, die Dateileichen der Schriftstücke, die im Computer lagern wieder ausgraben, jeden Tag ein paar Zeilen leisten – beinahe ist das wie tägliche Rückengymnastik und wie Zähne putzen, nur eben auf der materiellen Ebene – am Ende wirst du ein Buch geschrieben haben, das du für Geld feilbieten kannst. Unter anderem Namen natürlich.
Ich werde mich T. Braven nennen oder Neureas Neumann oder Keck Jarouac oder Knildegri Schneider.
Mal sehen.
Der Tag verging mit der Jagd nach dem letzten Hemd. Das hatte nämlich noch gefehlt für die schicke Garderobe: T. empfahl ein knitterfreies feinseidenes Stöffchen für weniger als 50 Euro, das, sobald man es etwa aus einer Fahrradpacktasche hervorkramt, sich aufbläst und von selbst glättet. Farbe: Gelb oder Blau – ich entschied mich für Schwarz.
Ein Blick in den Terminkalender zeigt eine unglaubliche Splatterszene zerhackter Zeit, in der kaum ein Tag ohne etwas Fixes vergeht. Ärzte, Ämter und Anwälte sind die Herren meines Lebens.
Das hat mich schon immer fasziniert: Dass es gar nicht so leicht ist, in diesem westlich zivilisierten Leben sich mal ein paar Tage frei zu machen, eine Woche unformatierter, leerer Zeit herauszuschinden, in der kein einziger Termin drängt. Schaut nur mal euren Kalender an. Jede Wette, dass auch bei Euch selten eine ganze Woche zu finden ist, in der nichts wichtig ist. Arzttermin hier, Geburtstag dort, Party bei Freunden, sowie die vielen Dorf- und Stadtfeste, die schon im Frühsommer das Jahr zerschneiden.
Natürlich: die meisten Termine lassen sich absagen oder verschieben, aber dennoch: im Kopf wirken sie wie Kaskaden in einem ansonsten ruhigen Fluss.
Vielleicht würde ich das alles nicht so dramatisch finden, wenn ich wie jeder normale Mensch schon in jungen Jahren die Lohnsteuerklasse-Eins-Hölle als meine Heimat betrachtet hätte. Aber ich war nunmal bis vor Kurzem weit außenvor und es gab für mich kaum Unabdingbarkeiten, die einer freien Zeiteinteilung entgegen gestanden hätten. Vielleicht würde ich mich jetzt wohler fühlen, weil mir die Schlachtung der Zeit, wie jedem Menschen, zur Gewohnheit geworden wäre und ich nicht wüsste, wie es anders laufen kann im Leben: wie man ein Hallodri wird, wie man in den Himmel starrt stundenlang und die Zeit voll und ganz vergisst und sich in den Weltraum träumt und sich ganz klein, aber von Winden verwehbar vorkommt. Hätte ich solche Gefühle auch erlebt, wenn ich mit 17 Automechaniker geworden wäre und seither bei einem Autokonzern in einer großen Produktionshalle arbeiten würde? Das Leben ist ein Langzeitexperiment. Man kann leider keine zwei Leben leben, um den direkten Vergleich – wie sich das anfühlt, so oder so zu leben – zu erfahren.
Deshalb kann ich auch nicht darüber berichten, was besser ist: ein Künstlerleben mit materiellen Entbehrungen führen, oder ein Arbeiterleben mit wohliger Sicherheit und kleinen Träumen. In der Regel machen es sich die Menschen ja einfach und sagen, mein Leben ist das Richtige und das was ich tue, müsste jeder tun und die die anders sind, die kann ich bestenfalls tolerieren aber gutheißen, was sie tun, das werde ich nicht.
Es ist auch sehr gefährlich, sich vorzustellen zu versuchen, wie das eigene Leben verlaufen wäre, wenn man damals dies, statt jenes getan hätte und wenn man an dieser Stelle so entschieden hätte und nicht so. Das bringt große Schmerzen, kann ich versichern.
Nun ist es mir obendrein nicht mehr möglich, einen genauen Einblick zu geben, wie es sich anfühlen würde, wenn ich weiterhin Künstler geblieben wäre. Ich habe das Langzeitexperiment Leben nach den derzeit vernünftigen Parametern ausgerichtet und kann fürderhin nur noch darüber Auskunft geben, wie es sich anfühlt, wenn man 20 Jahre lang freischaffend war und dann auf den Weg des Lohnerwerbs geswitcht ist.
höre ich da resignation? hoffentlich nicht!
ein buch zu schreiben ist kunst. du wirst, auch als lohnerwerbender, künstler bleiben.
was du über die zeit schreibst, über die freie, unzerschnittene … *lautseufz* ich möchte gaaanz viel davon – nur für mich!!! … und zugleich all die feste feiern und alle die freundInnen treffen und all die filme gucken undundund … die eben in meiner agenda notiert sind …