Dass ich nun im Amt ohne Wiederkehr arbeite, macht Sinn. An einem der ersten Arbeitstage spazierte ich vom Amt zum Bahnhof, ganz Berufspendler. Auf dem Bahnsteig beobachtete ich, wie die Züge einlaufen, Menschen ausspucken, Menschen sich einverlaiben, weiter fahren. Ein seltsames Bild unter glasiger Sonne. Gebückte Männer mit Aktentaschen verließen den Bahnhof und ich stellte mir vor, was sie alles erlebt haben mochten an diesem Tag, worauf sie sich freuten, ob ihr Leben schön ist. Dass es Ansichtssache ist, ob das eigene Leben schön ist, dämmert mir schon seit Jahren. Es ist eine Frage der Einstellung. Freude kommt von Innen. Ärger, Hass und Liebe ebenso. Die Äußerlichkeiten sind nur Ablenkungsmanöver einer pulsierenden, auf Leistung getrimmten Welt. Jener Typ im grauen Anzug, wie er die Treppe hinauf schwitzt, sich ängstlich umschaut, zur Schalterhalle läuft: was geht in ihm vor? Ist er glücklich? Mag er die Sonne auch wenn sie hinter Schleierwolken seichtes Licht versprüht?
Etwas vorschnell rekapitulierte ich meine neue Situation: wenn ich es möchte, kann ich bis zur Rente im Amt ohne Wiederkehr arbeiten. Etwa 25 Jahre. Tagein tagaus das selbe Spiel und Abwechslung gibt es nur, wenn man sie sich im Innern seiner Seele selber bastelt. Die Impulsstärke der Reize von Außen sind begrenzt. Wie viele verdrossene Männer im grauen Anzug, die ängstlich Richtung Schalterhalle laufen, werde ich in den 25 Jahren sehen? Werde ich ein Buch über Männer im grauen Anzug, die ängstlich Richtung Schalterhalle laufen, schreiben? Was verbirgt dieser oder jener Mensch?
Oder was geht in jener Frau vor, die morgens im Dörfchen L. zusteigt am Zugende, aufreizend gekleidet, mittelalt mit Stöckelschuhen, und man kann sie an ihrem aufdringlichen, billigen Parfüm schon am Geruch erkennen. Weißgott stolziert sie an allen freien Plätzen, derer gibt es genug, vorbei bis ganz nach Vorne, wo sie sich setzt, so dass jeder sie gesehen hat. Sucht sie einen Mann? Soll ich ihr einen Heiratsantrag machen? Möchte ich bis ans Lebensende dieses Parfüm riechen?
Im Anblick menschlicher Haut mögen oberflächliche Betrachter rein gar nichts erkennen. Allenfalls richtet sich ihr Blick auf markante schwarze Stellen, die lebensbedrohlich sein könnten. Dass Haut aus Poren, Falten, Flecken und Pickeln besteht ist vielleicht auch nur die verzweifelte Entdeckung des Gelangweilten, der im Gewöhnlichen, immer Daseienden, das Besondere sucht.
So wie ich derzeit verzweifelt den Alltag durchforste nach absonderlichen Feinheiten. Bass-erstaunt stelle ich fest, es klappt. Man kann das Unbekannte im Bekannten finden. Man darf sich nicht blenden lassen, alles und jedes sei entdeckt, somit ein alter Hut, langweilig, nicht bemerkenswert.
Habe ich schon seit Jahren meinen Blick auf das Alltägliche gerichtet, so werde ich es nun um so mehr tun.
„Was ist mit dem Zick-Zack-Jungen? Du hast uns diese Geschichte versprochen.“
„Zick-Zack-Junge? Ahja,“ antworte ich, „nicht vergessen, aber zuerst musste die parfümierte Frau aus L. beschrieben werden“.
Die Anomalien des Alltags zu referenzieren, dies sei meine Aufgabe.