Draußen ist es wärmer als drinnen

Wo ich heute überall gesessen habe: Am Computer, am Feuer, am Waldrand. Ungebremst mahlt die Gedankenmühle in dieser Zeit des Umbruchs. In der Abenddämmerung hatte die Glut eine immense Kraft, so dass ich versuchte, Kollege X. (Name geändert) zu erreichen, er könne seine verschimmelte Küchenarbeitsplatte vorbei bringen, die würde sicher gut brennen im Lagerfeuer vor der Haustür. Aber X. ging nicht ans Telefon. Also öffnete ich ein Bier, denn das gehört unbedingt dazu, wenn man draußen ein schönes Feuer schürt und starrte gen Süden. Alle Farbe verließ nach und nach die Szene, so dass die Bäume an der Südgrenze des einsamen Gehöfts irgendwann zu schwarzen Schatten wurden, die sich im Grau des Himmels verloren. Vorne – ich schaute nach Süden, summte die A8 und rechts die A6. Es ist erstaunlich, dass man diese beiden Autobahnen, obwohl sie vier und sechs Kilometer Luftlinie entfernt sind hier so gut hört. Wenn ich etwas ändern könnte an dieser Welt, so würde ich Autos verbieten und die Autobahnen zu Radwegen erklären. Weniger Lärm, weniger Gestank, weniger Unfälle, kein Frust. Niemand müsste an Herzinfarkt sterben oder sich matt fühlen.

Das Feuer als Ausgeburt des Versuchs der Reinigung, verleitete mich zu folgendem Gedankengang: „Lade alles, was dich stört in dieser Welt auf einen Stapel und zünde ihn an.“ Du wirst neben einem kurzen Moment der Wärme auch eine innere Reinigung fühlen. Man kann diese Gedanken auch ohne Feuer, rein gedanklich, vollziehen und steht am Ende vor einem überschaubaren Haufen Asche, den man in die Mülltonne gibt, oder in eine Urne füllt. Hinterher wird man sich leichter fühlen. Ich war ja einmal Künstler und habe sehr große Kunstwerke geschaffen, deren Lagerung viel Raum einnimmt. Vor etwa 10 Jahren habe ich sämtliche Kunstwerke auf einem Scheiterhaufen verschürt. Riesensauerei. Aber danach ging es mir besser. Man könnte meinen, schade darum, aber ich weiß, wenn die Kunstwerke heute noch existieren würden, wären sie durch falsche Lagerung sowieso zu Schanden. Eine gute Tat also. Da in diesem Jahr 2009 alle meine Kunstwerke digital sind, stellt sich mir die Aufgabe von damals gar nicht mehr. Ich muss sie einfach von Zeit zu Zeit von Festplatte zu Festplatte kopieren. Irgendeins davon wird das Äon vielleicht überdauern.

Am Waldrand setzte ich mich nachmittags auf einen umgestürzten Baum und bewunderte das Chaos des Waldes. Wie sie wild wuchern, die Kollegen Bäume, einer nach dem anderen strebt gen Frühling, insbesondere die Haselsträucher tragen reichlich Blüte. Seichte Wolken verhüllten die Sonne. Die Luft roch gut. „Ich habe überlebt“, dachte ich bei mir. Das war nicht immer so. Noch vor zehn Jahren war es mir egal, ob Frühling, Sommer, Herbst oder Winter war. Ich war immer glücklich und im Norden Norwegens konnte ich einen bärtigen Seebär nicht verstehen, der mir erzählte: „Du glaubst nicht, wie glücklich wir, die wir hier immer wohnen müssen, sind, dass endlich die Sonne scheint. Der Winter war hart. Immer war es dunkel. Das ist hier so und es regnete, schneite, stürmte den letzten Winter ohne Unterbrechung. Viele haben den Freitod gesucht. Vielmehr als üblich. Eine seltsame Spitze in der Statistik. Sie zeigt sich dir nur als Kurve. Mir zeigt sie sich als neue Gräber auf dem Friedhof.“

Nein. Ich habe ihn damals nicht verstanden, aber heute, da ich die 40 überschritten habe, verstehe ich ihn. Menschen ab 40 ist der Frühling wichtig. Er gibt ihnen die Illusion, dem Tod trotzen zu können. Hier ein Jahr, dort eines, jawohl, so wird es weiter gehen …

Telefonate mit alten Freunden kamen mir in den Sinn, als ich auf dem abgestorbenen Baum saß und in den Wald blickte: QQlka etwa, ist der World of Warcraft verfallen. Er äußerte, dass es schwer werden würde, sich loszureißen für ein paar Wochen, gar Tage, und dieser perfekten Welt des Spiels zu entrinnen. Nur wenn ich ihm eine Verbindung DSL 1000 plus X zusichere, würde er mich besuchen. Geht natürlich nicht.

„Wir sind Polarbären in einer schmelzenden Welt. Das Eis bricht und jeder treibt auf seiner Eisscholle in die Ungewissheit“. So dachte ich am Waldrand, sitzend auf einer kahlen Ulme, die allemal als Brennholz taugen würde.

„Schreib‘ das auf“, dachte ich, „das Eisschollenbild ist gut, das können auch andere verstehen, wenn sie an ihre Freunde denken und sich über sie wundern. Du solltest sowieso viel mehr aufschreiben. Jetzt, da du kein Künstler mehr bist“.

Dabei ist der Künstler vielleicht näher, als ich vermute. Der letzte Großauftrag in der Möbelwerkstatt ist vom Band. Der Owner (Chef) verhüllt sich seither in orakulöse Worte, man solle erstmal Urlaub nehmen. Montag treffen wir uns „ich muss mit dir und T. reden“, sagte er am Telefon. Das bedeutet wahrscheinlich nichts Gutes für den Werktätigen. Seither bin ich gespannt. Werde ich Opfer der Krise? Nebenbei denke ich: „Du kannst nur gewinnen. Bist du weiterhin werktätig, so bist du sicher; bist du entlassen, dann bist du frei“. Nicht jeder Mensch ist in einer solch glücklichen Position. Viele haben Häuser, Kinder, Frauen, Schulden. Die Gutbürgerlichkeit will finanziert werden. Sie ist ein nimmersatter Geist. Ich hingegen habe nur eine Katze, eine Wohnung, die nichts kostet und viele Ideen.

„Der normale Mensch ist nicht geschaffen für die Freiheit“, kam es mir in den Sinn, als ich arrogant auf einer gefällten Buche mitten im Wald um das Leben des Baums trauerte. „Die Freiheit ist für den normalen Menschen, der immer alles richtig gemacht hat im Leben, und der so leben darf, wie man es landläufig für richtig hält, nur eine Fiktion, ein großer weiter Traum, den er heimlich lebt. Aber für mich, vielfach gescheitert, das Leid bis weit über die Schmerzgrenze hinaus getestet, ist Freiheit ein greifbarer Begriff“. – „Alle Wege stehen mir offen“, dachte ich an einer Kreuzung von sieben Waldwegen. Welchen nehme ich? Den Weg des Rechtschaffenen! Das ist gut. Er führt abwärts ins Dunkel zwischen engstehenden Douglasfichten, die das Licht der Welt schon weit länger kennen, als ich. Douglasfichten sind ein schnell wachsendes Holz, das, wenn man es pflegt einigen Gewinn abwirft.

Vor einer Höhle schnappte ich Luft und setzte mich auf einen mintgrünen Stuhl, den Jugendliche irgendwann hierher geschleppt haben mögen. Ein schmaler Bach plätscherte. Vögel zwitscherten. „Hier ist die Welt“, dachte ich. Ich schlug ein Bein übers andere, „die Welt ist immer dort, wo du bist. Ohne dich gäbe es diese Welt zwar auch, aber mit dir wird sie erst erfahrbar. Und zwar durch dich. Dich allein“. Das gilt für jeden Menschen. Für dich und dich und dich, der du dies liest. Die Welt ist nur, weil du bist. Wenn du nicht wärst, gäbe es zwar immer noch eine Welt. Aber sie würde nicht erfahren werden. Durch dich und dich und dich. Was nützen die Erfahrungen der Anderen. Nichts ist wichtiger, als die eigene.

Nun, da ich am Computer sitze und diese Zeilen tippe – ich mache das unsynchron, laufe zwischen den Gedanken immer mal wieder zum Feuer, beobachte es – merke ich: draußen ist es wärmer als hier in der Wohnung. Damit wollte ich diesen Artiekl beginnen.

2 Antworten auf „Draußen ist es wärmer als drinnen“

  1. Auch ich sage danke dafür Jürgen.
    Deine bildhafte Ausdrucksweise mag ich sehr und Deine Worte berühren mich.
    Gedanken eines Mannes mitten im Leben … .
    Interessant, nachdenklich und mitdenken machend.

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