Die kreative Welle

Mit dem Begriff die Stimme aufgewacht. Die Stimme zu finden ist für einen Schriftsteller das A und O, hab ich mir sagen lassen. Wenn er sie gefunden hat, kann er ein Buch nach dem anderen schreiben. Dem Japaner Haruki Murakami sagt man nach, er habe seine Stimme erst gefunden, als eines seiner Bücher ins Englische übersetzt und wieder zurück ins Japanische transferiert wurde. Das habe die Sprache vereinfacht, jeder Satz war von da an ein Hieb.

Vorhin überlegt, man könnte ein Buch in Chatform schreiben. Bei meinem gestrigen Selbstversuch wurde mir klar, dass es oft mit einem Smilie beginnt, danach folgen Satzfetzen. Die Wesen im Chatraum kommunizieren auf eigenartige Weise. Es ist wie eine abgespeckte, auf das Allernötigste beschränkte Party. Wenn man einen Chat fingieren würde, rein literarisch, könnte man daraus eine Geschichte spinnen: A betritt den Raum, B betritt den Raum. A schreibt ein hüpfendes rotes Smilie, B schreibt hallo A, A schreibt hallo B, B sagt: alles klar. A sagt mhm, bei dir auch. B: was hast du gemacht heute?

Und so weiter und so fort. Weitere Chatter kommen, gehen, kommen, malen Smilies, rufen Hallo. Über den privaten Chat kommen sich A und B näher, verabreden sich in der richtigen Welt, heiraten, kriegen Kinder, sterben.

Soweit die Chatgeschichte in geraffter Form. Die vielen Hallos, Ähs, und Sorry-ich-hab-dich-nicht-verstandens spare ich meinen Lesern.

Saß eben auf der Couch und dachte mir das ganze aus. Beschloss eine Chatgeschichte zu schreiben. Verwarf die Idee, denn ich hab zu viel zu tun.

Die kreative Kurve kam mir in den Sinn. Ich versuchte mir mein Leben aus göttlicher Perspektive vorzustellen. Weil das nicht einfach ist, zerlegte ich es und betrachtete auch nur die Jahre 2005 und -sechs. Ich zerlegte es in die Kreativitäts- und die Liebeskurve. Die Kreativitätskurve zeigt auf der y-Achse die Menge der Kreativität und auf der x-Achse die Zeit. Deutlich erkennt man einen rasanten Anstieg der Kreativität mit Beginn des Projekts Bliestallabyrinth im Mai dieses Jahres. Die Kreativität ist die Kraft, die dafür sorgt, dass ein Bild sichtbar wird. Erst dann kann man es herstellen und in einer Galerie aufhängen. Künstler gelten gemeinhin als Nichtsnutze, weil man ihre Arbeit so schlecht messen kann. Man nimmt so gerne Bilder, Musik, Skulpturen oder grandiose Architekturen an, erfreut sich an ihnen, sagt lapidar, das da hätte ich auch noch gekonnt, ohne dabei zu registrieren, dass man es nur unter der Bedingung gekonnt haben könnte, ein Endergebnis vor Augen zu haben. Der Künstler hat keine Vorlage. Er muss sie sich selbst schaffen. Das kostet mitunter ein Leben.

Das Projekt Bliestallabyrinth ist in eine Phase gelangt, in dem es keiner Kreativität mehr bedarf. Ich weiß nun, wie es an den Wänden der Galerie aussehen wird. Der Rest meiner Arbeit besteht darin, Material zu kaufen, Rahmen zu bauen, Bilder aufzukleben, sehr einfache Tätigkeiten, die jedoch sehr zeitaufwändig sind.

Aber ich muss mir nicht mehr den Kopf zerbrechen, um eine Logik ins Konzept zu bringen. Sie ist da. Und weil Logik nunmal logisch ist, ist es ein Leichtes, zu behaupten, das da, das hätte ich auch noch gekonnt.

Letztes Jahr, als ich die Kunststraße von Landau nach Zweibrücken kreierte konnte ich mir das Bliestallabyrinth nicht vorstellen. Vor zwei Jahren konnte ich mir die Kunststraße Landau Zweibrücken nicht vorstellen und vor 10 Jahren, als ich in 10-km Abständen die Strecke bis zum Nordkap fotografierte konnte ich mir überhaupt noch nichts vorstellen.

Ich stelle fest: Kunst ist Entwicklung. Dies wusste auch schon der russische Maler Viktor Nikolajev, als er 1993 mit Dispersionsfarbe abstrakte, quadratmetergroße Bilder auf Bettlaken malte. In gebrochenem Deutsch sagte er zu mir: „Früher ich brauche 2 Stunden für ein Bild, heute ist 20 Minuten.“ Seine Bilder waren trotz Bettlaken und billigster Farbe bei den Sammlern in Mailand, Genf und Düsseldorf gefragt.

Die Liebeskurve stieg am 1. April 2005 steil an und hielt sich, mit einigen Einbrüchen das ganze Jahr über auf hohem Niveau. Dann ist sie eingebrochen, schließlich abgerissen. Liebes und Kreativitätskurve haben einander beeinflusst, gaben zusammen mit anderen Kurven, die noch zu erfinden wären, eine klangvolle Stimme, die Stimme meines Lebens.

Der Akustiker wird bescheid wissen über die vielfältige Zusammensetzung der menschlichen Stimme. Eine einzigartige Kennung, bestehend aus vielen unterschiedlichen Tönen, die man über die Strecke des Gesprächs oder des Gesangs als einzelne Kurven darstellen kann.

Jetzt Dokaka: er jault Töne ins Micro, zeichnet sie auf, spielt auf einer weiteren Spur meinetwegen ein kontinuierliches tok tok tok tok und legt die Spuren zeitsynchron übereinander. So entsteht Rhytmus, welchem er jodelnd, jaulend, winselnd wie eine Gitarre eine Harmonie unterjubelt. Am Ende steht, für jeden verstehbar Musik. Würde man ihn während des kreativen Prozesses betrachten, so käme man zweifellos zu dem Schluss, er spinnt.

Und meine Literaturstimme, nach der ich suche? Vielleicht habe ich sie schon.

4 Antworten auf „Die kreative Welle“

  1. Wie schön, dass deine Seite wieder da ist :-)
    Da werd ich den Link bei mir wieder setzen, um dich leichter zu finden.

    Die eigene Stimme zu finden, finde ich nicht nur für Autoren wichtig, sondern ganz überhaupt, zusammen mit dem Mut, sie auch erklingen zu lassen.

    Zu dem Thema spinnt sich, jetzt gerade im Moment, eine ganze Kette von Gedanken in meinem Kopf zusammen, aber ich lasse es trotzdem bei diesem einen Satz.

    Einen schönen Sonntag wünsche ich dir
    Constanze

    1. Eine Folge des Versuchs, den Namen des Artikelautors auszublenden. Ich machs rückgängig und schreibe das Standardlayout fest. Es ist zu spät, ein Childtheme anzulegen.

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