Straße nach Gibraltar 001

Sonntag, 16. April 2000 – Vom Packen

karte – galerie
Jener Tag, an dem ich nach Gibraltar aufbrach wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Ich habe an diesem Tag den größten Fehler gemacht, den ein Reisender nur machen kann. Ich war unkonzentriert, faul und schludrig. Ich erinnere mich, wie mein Herz pochte, schon gleich nach dem Aufwachen, ganz aufgeregt, ich mich sofort aus dem Bett erhob, die Rolläden hoch zog und in eine fahle Sonne blickte. Die Nacht war kurz, aber ich hatte gut geschlafen. Am Vorabend hatte meine Freundin S. ihren 30ten Geburtstag gefeiert. Man tanzte ausgelassen und trank. Jetzt schmerzte mein Kopf. Das Bett war zerwühlt, aber ich war allein. Ich nahm einen Kaffee, zog mich an, schaute aus dem Fenster. Im Osten lag Dunst auf den Äckern. Zart bohrten sich Getreide-Schößlinge durchs Braun. „Es könnte ein guter Tag werden“, murmelte ich. Der Boden meines Schlafzimmers war über und über mit Reiseutensilien belagert. In der Woche zuvor hatte ich es für eine gute Idee erachtet, sämtliche Gegenstände, die man als Fahrradreisender braucht, mitten ins Zimmer auf den Boden zu werfen. Dort hätte man, so meine Theorie, einen prima Überblick und könnte zu jeder Zeit genau kontrollieren, was noch fehlt. Das Zelt lag neben einer Plane in friedlicher Einheit mit solch winzigen Wichtigkeiten wie Taschenmesser und Reisepass. Ich stopfte die Fahrradpacktaschen: drei Unterhosen, drei Paar Socken, Kocher, Schlafsack, ein zwei T-Shirts und noch so Einiges. Zunächst war ich bestrebt, eine gewisse Pack-Ordnung einzuhalten und die Dinge, die ich öfter benötigen würde, nach Oben zu packen und die Dinge, die nur für den Notfall im Gepäck waren oder aus purer Sentimentalität, sollten ganz nach Unten. Knut Hamsuns „Hunger“ steckte ich, zusammen mit Erich Fromms „Haben oder Sein“ in eine Plastiktüte, überlegte, ob sie wichtig oder unwichtig seien. Auf Reisen ist nichts schlimmer als Einsamkeit. Die Einsamkeit verursacht Heimweh. Heimweh ist ein vager Zustand der Sentimentailtät, in dem man nicht mehr ganz Herr seiner Sinne ist. Gegen Heimweh hilft am Besten das Abschweifen in eine fremde Welt, fern jeglicher Äußerlichkeiten. Bücher, so schien es mir, sind hierfür eine gute Methode. Ich stopfte die Lektüre in die linke Packtasche, ganz nach Unten. Darauf Pullover, Regenhose und Sandalen. Dann kam der Schlafsack und ganz Oben quetschte ich den Spiritus-Kocher und sonstige Kochutensilien. Der Packsack beulte sich aus und mir kamen Bedenken. Ich nahm einen Schluck Kaffee, rieb mir das Kinn, murmelte, „nee, nee, so geht das nicht.“ Alles wieder raus. Dann stopfte ich erneut. Mein Kopfweh wurde stärker. Ich nahm eine Schmerztablette, tanzte wie wild durch den Raum, und kam zu dem Schluss: „Eine richtige Packordnung kommt erst unterwegs. Noch befindest du dich in der theoretischen Phase. Was tust du? Denkst dir deine kleine Welt zurecht, dies und jenes habe so und so zu sein, und wenn der Fall A eintritt, musst du mit den Gegenständen B und C gewappnet sein, damit du nicht in die Situation D gerätst, denn D, das wäre doch das Schlimmste, was dir passieren kann.“ Derart verkatert und unruhig radebrach ich, sprach mit mir selbst und stopfte schließlich sämtliche Gegenstände wahllos in die Packtaschen. Meine Unruhe verstärkte sich, als ich ein fast leeres Schlafzimmer vor mir hatte. Es gab nur noch die Fahrradpacktaschen, knapp 150 Liter komprimiertes Tramperdasein. Mein Wohn-, Schlaf-, und Esszimmer für die nächsten paar Wochen. Ich pflückte die große Spanienkarte von der Wand, in welcher ich mit Reißnägeln schon seit Wochen meine Tour absteckte. Sorgfältig faltete ich sie und schob sie zu den Frankreichkarten in eine Plastiktüte. Die Michelin Nummer 58, welche Lothringen und sogar noch das Stückchen Deutschland bis über Zweibrücken hinaus abbildete, legte ich in die Fronttasche. Stets gut erreichbar. Dazu das noch niegelnagelneue, leere Reisetagebuch und einen Stift. Jack Kerouacs „Unterwegs“, kam, gleich einer Bibel, zusammen mit dem Fotoapparat und zehn Schwarz-Weiß, sowie 6 DIA-Filmen ebenso in die Fronttasche. Die Fronttasche ist der Marktplatz des Radreisenden. In Ihr trifft sich die Welt. Die Gegenstände, die sich in ihr befinden, sind die aller-aller-aller-Unentbehrlichsten, die es in der mobilen Lebensumgebung des Reisenden gibt.

Endlich fiel die Tür hinter mir zu. Im Treppenhaus begegnete ich meinen Eltern. Sie waren mindestens genau so aufgeregt wie ich. Ihr Blick zeigte Sorge, angereichert mit jenem würzigen Schuss Aufregung, den wohl jeder von uns spürt, wenn ein Anderer eine große Reise tut. Man fiebert mit wie bei einem Bauvirhaben in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ich glaube, insgeheim wechselten meine Eltern in diesem Moment ein Stückweit den Blickwinkel. Die nächsten Tage und Wochen würde ich für sie zum Protagonisten einer fernen Geschichte mutieren, ein zwar naher, aber mit jedem Tag ferner werdender Mitmensch. Und im Gegenzug würde die Welt auf meinen Karten für mich mit jedem Kilometer, den ich in Richtung Gibraltar zurücklege realer und realer werden.

Die Gedanken und Gefühle im Moment des Abschieds sind schwer zu beschreiben. Bei der Begegnung im Treppenhaus war ich bemüht, meine Alkoholfahne zu verbergen, mich als starker, cooler Starter einer Reise zu zeigen. Mein Vater nahm Packtaschen. Vermutlich spürte er wie meine Hände zitterten.. Mein Mutter trug die Fronttasche mit der Bibel und den wichtigen Dingen. Vor dem Haus drückte ich ihnen den Fotoapparat in die Hand für ein letztes Foto. Oder vielmehr für ein Erstes.

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