Von Bismarcks Schloss zur Quelle der Luhe
Heute müssen wir über Chronodiversität reden, jenen von mir lapidar erfundenen Begriff in Anlehnung an die Begriffe Biodiversität und Neurodiversität. Chronodiversität ist, finde ich, die Diversität persée als natürlichste aller Daseinsformen. Alle ticken ähnlich, keiner tickt gleich, aber des Menschen Tendenz zur Bevormundung und Gleichmachung ist so übermächtig, dass einem, wenn man einmal ein paar Jahrzehnte als Mensch gewachsen ist und sich daran gewöhnt hat, die Diversität als etwas Unnatürliches vorkommt. Der Normalzustand hingegen scheint: Alle sind genau so und so und abnorm ist das, was nicht unserer festgelegten Norm entspricht. Das liegt ja schon im Begriff Abnorm. Menschen normieren, die Natur hingegen entwickelt sich in sich verschlingenden Daseinssträngen, zwar oft kongruent oder ähnlich, jedoch divers. Stets ist das so.
Es liegt wohl am System, das wir bilden, dass es Bevormundung und Normierung nötig macht. Den gestrigen Tag kurbele ich dem Navi folgend über ruhige Sträßchen und oft Wald- und Sandwege, zunächst vom Sachsenwald bis zur Elbe, die ich bei Geesthacht über die Brücke überquere. Guter Morgen. Bin schon spät dran. Habe keine Eile. Das Hirn eruiert, es ist Donnerstag. Es versucht Zeitanker zu finden, doch so wirkliche Verankerungen in der Zeit gibt es nicht. Was war gestern, vorgestern, was war vorhin, vorvorhin? Bismarckmuseum ahja, darüber schrieb ich schon und die kuriose Begegnung mit der Rezptionistin, der ich gegen neun Minuten vor zehn ins Haus flatterte, nichts ahnend um die Uhrzeit. Im Hindergrund im kleinen Vorraum des Museums die wuchtige, geschnitzte Uhr namens Bimbam, so will ich sie nennen, die einst den Gründer des deutschen Reichs durchs Leben begleitete, ihm Stund um Stund schlug.
Die Elbebrücke bei Geesthacht überquert auch eine Elbinsel. Ich mache einen Abstecher, will schauen, ob ich am Elbstrand baden kann. Durchs Schilf gehts auf schmalem Pfad zum Sandstrand. links sehe ich die Brücke, vor mir der Fluss. Niedrigwasser. Ich baumele in der Hängematte. Es ist erst das dritte Mal auf dieser Reise, dass sie zum Einsatz kommt. Sonst dient sie mir nur als Kopfkissen im Zelt. Schleuderte den Gurt über eine schief hängende Weide, deren Äste verwunden sind wie die Daseinsformen allen Lebens. Diverse Weidenäste. Ein Ast, mehr als Oberschenkel dick, sackte einst ab in die Gabel zweier anderer Äste und stützte sich jenseits auf den Boden, wo seine Knospen Wurzeln bildeten, ein neuer, oder der gleiche Baum zu wachsen begann, welch herrliches Geflecht. Schleuderte den Gurt knapp drei Meter in die Höhe und er verfing sich mit der Schnalle, war nicht mehr wegzuziehen, geschweige denn, dass ich die Matte daran hätte aufhängen können und so verbringe ich erst einmal eine Weile damit, das Ding zu befreien. Mit einem Zweig stochernd gelingt es schließlich und im dritten Anlauf kann ich die Matte endlich aufhängen und baumeln. Der Fluss weicht noch weiter zurück, Ebbe. Ich baumele. Der Fluss kehrt wieder. Zeit verrinnt. Beim Packen später bemerke ich, dass ich einen der drei Stoffbeutel verloren habe. Eine leere Pfanddose darin und die einzige Meermuschel, die ich mitgenommen habe am Strand von Fanö. Ich hadere wegen der Muschel und nuja, vermutlich ist der Beutel beim Sachsenwald-Zeltplatz liegen geblieben und das dauert mich noch mehr, dass ich dort Schmutz hinterlassen habe. Da hilft es auch nicht, dass ich ebendort auch Schmutz mitgenommen und im nächsten Mülleimer entsorgt habe. Hoffentlich ist der nächste wild Zeltende dort so drauf wie ich und nimmt meinen Müll mit.
Im Hadern und Packen aauf meiner Elbinsel, irgendwann muss man ja weiter ziehen, verschussele ich das Fahrradschloss, das mir Fliegerhorst gegeben hatte, kein teures, ich bemerke es erst, als ich das Radel vorm Lidl in Salzhausen abschließen will. Mist. Es ist von Vorteil, stets in kleinen Siedlungen einzukaufen, in denen die Supermarktvorfeldsituation übersichtlich ist, keine Tagdiebe herum lungern (wie z. B. in Flensburg, als ich mich vor dem Laden umdrehte und weiter fuhr, weil dort zwielichtiges, in die Ecke pissendes Volk unterwegs war). Salzhausen wirkt eher dörfisch. So kann ich das Radel auch unabgeschlossen beruhigt stehen lassn, gehe hinein, kaufe ein, Haferflocken, die ich zusammen mit eingeweichtem, usbekischem Trockenobst (obskure Tüte aus Mühlendorf bei Oelixdorf) zu essen gedenke. Des morgens. Vorm Markt eine junge Betllerin, knallrotes Gesicht. Sie schaut, wie wir alle, einem Bagger zu, der mit Getöse ein Haus gegenüber abreißt. Ich werfe einen Euro in ihren Becher, der schon gut gefüllt ist mit Eurostücken, freue mich für sie. Ihr Radel parkt unabgeschlossen neben meinem. Frage mich, ob sie als Europennerin bettelnd unterwegs ist oder aus Not, wobei eben, die Not, anders zu sein, ist ja genauso eine Not wie die Not, ein abes Bein zu haben, nein, nicht ganz so grausam, ich übertreibe, sollte dies noch feilen, diesen Gedanken.
Die Tastatur auf den Trangia zu legen und zu schreiben hilft. Es gibt weniger Vertipper, habe ich das Gefühl und wenn Bluetooth stabil ist, entstehen auch keine Zeilensprünge.
Radele weiter zu einer Waldlichtung hin, die ich morgens nach Gutdünken im Navi als Tagesziel programmiert hatte. Stelle mir eine fein gemähte Weide vor, keine Hochsitze, kein panoptisches Grusel, sondern ein Idyll und kämpfe mich über Wald-und Schotterpisten heran, bin fast dort und: zack, Waldweg gesperrt wegen Forstarbeiten. Also weiter. Gleich nebenan ist auf der Karte etwas eingezeichnet, das sich als brauchbar erweisen könnte, vielleicht ein Holzlagerplatz, doch auch dort: Zaun, Stacheldraht, militärischer Bereich. Kilometer lang. Irgendwann eine Hinweisschild zur Luhequelle, ganz nah. Ich folge dem Weg, der ein Wanderweg ist, sandig, nicht gut fahren, aber wenn ich schon da bin, dann doch auch zur Quelle hin (wie die Liebste einst schrieb). Bei der Luhequelle ist kaum Platz zum zelten und die A7 ist so nah, dass es mir zu laut ist, um dort zu zelten. Zum Glück ist eine meiner erworbenen Fähigkeiten, dass ich im Hirn schon mögliche alternativ-Lagerplätze oder Hütten markiere, an denen ich vorbei radele. Da war doch was. Ist nicht weit und so fahre ich zurück, noch einmal hundert Meter weiter entfernt von der Autobahn zu einem Holzfällerweg, auf dem ich das Zelt unter einer trockenen Kiefer aufbaue. Einige tief hängende, dürre Zweige, die in mein Lager ragen, breche ich ab. Straße hört man deutlich, stelle mir vor, es sei ein Fluss.
Mit Ludwig hatte ich vereinbar, dass er mich irgendwann an der Autobahn aufgreift. Seine Aussage, er fahre Freitag oder Samstag ist zwar klar, aber nun merke ich am eigenen Leib, wie kompliziert das für andere Menschen sein muss, wenn ich mich in solch schwammiger, chronodivergierender Art ausdrücke und ein großes schwammiges zeitliches Vielleicht und Womöglich in die Welt rufe. Wenn ich das Bild der sich windenden umeinander wicklenden Divergenzien noch einmal aufgreife, so sind es unsere Reisen, unsere stets in Bewegung Seiens, die es kompliziert machen, einen Synchronpunkt zu finden. Ich werde weiter nach Süden radeln und mein Weg folgt auch noch der A7, aber gegen späten Nachmittag muss ich eine Entscheidung treffen, die die Ludwig-Variante, an der A7 zuzusteigen, verunmöglichen könnte, denn dann würde ich in Richtung Steinhuder Meer fahren, westlich von Hannover. Meine Ludwigzustiegsmöglichkeit ist aber östlich Hannovers. Es wäre nun gut zu wissen, ob der liebe Mensch heute bis morgen früh in dem Zeitfenster fährt, in dem ich noch in A7-Nähe bin. Falls nicht, würde ich per Zug nach Hause fahren.
Das Radel zickt auch ein wenig. Ich weiß, dass ich heim muss und ich will auch heim. Hoffe, die krachende Kette hält noch zwei dreihundert Kilometer durch.