Chronodiversität – Tag 22

Von Bismarcks Schloss zur Quelle der Luhe

Heute müssen wir über Chronodiversität reden, jenen von mir lapidar erfundenen Begriff in Anlehnung an die Begriffe Biodiversität und Neurodiversität. Chronodiversität ist, finde ich, die Diversität persée als natürlichste aller Daseinsformen. Alle ticken ähnlich, keiner tickt gleich, aber des Menschen Tendenz zur Bevormundung und Gleichmachung ist so übermächtig, dass einem, wenn man einmal ein paar Jahrzehnte als Mensch gewachsen ist und sich daran gewöhnt hat, die Diversität als etwas Unnatürliches vorkommt. Der Normalzustand hingegen scheint: Alle sind genau so und so und abnorm ist das, was nicht unserer festgelegten Norm entspricht. Das liegt ja schon im Begriff Abnorm. Menschen normieren, die Natur hingegen entwickelt sich in sich verschlingenden Daseinssträngen, zwar oft kongruent oder ähnlich, jedoch divers. Stets ist das so.

Es liegt wohl am System, das wir bilden, dass es Bevormundung und Normierung nötig macht. Den gestrigen Tag kurbele ich dem Navi folgend über ruhige Sträßchen und oft Wald- und Sandwege, zunächst vom Sachsenwald bis zur Elbe, die ich bei Geesthacht über die Brücke überquere. Guter Morgen. Bin schon spät dran. Habe keine Eile. Das Hirn eruiert, es ist Donnerstag. Es versucht Zeitanker zu finden, doch so wirkliche Verankerungen in der Zeit gibt es nicht. Was war gestern, vorgestern, was war vorhin, vorvorhin? Bismarckmuseum ahja, darüber schrieb ich schon und die kuriose Begegnung mit der Rezptionistin, der ich gegen neun Minuten vor zehn ins Haus flatterte, nichts ahnend um die Uhrzeit. Im Hindergrund im kleinen Vorraum des Museums die wuchtige, geschnitzte Uhr namens Bimbam, so will ich sie nennen, die einst den Gründer des deutschen Reichs durchs Leben begleitete, ihm Stund um Stund schlug.

Die Elbebrücke bei Geesthacht überquert auch eine Elbinsel. Ich mache einen Abstecher, will schauen, ob ich am Elbstrand baden kann. Durchs Schilf gehts auf schmalem Pfad zum Sandstrand. links sehe ich die Brücke, vor mir der Fluss. Niedrigwasser. Ich baumele in der Hängematte. Es ist erst das dritte Mal auf dieser Reise, dass sie zum Einsatz kommt. Sonst dient sie mir nur als Kopfkissen im Zelt. Schleuderte den Gurt über eine schief hängende Weide, deren Äste verwunden sind wie die Daseinsformen allen Lebens. Diverse Weidenäste. Ein Ast, mehr als Oberschenkel dick, sackte einst ab in die Gabel zweier anderer Äste und stützte sich jenseits auf den Boden, wo seine Knospen Wurzeln bildeten, ein neuer, oder der gleiche Baum zu wachsen begann, welch herrliches Geflecht. Schleuderte den Gurt knapp drei Meter in die Höhe und er verfing sich mit der Schnalle, war nicht mehr wegzuziehen, geschweige denn, dass ich die Matte daran hätte aufhängen können und so verbringe ich erst einmal eine Weile damit, das Ding zu befreien. Mit einem Zweig stochernd gelingt es schließlich und im dritten Anlauf kann ich die Matte endlich aufhängen und baumeln. Der Fluss weicht noch weiter zurück, Ebbe. Ich baumele. Der Fluss kehrt wieder. Zeit verrinnt. Beim Packen später bemerke ich, dass ich einen der drei Stoffbeutel verloren habe. Eine leere Pfanddose darin und die einzige Meermuschel, die ich mitgenommen habe am Strand von Fanö. Ich hadere wegen der Muschel und nuja, vermutlich ist der Beutel beim Sachsenwald-Zeltplatz liegen geblieben und das dauert mich noch mehr, dass ich dort Schmutz hinterlassen habe. Da hilft es auch nicht, dass ich ebendort auch Schmutz mitgenommen und im nächsten Mülleimer entsorgt habe. Hoffentlich ist der nächste wild Zeltende dort so drauf wie ich und nimmt meinen Müll mit.

Im Hadern und Packen aauf meiner Elbinsel, irgendwann muss man ja weiter ziehen, verschussele ich das Fahrradschloss, das mir Fliegerhorst gegeben hatte, kein teures, ich bemerke es erst, als ich das Radel vorm Lidl in Salzhausen abschließen will. Mist. Es ist von Vorteil, stets in kleinen Siedlungen einzukaufen, in denen die Supermarktvorfeldsituation übersichtlich ist, keine Tagdiebe herum lungern (wie z. B. in Flensburg, als ich mich vor dem Laden umdrehte und weiter fuhr, weil dort zwielichtiges, in die Ecke pissendes Volk unterwegs war). Salzhausen wirkt eher dörfisch. So kann ich das Radel auch unabgeschlossen beruhigt stehen lassn, gehe hinein, kaufe ein, Haferflocken, die ich zusammen mit eingeweichtem, usbekischem Trockenobst (obskure Tüte aus Mühlendorf bei Oelixdorf) zu essen gedenke. Des morgens. Vorm Markt eine junge Betllerin, knallrotes Gesicht. Sie schaut, wie wir alle, einem Bagger zu, der mit Getöse ein Haus gegenüber abreißt. Ich werfe einen Euro in ihren Becher, der schon gut gefüllt ist mit Eurostücken, freue mich für sie. Ihr Radel parkt unabgeschlossen neben meinem. Frage mich, ob sie als Europennerin bettelnd unterwegs ist oder aus Not, wobei eben, die Not, anders zu sein, ist ja genauso eine Not wie die Not, ein abes Bein zu haben, nein, nicht ganz so grausam, ich übertreibe, sollte dies noch feilen, diesen Gedanken.

Die Tastatur auf den Trangia zu legen und zu schreiben hilft. Es gibt weniger Vertipper, habe ich das Gefühl und wenn Bluetooth stabil ist, entstehen auch keine Zeilensprünge.

Radele weiter zu einer Waldlichtung hin, die ich morgens nach Gutdünken im Navi als Tagesziel programmiert hatte. Stelle mir eine fein gemähte Weide vor, keine Hochsitze, kein panoptisches Grusel, sondern ein Idyll und kämpfe mich über Wald-und Schotterpisten heran, bin fast dort und: zack, Waldweg gesperrt wegen Forstarbeiten. Also weiter. Gleich nebenan ist auf der Karte etwas eingezeichnet, das sich als brauchbar erweisen könnte, vielleicht ein Holzlagerplatz, doch auch dort: Zaun, Stacheldraht, militärischer Bereich. Kilometer lang. Irgendwann eine Hinweisschild zur Luhequelle, ganz nah. Ich folge dem Weg, der ein Wanderweg ist, sandig, nicht gut fahren, aber wenn ich schon da bin, dann doch auch zur Quelle hin (wie die Liebste einst schrieb). Bei der Luhequelle ist kaum Platz zum zelten und die A7 ist so nah, dass es mir zu laut ist, um dort zu zelten. Zum Glück ist eine meiner erworbenen Fähigkeiten, dass ich im Hirn schon mögliche alternativ-Lagerplätze oder Hütten markiere, an denen ich vorbei radele. Da war doch was. Ist nicht weit und so fahre ich zurück, noch einmal hundert Meter weiter entfernt von der Autobahn zu einem Holzfällerweg, auf dem ich das Zelt unter einer trockenen Kiefer aufbaue. Einige tief hängende, dürre Zweige, die in mein Lager ragen, breche ich ab. Straße hört man deutlich, stelle mir vor, es sei ein Fluss.

Mit Ludwig hatte ich vereinbar, dass er mich irgendwann an der Autobahn aufgreift. Seine Aussage, er fahre Freitag oder Samstag ist zwar klar, aber nun merke ich am eigenen Leib, wie kompliziert das für andere Menschen sein muss, wenn ich mich in solch schwammiger, chronodivergierender Art ausdrücke und ein großes schwammiges zeitliches Vielleicht und Womöglich in die Welt rufe. Wenn ich das Bild der sich windenden umeinander wicklenden Divergenzien noch einmal aufgreife, so sind es unsere Reisen, unsere stets in Bewegung Seiens, die es kompliziert machen, einen Synchronpunkt zu finden. Ich werde weiter nach Süden radeln und mein Weg folgt auch noch der A7, aber gegen späten Nachmittag muss ich eine Entscheidung treffen, die die Ludwig-Variante, an der A7 zuzusteigen, verunmöglichen könnte, denn dann würde ich in Richtung Steinhuder Meer fahren, westlich von Hannover. Meine Ludwigzustiegsmöglichkeit ist aber östlich Hannovers. Es wäre nun gut zu wissen, ob der liebe Mensch heute bis morgen früh in dem Zeitfenster fährt, in dem ich noch in A7-Nähe bin. Falls nicht, würde ich per Zug nach Hause fahren.

Das Radel zickt auch ein wenig. Ich weiß, dass ich heim muss und ich will auch heim. Hoffe, die krachende Kette hält noch zwei dreihundert Kilometer durch.

Von Gnadenhöfen, Landschlössern und Spätverkerouacung – Tag 21

Vom Auwald nach Friedrichsruh

Eine zweigeteilter Tag, Zwiespalttag. Nachdem ich morgens mit Ludwig eine ungefähres Treffen irgendwann Freitag oder Samstag vereinbart habe, ist mein Ziel nun relativ scharf vor Augen: südwärts, über die Elbe und mich in Nähe der A7 begeben, damit wir uns an einer gemütlichen Autobahnauffahrt treffen können wie einst nahe Würzburg, als er mich aufgriff und mitsamt Radel und Gepäck mitnahm nach Nürnberg. Letztes oder vorletztes Jahr. Das Hin- und hertreiben lässt mich denken, dass ich verspätkerouace im europäischen Sinn, ein Gammler, Zen und weite Wege-Leben, hoffentlich nicht mit zu vielen lähmenden Manjana-Phasen. Das Navi routet mich über ruhige, meist geteerte Wege – zunächst. Vorbei an Gehöften, durch Naturschutzgebiete, kleine Dörfer, in denen es nichts gibt, kein Laden, kein Wasserhahn, noch nicht einmal ein Bushäuschen und oft auch keine Bushaltestelle. Undichtbesiedeltes Naturland, nein Acker- und Weideland, gespickt mit Wäldchen. Sonnig. Gartsiger Wind, den ich, da er aus Nord-West kommt, nur spüre, wenn ich anhalte. Zehn, zwanzig, dreißig Kilometer weit und nichts, kein Laden, keine Kaufmöglichkeit. Zumindest nicht direkt auf meiner Route. Ich mache einen Nettomarkt ausfindig in einem größeren Dorf, setze ihn als Zwischenziel. Vom morgendlichen Startpunkt aus ist er 60 Kilometer entfernt. Erinnerungen an Lappland werden wach. Dort passierte es mir zwischen Asele und Lycksele auf einer Distanz von etwa 80 Kilometern, dass es nichts gab als Leere, Wald und Rentiere, nur die Straße und ich. Hier, nur wenige Kilometer südlich von Flensburg, fühlt es sich ähnlich an, riecht es auch ähnlich in Kiefernwaldnähe. Ich fühle Freiheit und ein gewisses Explorer- und Forschendentreiben in mir. Ja, es ist noch da und auch die gute alte Kunstmaschine funktioniert. Es ist anders als früher, behäbiger, aufgeräumter, weniger drängend, Nichtsmusstag heute. Die Tagesetappe kippt nach etwa 40 Kilometern. Halbzeit, ich hatte einen Platz im Sachsenwald nahe Geesthacht angepeilt zum Übernachten. Nun streife ich Hamburg und nahe Hamburg wird es wuseliger, gibt es mehr Menschen, mehr Lärm, mehr Verkehr, ab und zu eine Hauptstraße für hundert Metrer, dann wieder kleinste Wege und so seltsam: Gerade hier durchfahre ich ein riesiges Naturschutzgebiet, kurz zuvor nur Acker, komme ich nun zunehmend auf Waldwege, Sand und Kies und Kopfstein. Das Radeln wird plötzlich anstrengend. Ich komme sehr langsam voran. Zur Mitte der Etappe doch noch ein Städtchen. Vor einer Werkstatt halte ich an, um eine der alten LKW-Ruinen, die davor stehen, zu fotografieren. Ein Ford Feuerwehrfahrzeug aus den USA. Drei kleine Hundchen mit SOLCHEN Kampfhundköpfen kommen zum Schnuppern und ein Mann, mit dem ich ins Gespräch gerate über die LKA-Ruinen und das Woher und wohin. Er empfiehlt mir den See in der Nähe und Supermärkte gibt es auch. Im See habe er schwimmen gelernt und nun lebe er in Hamburg. Ich kaufe ein, fahre am See vorbei, respektive, bin ich ja schon, will nicht zurück und frage mich, warum eigentlich nicht umkehren? Was treibt mich? Nur mein morgens zufällig selbst gewähltes Tagesziel, sonst nichts. Die Distanz auf dem Kilometerzähler wächst. Das Navi gibt die voraussichtliche Ankunftszeit aus. Es wird wieder neun, bis ich da bin. Das Navi sagt zwar viertel nach acht, aber ich kenne mich. Müde bin ich, Ruhen geht schlecht wegen des Winds. Zu ungemütlich. Bei einer überdachten Bank und Sonne verusche ich zu schlafen, aber die Stechmücken quälen mich. Also weiter.

Später hole ich noch Wasser in einem Restaurtant gleich neben dem eigentlich angepeilten Nettomarkt, den ich aber nicht mehr brauchte, weil ja zuvor schon eingekauft. Im Laden kein Wasserhahn ersichtlich also beim Italienischen Restaurant angefragt und ja, natürlich darf ich im  WC Wasser holen. Das Wasser fließt nur warm, der Hahn hat keine Regulierung und funktioniert per Sensor und im Restaurantradio dudelt Schlagermusik. Die Wege werden immer abenteuerlicher und kurz vorm Sachsenwald sind es nur noch Pfade, Mountainbikewürdig. Mit acht bis 15 km gehts voran. Unter der Autobahn durch auf Holperpfaden, eher anspruchsvoll mit Gepäck. Ich nehms gelassen, stelle mir vor, es ist Training für mein Projekt Santander-Valencia, auf Vias Verdes durch Spanien (haltet mich zurück).

Friedrichsruh. Bismarckmuseum, Forsthaus, ganz in der Nähe die zwei Wildzeltplätze aus der Opencampingmap, die sich als barer Wald entpuppen. Ich könnte also überall zelten. An den Koordinaten befindet sich kein Schild wie üblich, das die Regeln erklärt. Aber es gibtauf kleinen Lichtungen zwei Podeste, auf denen Zelte stehen. Die Karte zeichnet sie mit Waldkorb und Waldkorb 2 aus. Ich bin unsicher, ob das legal ist, hier einfach so zu zelten, aber bin müde, ist spät, baue das Zelt auf. Die Waldkörbe sind mit Zugbrücke und Schlössern gesichert. Man kann sie womöglich mieten.

Angenehme Nacht. Viele Tierlaute, sehr markant hoch oben in den Bäumen, wahrscheinlich Vögel. Ich mache im Halbschlaf eine Tonaufnahme.

Morgens gehe ich ins Bismarckmuseum. Bin früh dran, die Tür ist schon offen und so gehe ich ins Foyer. Empfangsraum. Frau hinter Schreibtisch und Monitor. Was ich wolle, fragt die Frau am Schalter. Postkarten, Museum, gibt es Kaffee, sage ich. Ob ich wisse, dass noch nicht zehn ist. In der Tat nein. Der Computer fährt gerade hoch, ich darf Postkarten schauen, kaufe vier Stück, Kaffee gibt es nicht und um 9:57 darf ich durch die Ausstellung laufen, die wider Erwarten recht spannend ist. Eine Schulklasse ist auch angekündigt für diesen Morgen. Eine geschnitzte Standuhr, sehr üppig, zeigt viertel nach zehn und das ganze Museum ist pompös, riesige Portraitgemälde von Königen und Kaisern, beängstigend richtet sich quer durch zwei Ausstellungsräume herrschend der Lauf einer französische Mitraieuse-Kanone auf die Besuchenden. Bismarck hatte die Waffe einst als Kriegsbeute hat mitgehen lassen Ganz mulmig, das 25-geschössige Rohr. Das Museum befindet sich deshalb hier abseits von allem Tummel, mitten im Wald, weil Friedrichsruh sein Schloss, sein Alterssitz war. Viertel nach zehn kommt die Schulklasse, ich schreibe ins Gästebuch, will mich hinterm Haus auf ein Picknickbänkchen verziehen, finde keins, komme an einem Pferdegnadenhof vorbei, treffe einen Mann, der mit einem Patenpferd, einer Haflingerstute spaziert. Das Tier habe es nicht gut gehabt, sieht aber nach einiger Zeit schon auf dem Gnadenhof sehr vital aus, frisst Blätter von Bäumen. Martina, die Gnadenhoferin, habe es wieder aufgepäppelt. Als Pate gibt er auch ein bisschen Geld und geht einmal die Woche spazieren mit dem Pferd.

Bis zur Elbe hin oft durch Waldwege, nun wohl in Geesthacht über die Brücke auf eine Insel geradelt, wo ich am Elbestrand die Hängematte in den Weiden aufgehängt habe und etwas verrenkt diese Zeilen Tippe, schneidersitzend. Es herrscht Ebbe, das Wasser fällt. Vielleicht gehe ich baden?l

 

Im Regen radelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst – Tag 20

Von Eggebek in den Auwald

Es ist und bleibt wohl wie am ersten Tag: Eine Irgendwohin-Tour. Wobei der gestrige Tag 20, ein Dienstag, zu den stabileren gehört. Nachdem ich Kurs auf Eggebek und Umkehr gesetzt hatte und Eggebek auch erreichte, war der nächste Schritt logisch: weiter südwärts. Doch je ferner die Zukunft, desto ungewisser. Soll ich einfach weiter radeln? Soll ich in den Zug steigen? Freund L. anrufen, der gerade in Hamburg ist und schauen, ob ich mit ihm im Van ein bisschen südwärts fahren kann? Das klingt verlockend. Er könnte mich nähe Würzburg absetzen und ich würde nach Osterburken radeln und ab dort in der ellenlangen S1, die einmal als die längste S-Bahnstrecke Deutschlands galt, vielleicht ist sie das noch, bis Homburg ausbaumeln.

Müsste mich dann herumtreiben, bis L. vielleicht kommenden Montag retourniert und könnte noch Samstag in Neumünster zur Lesung und Ausstellung von Freund R.. Der würde sich vielleicht freuen!

Der Abend bei M., dem Freund meines Vaters, war goldrichtig. Im Vorfeld hatte ich Bedenken, war aufgeregt, schließlich hatte ich M. und seine Familie, die Frau, die Tochter, den Sohn  vermutlich nur ein zwei drei Mal in Kindertagen gesehen. Ich erinnere mich kaum und eigentlich auch nur daran, dass wir 1978 im ersten Wohnwagenurlaub in Dänemark bei ihnen vorbei geschaut hatten. M. schwärmte an diesem Abend allen vor, die er am Telefon hatte oder die ein und aus gingen, dass da einer an seinem Abendbrottisch sitzt, den er fünfzig Jahre nicht gesehen hatte. So viele waren es nun zwar nicht, aber es kommt fast hin. Irgendwie Sympathie auf den ersten, ne zweiten Blick und ich sage, ich hätte ihn von meinem Vater als Freund geerbt. Er erzählt wie sie sich kennen lernten, nämlich 1976 in A. Er kam per Zug als Aushilfslehrer zur dortigen Landwirtschaftsschule und mein Vater holte ihn vom Bahnhof ab. Dann Freundschaft. Einmal versuchte mein Vater ihn zum Tauchen zu bewegen, aber es ging nicht an ihn ran. Zu kalt das Wasser, zu düster der See, zu eng die Tauchklamotten. Nunja und mein Vater war auch kein Schönwettertaucher. Viele alte und neue Geschichten und über allem gaukelte der Tod und die Vergänglichkeit. M., seine Frau, starb im selben Jahr wie mein Vater. Nach zwei Jahren Krebs und Metastasen.

Morgens zum Frühstück meine Kinderfreundin C. mit am Frühstückstisch. Sehr herzige, vertiefende Gespräche. C. zeigte ein Video von einem Buben, dessen Mutter und seine beiden Drillingsgeschwister sie psychologisch betreut. Kind in Badewanne, das bei ihr einziehen möchte in der Hoffnung auf ein besseres Leben, ich weiß nicht, so rührend, dass mir ganz warm ums Herz wird.

Gegen zwölf wieder auf dem Sattel. Radele südwärts. Tags zuvor hatte ich in Tarp, dem Nachbararot am Bahnhof geschaut, ob ich dort womöglich weiter komme, und ja, das geht, aber meine Bahnapp lässt nur ein Fahrradticket bis zum Ende des Verkerhsverbunds zu. Ich finde auf Teufel komm raus nicht heraus, wie ich ein Langstreckenticket der DB kaufen könnte. Auch am Automaten gibts vermutlich nur die Verbundstickets, die in Hamburg enden. Ich habe keine Lust mich durch drei Verbünde bis Kassel zu buchen und dann den dreifachen Preis für die Radmitnahme zu zahlen. Es ist ohnehin nervig mit Rad in der Bahn und im Grunde genommen, das weiß ich jetzt, bin ich nur deshalb hier und die Reise verlief nur deshalb so, weil mich das Bahnfahren mit Radel und die Ticketungewissheit abschreckte.

Rückenwind. Das Navi routet gut. Nur einmal muss ich für 100 Meter durch den Wald schieben über einen zerfahrenen Moorweg, der zwar als Radroute ausgewiesen ist, aber eigentlich unfahrbar. Beim Militärstandort Jagel, nicht schön, ein paar Kilometer entlang der Bundesstraße, setzt Regen ein. Einsamer Soldat in Tarnkleidung auf weitem Feld an dystopisch wirkender Außerortsbushaltestelle. Rucksack. Der Mann wirkt verdrossen oder angepisst wegen des Regens. Flieger donnern durch die Wolken. Man sieht sie nicht. Ich suche einen Unterstand, eine Bushaltestelle (nein, die Soldatenhaltestelle gegenüber des Standort-Eingangs hatte keine Hütte) und auch im Dorf gibt es keinen Unterstand, radele also über Sandwege weiter ins nächste Dorf. Die neuen schneeweißen Schuhe, die mir M. geschenkt hatte sind nun schon sehr gebraucht und abgenutzt, halten den Regen aber besser ab als meine alten Schlappen. Im nächsten Dorf endlich ein Häuschen. Radel und ich passen rein. Koche Kaffee, esse etwas, mache Lebensmittelinventur, räume das Radel auf, verkabele Geräte zwecks Laden der Batterien. Die Tristesse und die Dauernavigation zehren an den Akkus. Der Son kommt kaum nach mit Laden. Für Handy UND Gopro reicht es definitiv nicht, was ich mit dem Nabendynamo einfahre, aber eben, besser als nix und bei jedem Fetzen Sonne, kommt die Solarzelle raus. Am Tag 20 keine Sonne. Wirklich nicht?

Das Bübchen aus dem Film von C. geht mir nicht aus dem Kopf. Was für ein mieser Start ins Leben: Schlaganfall im Mutterleib, die Mama überfordert, psychisch angeschlagen, Alleinerziehende. Im Kindergarten gemobbt, epileptische Anfälle als Folge des Schlaganfalls, aber so ein munteres Kerlchen. Da kommen mir die Tränen, da wünsch ich mir, ich könnte helfen oder die Menschheit machen, dass sie von Natur aus aus freiem Herzen immer allen hilft und keinen ausgrenzt oder mobbt. Wir sind keine Guten, gewiss, aber es gibt Gute, zum Glück. Hoffe, das Gute gewinnt, tritt um Tritt in die Pedale, mantrisch kurbelnd, die innere Regenbogenflagge gehisst.

Nach dem Bushäuschen weiter im Nieselregen, zu früh, der Regen nimmt wieder zu, rette mich in ein Edekacafé im nächten Dorf, Erdbeerspaghettikuchen: wie Spagehttieis muss man sich das vorstellen, dazu Kaffee. Lasse ein paar Milchportionen mitgehen beim Bestecktisch. Zucker gibts und Milch und Löffel und Tücher. Sollte ich öfter tun. Dann brauche ich mit der Portionierung beim Eigenkaffee nicht immer zu jonglieren. Die Steckdose neben dem Tisch funktioniert nicht. Egal. Hatte bei M. alle Geräte und Akkus aufgeladen. Das Lademanagement ist nicht zu verachten. Mit drei Kabeln und Steckdosenmöglichkeiten musste ich dennoch nachts aufstehen, um schon Volles auszustöpseln und noch Leeres einzustöpseln.

Erst nach 17 Uhr ist das Wetter stabil, kann ich endlich richtig loskurbeln. Noch 70 Kilometer bis zu meinem angedachten Ziel, ein Erlebniswald östlich von Neumünster. Ich wäre um 21:30 etwa dort, sagt das Navi. Unterwegs immer wieder stoppen zum Fotografieren. Die Kimberquelle. Plötzlich ist es bergig und ich kurbele in kleinen Gängen. Sehr schöner Ort, würde ggf. dort wild zelten, aber es scheint ein Wasserschutzgebiet zu sein. Das Wasser schmeckt nach Eisen. Zuvor den Nordostseekanal in Rendsburg überquert. Besser gesagt unterquert. Die Schwebefähre war außer Betrieb. Dort führte eigentlich meine Route entlang. Also kurbele ich zur nächsten eingezeichneten Fähre, aber da ist keine. Ja ja, da ist tatsächlich keine Fähre, erklären mir Leute auf der Straße, das ist ein Tunnel. Jetzt erst erinnere ich mich, dass ich mit der Liebsten da mal durch bin. Drüben auf der Südseite Wasser bei einem WC im Park. Dann hoch zur Kimber und zu meinen Schleswig-Holsteinischen Alpen. An einer Stelle in einem Dorf hoch oben hat man einen kurzen weiten Blick über grünes, meist bewaldetes Tiefland. Ich habe umgeroutet zu einem näheren Zeltplatz westlich von Neumünster. Bereitgestellt von einem Kanuverleih. Stelle mir vor, das es belebt sein könnte, dass eine Kanugruppe dort übernachtet, Naturschutzgebiet Aukrug. Im Ort zuvor gibts mehrere Campingplätze und mit ihnen Campingplatz-Amüsementsvolk. Viele Leute auf der Straße. Im Kopf sehe ich mich ohne Ruhe unter Menschen, doch schon zwei Kilometer nach dem Dorf herrscht Stille, bin ich mitten in der Natur, kann das Navi den Zugang zum Platz erst im zweiten Anlauf berechnen, radele ich einen Waldweg bis zum Fluss, der sich zu einem Pfad verjüngt und dann bin ich da, ein winziges Wieschen, kaum 50 qm groß am Rand eines frisch keimenden Maisfelds. Nur ein Schild: Sei willkommen, Wander und Radel und eine Sitzbankgarnitur mit Tisch. Ich bin alleine und das ist gut so.  Im Wald tutet eine  Bahn. Der Wind zaust heute sehr laut in den Bäumen. Ich weiß nicht, woher er kommt.                                                                                                                                                                                                                                                                                                        

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten

Beitragsentwurf vom ersten Juni 2025, bearbeitet 21. Oktober 2025

„Die Welt krankt an alten weißen Männern, die im Stehen pinkeln …“, postuliere ich, „… und die ihr Geschirr nicht selbst spülen müssen und nie ein Klo geputzt haben.“ – „Nein nein, das ist abgeschmackt“, mildere ich mein Urteil, „nenn‘ sie nicht alte weiße Männer, denn das ist genau das, was sie wollen. Dann können sie schön in ihre Opferrolle schlüpfen, während sie röhrenden Auspuffs mit wehendem grauem Haar in ihren Cabrios in den Sonnenuntergang brausen. ‚Typen‘ reicht vollkommen. Ignorante Autoritaristen. Und ja, es sind fast immer Männer.“

Meine Hände im warmen Wasser der Spülschüssel. Licht in der Küche schummert. Das Becken ist voller Geschirr. Wasser schäumt. Zwischen Schüsselchen, Tellern, Besteck und ein paar Konservengläsern schwimmt eine Bürste und ein Schruppschwamm. Ich weiß gar nicht, was ich zuerst spülen soll. Greife ein Messer, dann einen Kaffeelöffel, dann die hölzerne Kelle, an der die Nudelreste vertrocknet sind, scheitere an der Kelle, lege sie zum Einweichen zurück, nehme eine kleine gläserne Schüssel, in der eingetrocknetes Mehl sich noch nicht lösen will, scheitere auch damit, greife ein paar weitere Gegenstände vom Spülstapel, der seit Tagen steht, lege sie ins Wasser und erkenne.

Genau so sieht mein Hirn aus. Voller Gedanken, die alle gleichzeitig als Ketten von Seins und Tuns laufen. Im Hintergrund ein geheimisvoller cerebraler Peitschenschwinger, der die Herde antreibt, los, voran, macht schon, ohne zu erkennen, das ein jedes dieser zarten Gedankentierchen, die den Karren ziehen, seinen Raum braucht, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit, um aus dem Chaos erlöst zu werden, um zu Ende gedacht zu werden.

Ich kann mich nicht konzentrieren. Beginne einen Blogartikel zu denken über alte weiße Männer, die ihr Klo nie selbst putzten, stelle mir diese Männer vor wie frisch Gewählte, die ihr Hitlerbärtchen frei auf der Stirn tragen, schmunzele, da kommt mir die unverputzte Wand im Keller der Frau Mama in den Sinn, „Mann, Mann, Mann, da müsstste doch auch mal dran arbeiten!“ Stelle mir vor, wie ich das Spezialgemisch an isolierendem Schlämmputz anmische, zuvor mich in Schutzkleidung, Brille, Staubmaske etc. gehüllt habe, die Mischung genau abwiege … herrjeh, dieser Gedankengang verliert sich auch wie so viele, ohne dass der dazu nötige Körper je in Betrieb genommen würde. Ein Reisekunstprojekt im Sommer drängt sich nach vorne, will geplant, gedacht und auf Möglichkeit geprüft werden. Auch dieser Gedankengang reißt ab. Zu groß. Ebenso wie verwaltungstechnisches Zeug, das mich ohnehin anekelt zu denken und zu tun. Dann schon lieber Geschirr spülen.

Zeit Zeit Zeit. Alles kostet Zeit. Kostet, schreibs in Anführungszeichen „KOSTET“, so weit ist es schon, dass du rechnest, Mann.

Wozu wozu wozu? Lass fließen. Hab Geduld. Nur so kannst du dem Chaos in deiner cerebralen Spülschüssel Herr werden. Wie auch in der echten.

Männer, die nie ihr Geschirr selbst spülen mussten. Geschweige denn den Tisch abräumen. Arrogante Kreditkartenzücker, die sich mit anderen arroganten Kreditkartenzückern auf Restauranttoiletten treffen, um sich stehend an Urinalen zu vergleichen: die Güte ihrer Anzüge. Armbanduhren blitzen. Scharf klingt ein Autoschlüssel in der Jackentasche, womöglich. Oberflächliche Gespräche zwischen Waschtisch und Toilette. Und dann zurück zum Tisch, wo das Frauchen wartet oder die Geschäftspartner, die Geliebte, ein Kreditgeber oder ein paar arme angestellte Hansels, die man mal beeindrucken wollte.

Mittlerweile ist das Spülwasser nur noch lauwarm. Ich werde es wechseln müssen. Es taugt bestenfalls noch als Vorspülwasser. Nehme in den eingetrockneten Töpfen je ein bisschen des Wassers, und entledige mich des Geschirrs, das ich als sauber gelten lasse rüber auf das Abtropfgestell. Bevor ich weiter mache, muss der Boiler erst aufheizen, kann ich ein bisschen abtrocknen und Platz schaffen auf dem Gestell, kann das lauwarme Spülwasser in den schwer zu bewältigenden, eingetrockneten Töpfen wirken, kann ich eigentlich auch unterbrechen und das finale Rettungsspülen auf ein Andermal vertagen.

Wie so ein Parallelgedanke über eine zu verputzende Wand, der Hand in Hand läuft mit einem Gedanken zu sommerlichem Reisekunstplan und anderen wichtigen Gedanken.

Mein Hirn ist eine Spülschüssel, in der das Wasser schmutzt und kühlt und es funktioniert deshalb nicht mehr richtig und ich muss alles rausräumen und neu einrichten und das geht am besten beim Radfahren, beim Ausüben einer linearen Tätigkeit, in der Eins aufs Andere folgt, Kilometer um Kilometer, Kreuzung um Kreuzung, Bergetappe um Bergetappe.

Dies ist der Beginn meiner Radeltherapie. Paar Tage her, dass ich die Spülschüssel leerräumte, ein paar Töpfe nur noch stehen ließ, das Radel sattelte und längere Tagestouren machte. Die erste, ringst um Pirmasens, war hektisch, Vatertag wars, die Welt ohnehin grundaggressiv, alkohlgetränkte Bollerwagenarmada, die aber mitten im Pfälzer Wald sich verlor oder gar nicht existierte. Je pfälzer der Wald, desto freundlicher die Menschen, postulierte ich.

Kehrte abends heim mit 140 Kilometern in den Beinen, erschöpft glücklich. Diagnostizierte da erst mein Spülschüssel-Hirn-Syndrom, beschloss, weiter zu machen und über allem gaukelte das Mies der Welt, die falschen am Ruder, aber daran kann ich ja nichts ändern. Betonköpfe, die rückwärtsgewandt eine fossile Ära hochleben lassen und alles Neue abwürgen. Typen, nenn sie Typen, die im Stehen pinkeln und sich des feinen Urinsprühs nicht bewusst sind, der die schneeweißen Hochglanzfliesen ihres Badezimmers benetzt und der sich zu einer klebrigen Kruste schichten würde. Typen, die nie Geschirr spülen mussten, weil sie arme Teufel dafür bezahlen, den Schmutz zu beseitigen. Das Geschirr. Die Urinsteine …

 

UmsLand Bawü – Prolog Tag 2 | Gernsbach nach Freudenstadt | Tour de Murg

Es regnete die ganze Nacht. Heilfroh, dass ich das Zelt in der Schutzhütte des Grillplatzes oberhalb Gernsbachs aufgestellt hatte. Nicht, dass das Zelt undicht und untauglich wäre, aber es ist nie gut, ein klatschnasses Zelt am Morgen zu verpacken, es ggf. und mit etwas Glück tagsüber wo trocknen zu können. In der Nacht war ich kurz draußen, um den Kochtopf unter einem Rinnsal, das vom Dach der Hütte plätscherte aufzustellen. Das aufgefangene Wasser würde das Spülen am Morgen erleichtern und Trinkwasser sparen.

Gegen Dämmerung kamen zwei Gemeindeangestellte in orangenen Klamotten am Lager vorbei. Grüßten freundlich. Spät dran verpackte ich alles, kochte einen schnellen Kaffee und verschob das eigentliche Frühstück mit Brot und Marmelade und Alles auf später irgendwann. Hatte eigentlich um vier Uhr im Halbschlaf überlegt, schon aufzubrechen, dann hätte ich genügend Zeit zum radeln gehabt, um rechtzeitig gegen 12 Uhr in Freudenstadt zu sein, wo ich Frau Laut treffen will, so der Plan, High Noon in Freudenstadt.

Die Tour de Murg ist ein feiner etwa sechzig Kilometer langer touristischer Radweg, der meist abseits der Bundesstraße das Murgtal hinauf schlängelt. Ich hätte ihn prima auch im Dunkeln radeln können. Verwarf, im warmen Schlafsack wälzend, dem Plätschern des Regens lauschend jedoch die Idee, mitten in der Nacht aufzustehen und in den Morgen zu radeln (obschon das gar wunderbar sein kann), schlief wieder ein, erwachte gegen halb neun.

Es würde niemals reichen, die etwa 50 Kilometer bis Freudenstadt bis 12 Uhr zu schaffen. Theoretisch wäre es zwar kein Problem. Aber der Künstler in mir hat dabei mitzureden. Er will ständig stoppen, schauen, sich Gedanken machen um die Beschaffenheit der Welt, fotografieren, jaja und vielleicht würde er auch wo eine längere Rast halten wollen und ein paar Zeilen ins Tagebuch schreiben. Kunstmaschine still alive.

In der Morgenluft, die deutlich kälter war als tags zuvor folgte ich der Tour de Murg, passierte kleine Dörfchen, kurbelte ein paarhundert Meter direkt neben der Bundesstraße auf dem Radweg, nicht schön. Ich erinnerte mich an die frühen Touren in den 1980er Jahren als wir mit Mülltüten voller trocken zu bleibendem Tourenbedraf, Schlafsack, Isomatte, Essen, diese Bundesstraße hinauf radelten. Es gab damals noch keine Tour de Murg und in meiner Erinnerung regnete es permanent auf diesen frühen Touren von der Nordpfalz bis zum Bodensee. Meist fuhren wir in der 17.-Juni-Woche für neun Tage Alsenz-Bodensee und zurück etwa 800 bis 1000 Kilometer. Ohne Zelt, in Neubauten und Sägewerken und Schuppen hausend, in Bäckereien um Brot bittend.

Dergestalt bin ich nun geradezu hightech unterwegs. Mit allmöglichem elektronischen Zeugs, mit Winterzelt – und das werde ich auch brauchen. Die kommende Nacht soll es Frost geben, Regenklamotten, Hochdichtigkeitspacksäcken, pi, pa und po.

Ich fotografiere am Wegrand. Nebel, der sich löst, ein merkwürdig senkrecht aufgestellter Anhänger, Straße, Landschaft, Schilder, bummele in der Gewissheit, dass durchs Murgtal alle Stunde die S8 ab Karlsruhe bis nach Freudenstadt, ach was, weiter noch, bis nach Bonndorf fährt. Gegen zehn schaue ich bei einem Bahnhof, um welche Zeit der Stunde in etwa die Züge fahren. Bahnhöfe gibt es alle paar Kilometer. Dieser hier ist ein Bedarfshalt. Man muss einen Knopf drücken, wenn man möchte, dass der Zug anhält und einen mitnimmt. Genauso ist es im Zug. Dort gibt es auch Bedarfshaltsknöpfe. Fast ist es wie die gute kleine Waldbahn im Bayrischen Wald. Nur eben Baden-Württembergischer. Hmmm. Was heißt Baden-Württembergischer? Weniger streng, weniger autoritär, eine Prise Unordnung vielleicht? Denn, schaue ich mir die Fahrradabteile an, sie sind nicht als solche zu erkennen. Ich steige in Langenbrand zu. Halb elf etwa. Noch 40 Kilometer bis Freudenstadt. Der Bahnhof liegt abseits des Dorfs, durch das der Radweg führt. Um dahin zu kommen, empfiehlt ein Schild den Radelnden, die Treppen der Unterführung der Bundesstraße hinab zu steigen und drüben wieder hoch. Das spare ich mir. Quere die Bundesstraße, rolle bis zum Bahnsteig, hab noch zehn Minuten Zeit. Keine 250 Meter über dem Meer liegt das Gleis, sagt eine Höhenkote am Bahnhofsgebäude. Plaudere mit einer Fahrgästin. Smalltalk über den Segen, den die Bahn übers Tal brachte. Dass früher Flößer am Fluss unterwegs waren und dass es eine Grenze zu Schwaben gab, irgendwo weiter oben und dass die Flößer da nicht drüber durften und daher eine Seilbahn gebaut wurde, elende Kleinstaaterei und Handaufhalten für freie Bahn. Gott seis getrommelt, dass das vorbei ist. Zack sitzen wir im Zug. Ein Mädchen im Vierersitz neben dem Fahrradabteil weiß leider keinen Rat, wie bitteschön und wo man denn hier Fahrräder abstellen kann, soll oder darf. Das Fahrradabteil ist einer von vielen Einstiegen am Zug. Es gibt jedoch einfach nur den Eingangs- und Ausgangsbereich. Daneben ist die Gummimanschette des Wagengelenks, wo theoretisch Platz wäre fürs Rad. Doch dort ist ein Schild, Fahrrad abstellen verboten. Die S8 ist eine rollende Doublebind-Situation. Ich stelle das Fahrrad mitten in den Türbereich und so ists wohl gedacht. Bei jedem Halt muss ich schauen, dass ich ggf. die Tür freigebe, an der Leute zu- oder aussteigen möchten. Zum Glück ist nicht viel los im Zug.

Noch mehr verwirrt mich die Ansage im Zug, also eigentlich ist sie klar: Beim nächsten Halt kann man im hinteren Teil des Zugs nicht aussteigen, Schönmünzach? Egal, ich will ja nach Freudenstadt und bleibe also sitzen. Da kommt ein Zugbegleiter vorbei und macht mich rennen: Also wenn sie nicht zurück nach Karlsruhe wollen, müssen sie nach vorne in den Zug. Puh, schnell raus und fünfzig Meter weiter vorne in den anderen Zugteil. Keine Ahnung, ob der hintere Wagen abgehängt wurde. Für mich als einfacher Fahrgast heißt am-nächsten-Bahnhof-nicht-aussteigen-können nicht, dass der Zug geteilt wird und der Nichtaussteigenkönnten-Zugteil in die andere Richtung fährt.

Gegen elf Freudenstadt-Stadt. Das ist der höher gelegene Bahnhof in Freudenstadt. Frau Laut muss am tiefer gelegenen Bahnhof noch einmal umsteigen, damit sie die 50 Höhenmeter nicht bis hierher kurbeln muss. Sie wird eine Stunde später hier sein. Ich quäle das vollbepackte Reiserad zwischen labyrinthischen Gittern hindurch über die Gleise. Irgendwie besser als nicht funktionierende Aufzüge durch Unterführungen, finde ich. Eine Scharade mit vielen anderen, die durch die Gitter müssen. Treibe mich in der Stadt herum, komme just als ein Glockenspiel bimmelt, das bestimmt eine Sehens- und Hörenswürdigkeit ist, in dessen Nähe, folge dem Klang, filme, stehe auch gleich vor einem Café. Da geh‘ ich rein. Da ess‘ ich Kuchen. Da trinke ich Kaffee. Da bummele ich und warte und beobachte und geh‘ aufs Klo und wasch‘ die Hände. Es gibt Schwarzwälder Kirschtorte, was sonst, Schwarzwälder Kirschtorte und Milchkaffee für nur acht Euro. Ich bin glücklich. Es ist warm. Im Café sitzen nur Frauen. Ich muss an Frau Rebis denken, die in der Türkei oft in Teestuben voller nur Männer sitzt und daran wie privilegiert ich bin, dass ich als Europenner männlichen Geschlechts hier einfach so sitzen kann, ohne begafft zu werden, ohne gar als Fremdkörper angesehen zu werden.

Später bummele ich zurück zum Bahnhof, fotografiere seltsame Dinge, abblätternde Farbe an Mauern, eine Reifenspur auf einer Grünfläche. Freudenstadt erschließt sich mir nicht so recht. Ich bin ja auch nur kurz hier, zu kurz, um künstlerisch warm zu werden mit der Stadt und da bleibt dann nur das Standard-Entdecken, stadtbummlerischer Mainstream, da entdeckste nichts Neues. Die blinden Flecke, die man neuen Gegenden gegenüber oft hat, müssen erst überwunden werden und dafür braucht es Zeit und Ruhe und Kirschtorte und Kaffee und Wiederholung und Muse und keinen Termin. Mag sein, dass wenn ich bis Nachmittag bleibe, das Glockwerk ein weiteres Mal beim Bimmeln schaue, dass dann die Szene kippt, dass ich dann sehe, dass dann die Scheuklappen fallen? Aber nun bin ich fixiert auf Bahnhof. 12:09 kommt der Frau-Laut-Zug und die kenne ich ja kaum. Sie sagte, sie würde mitradeln als ich die Tour vor Tagen auf Mastodon ankündigte und ich sagte: ja gerne. Wir sind uns erst einmal kurz begegnet, radelten jahrs zuvor nebeneinander zur Natenom-Gedenkstätte.

Ob wir zurecht kämen miteinander oder nicht, das würde sich dann zeigen. Und überhaupt, es sind ja nur 70 Kilometer bis zu unserem gemeinsamen Ziel in Pforzheim.