Scheidersitzbüro im Bett. Im Zimmer des Gasthofs liegt alles kreuz und quer. Packtasche offen. Verstreute Habseligkeiten. Das Zelt hängt zum Trocknen in der Dusche. Im Ohr dudelt das Lied Locomotive Breath, Melodie gewordenes, stampfendes Leitbild des immer voran Strebenden.
Der angekündigte Regen ist gar nicht so schlimm. Ein feiner Nieselregen, der mich fast den ganzen Tag begleitet. Zwischendurch schimmert sogar mal eine Art Sonne durch dicken Dunst. Aber von weltuntergangsähnlichen Szenen kann keine Rede sein. Wieder einmal eine Erfahrung am eigenen Leib, wie sehr die Kimme der Vergangenheit vom Korn der Gegenwart abweicht. Wie trügerisch die Welt ist, wenn man Informationen sammelt und sich daraus eine Realität strickt, die einkehren soll, kann, würde … Und das Ganze am harmlosen Beispiel der Wettervorhersage.
Es wird Sturm geben, sagte jemand vorgestern. Hochwassergefahr besteht, erfuhr ich von jemand anderem. Die Wetterapp auf dem Handy zeigte stoisch Wolkensymbole mit Regentropfen an für das gesamte Wochenende. Aus diesen wenigen Informationen habe ich mir meinen Reiseradleralltagsweltuntergang zusammengeschustert und sah mich in einer Schutzhütte im Wald tagelang ausharren.
Das Wüstwetterszenario entpuppte sich schließlich als ein gut radelbarer Feinregen mit ein bisschen Gegenwind.
Da die gestrige Strecke meist durch Wälder führte, habe ich den Gegenwind kaum zu spüren bekommen. Vom Eisenbachtal gings über die Landstraße zurück zur Rheinland-Pfalz-Radroute bei Görgeshausen. Ab dort der Radwegbeschilderung folgend nach Diez, ein Stück der Lahn entlang und etwa zehn fünfzehn Kilometer neben einer stillgelegten Bahntrasse die Aar hinauf. Erst in Holzenhausen wird es steil. Auf einer Infotafel erkenne ich fünf markante Kuppen, die ich überqueren muss bis runter zum Rhein bei Sankt Goarshausen. Auf zur Loreley. Die höchste Kuppe bei Rettert ist gleichzeitig mein Tagesziel, das ich schon nachmittags um vier erreichte. Problemlos hätte ich es noch bis zum Rhein geschafft. Eine selbst gebastelte Realität sieht mich jedoch in dem engen, lauten Tal in einer touristisch überteuerten Pension mit schutzlosen Fenstern im Dauerlärm übernachten, oder noch schlimmer, auf einem Campingplatzunterhalb der Loreley direkt neben einer Bahnlinie – ich weiß, das ist Quatsch, aber so funktioniert numal Information. So funktioniert es mit allen Informationen, die täglich auf uns einprasseln.
Heute könnte ich es bis nach Mainz schaffen. Aber vielleicht radele ich nur nach Bingen, wenn es mir gelingt, den Atem der Lokomotive zu regulieren.