Mein Name ist Wolf. Ich löse Probleme. Nicht.

Ich bin ziemlich geknickt, weil ich sein Blog nicht retten konnte. Nach all den Jahren, die wir einander aus den Augen verloren hatten, hatte ich letzten Freitag eine Mail im Postfach, sein Blog sei nach Umstellung des Servers auf https (Verschlüsselung) nicht mehr erreichbar und tatsächlich, ein Blick im Browser zeigte einen 500er Fehler, irgendwas mit Server. Ich sei der Einzige, dem er vertraue, und dem er zutraue, das installierte Plugin, das die Seitennamen von http auf https umschreiben soll, zum Laufen zu kriegen. Was ich dann auch intensiv versuchte, voranscheiternd, die Seite wieder in einen wenigstens erreichbaren Zustand zu bringen. Das übliche Prozedere: nachfragen, ob es Backups gibt, den Zugriff aufs Blog und die Files und die Datenbank kriegen, mit den wenigen erreichbaren Serverkonfigurationsdateien (.htaccess) experimentieren, nach und nach alle Plugins des Blogs deaktivieren, wieder aktivieren und schauen, wo es klemmt. Immerhin geht die Seite wieder, aber keines der Bilder in den Artikeln wird mehr angezeigt und somit habe ich ein ohnehin zerschossenes Blog zerschossen, so dass es nur noch halb am Leben ist, aber wieder am Leben. Und https wird immer noch nicht sauber umgeschrieben.

Ich liebe diese Arbeit als Problemlöser. Ein bisschen komme ich mir dabei vor wie Mr. Wolf in dem Film Pulp Fiction, den man ruft, wenn es schmutzig wird. Mein Name ist Wolf, ich löse Probleme, denke ich immer, wenn jemand Blogrettung von mir erhofft. Sage ich natürlich nicht. Und die unheimlich schmutzige Szene aus Pulp Fiction mit dem Auto voller Blut und Knochensplitter, das gereinigt werden muss, die Leiche entsorgt, alles wieder poliert und fein hergerichtet, geht mir durch den Kopf. Sieht natürlich niemand, dem ich entgegendenke, „Mein Name ist Wolf, ich löse Probleme“.

Heute Morgen war ich dann mit meinem Latein am Ende. Ich hatte nur noch den Rat, das Oktoberbackup wieder einzuspielen und den Provider zu instruieren, alles, was mit https zu tun hat rückgängig zu machen und auf Verschlüsselung zu verzichten.

Wollen hoffen, dass das Hobokollektiv mit seinen wunderbaren urbanen Schwarz-Weiß-Fotos und den korrespondierenden Songtexten irgendwie wieder das Licht des Netzes erblickt.

Zum Thema Umstellung von http auf https so viel: Seit geraumer Zeit warnen aktuelle Browser dann, wenn die Seiten ’nur‘ unter http laufen am Anmeldebildschirm, dass die Verbindung unverschlüsselt und somit unsicher ist und die eingegebenen Daten, Nutzername und Passwort ggf. mitgeschnitten werden können. Alles richtig. Die Gefahr hält sich aber in Grenzen, wenn man sich nur vom heimischen Rechner hinter dem heimischen Router und der heimischen Firewall anmeldet. Wenn sich im heimischen Netzwerk niemand herumtreibt, können die Daten auch nicht abgegriffen werden.

Mir bleibt nun nur noch der Frust bei gleichzeitig nervenkitzelnder Idee, den Irgendlink-Server auf https umzustellen (naives Serverbübchen, das ich bin, bilde ich mir ein, dass ich mit dem Heimvorteil, die Serverkonfiguration einzusehen und verändern zu können, eine realistische Chance habe, das zu meistern).

Haltet mich zurück!

The Golden-Ass-Situation

Drei Schaufenster, über denen der Schriftzug Bewerten Verkaufen Vermarkten geschrieben steht.

Ärsche, Ringe, hart arbeitende Menschen, feine Damen, alter Turm. Die Stadt erzischt unter dem Schütten Frischbetons. Eine eigenartige Form von Stille. Alle wollen von Wo nach Wo. Taube in taumelndem Flatterflug, teernah, ein unachtsam weggeworfenes Stück Brot im Fokus. Wohin geht die Welt im Vorbeizischen eines elektrogetriebenen Lastenrads? Surren der Ketten im Gleichklang klappernder Feindamenschönschuhchen. Ich bin zurück, die Ellbogen gestützt auf eine Bauabsperrung unter der Einflugschneiße des Zürcher Flughafens. Adventisch diabolische Glitzerläden voller sündhaftteurer Glitzerdinge für die Wohlgenährten.

Die Stadt durchspaziert, die so eigenartig im Umbau scheint. Überall stehen Baukräne, quietschen Ketten, werden Lasten gezogen, geschwenkt, an Ort und Stelle gesenkt. Die Sonne kämpft gegen Hochnebel und Smog. Die alte Burg Baden reckt ihre Zinnen wie Zacken ins Licht, darunter ein stark frequentierter Straßentunnel, Durchgang verboten, so dass mich mein Weg eben nicht durch diesen Tunnel, sondern direkt ins Manor-Kaufhaus lotst, wo die Ärsche-Situation – The-Golden-Ass-Situation auf mich eindrischt in Form von vor mir auf der Rolltreppe stehenden dahintriftenden Menschen mit vollen Einkaufstüten – ja, wo soll ich denn sonst hinschauen als auf die Ärsche vor mir. Ich komme mir vulgär vor, zwinge den Blick nach links und rechts, mogele mich vorbei am Restaurant, ach was, ich laufe mitten durchs Buffet des weitläufig offenen Restaurants, in dem Gegrilltes neben gesunder Rohkost liegt unter Plexiglasabschirmungen. Alle taumeln zur Kasse und bezahlen und suchen sich einen Platz im durchaus noblen Schnellrestaurant. Die Rolltreppe habe ich gemeistert und schummele mich an der Schmuckabteilung vorbei bis zur Schiebetür auf der anderen, stadtgewandten, Seite des Kaufhauses. Endlich draußen torkele ich zu den Rabatten einiger Stadtbäume, die von Metallabsperrungen umgeben sind.

Das uralte Handy zwischen den Händen, Ellbogen auf die eiskalte Absperrung gestützt wie so ein Mann am Tresen. Fast zärtlich streicht der Daumen über den Screen, diese Worte tippend. Ich sehe kaum etwas, so ganz ohne Brille. Vermutlich treffe ich dennoch die meisten Buchstaben.
Woanders stehen die Kehrrichtsäcke vor den Haustüren, daneben vier fünf leere Feldschlösschendosen und auf den Säcken prangt der Schriftzug ‚Baden ist Service‘. Man wird sie bald abholen und verbrennen oder zerquetschen und deponieren.

Welt ist im Takt, aber nicht in Takt. ‚Bewerten Vermarkten Verkaufen‘, steht über den drei Schaufenstern von, ja, was ist das für ein Laden? Und gleich gegenüber prangt das Wort ‚Sidestep‘ über einem anderen Was-ist-das-für-ein-Laden. Was wollen mir die Worte über den Schaufenstern sagen? Hier unterm alten Stadtturm?

Verfolgt von einem Stadtbus weiche ich unter ebendiesem Turm in eine Nische aus, unverpisste Ecke, kalkweiße Wand. Fluchttier. Und der Fahrer lächelt und ich nicke und so machen wir einander unseren Tag durch einfaches zur Seite gehen, Lächeln und Nicken, rücksichtsvoll sein. Ich fotografiere Müllsäcke, Schaufenster, Tand und murmelnd mahnt der alte Brunnen, in dessen Mitte eine steinerne, kletternde Löwenskulptur steht, auf deren Kopf eine Taube ruht. Gehe drumherum, nein, das ist gar kein Löwe, das ist ein … was ist das? Stein? Den sollteste fotografieren, den Stein, der Was (?) ist und aus dem Wasser sprudelt, und nicht den Müllsack. Bimbam halb Elf.
Die Besitzerin eines Modeladens tritt heraus und fotografiert ihr Werk. Nüchterne Schaufensterdeko. Luftballonsäulen neben Kleidern in Laden. Drinnen viel Licht. Eng ihre Kleidung. Gepresst der Körper, wie Wurst, aber sehr sehr schick.

Stille kniet auf einem kleinen Platz zu Füßen eines schiefen Kirchturms mit grün-gelb-rot-schwarzen Ziegeln und ein kleiner weißer Köter mogelt sich ins Bild und kläfft Unsichtbares an. Auch er trägt eng und sieht aus wie Wurst mit Zotteln. Von Menschen besessene, schön gekleidete Wurst.

Zwischen der Kirche und anderen Gotteshäusern und -hüttchen ist die Stadt plötzlich still. Ich nähere mich dem Fluss, der Limmat, und bewundere sie, wie sie sich über Jahrtausende durch den Fels gefressen hat. Diesseits Häuser, jenseits Häuser und zackig der Fels, den sie zernagt hat, Fels mit Erodiertem auf dem sich vereinzelt Bäume krallen. Nichts wird mehr sein in tausenden von Jahren. Ich im Jetzt, beobachte dies und die Wogen allen Erlebten – herrjeh, so wenig, so kostbar – schlagen über mir zusammen, während ich die Eingänge eines viele Stockwerke tiefen Parkhauses passiere, wo Menschen stehen, schwätzen, den Automaten Geld geben, um ihre Autos wieder frei zu kriegen.

Bildcollage mit Szenen aus Baden, Häuser, Müllsäcke, Kirchen, Graffitys
Urban Artwalk Baden November 2017

Ich bin wieder da. Bin ich wieder da? Die Blogstille war unerträglich. Wieviele Monate habe ich nicht geschrieben? Wieviele Monate war ich tot, co-tot, ausgehöhlt, depressiv, leer, gelähmt, während all das, was ich eben durchschritten habe immer war, immer pulsierte, immer lebte. Ich will das wieder. Ich will das durchleben. Ich will es beschreiben. Ich will wieder reisen, darüber schreiben, mein Bild der Welt zeigen, wie ich es im steten Jetzt durchwandere. Noch bin ich schwach, merke ich, verletzlich, aber die Finger tanzen über den winzigen Smartphonebildschirm hie und da in den Winkeln meines Stadtspaziergangs. Fast wie damals als alles begann, als ich die Wanderung nach Santiago tippte. Das ist meine Welt, merke ich, eine Welt ohne Halt. Ein ziemlich korruptes, perverses, gewachsenes und von Menschen geprägtes Stück Sein. Mit allem Bösen und Guten, Ausbeutung und Nutzen, Gewalt und Schönglanz, Schaufenstern und Müll, Hochsicherheitstüren und Offenem, sündhaft teuren Vehikeln und heruntergekommenen Pennern, allem Bezahlten und Gewollten, ein paar Zeiteinheiten genutzten, für wertlos befundenen und wieder weggeworfenen Dingen.

‚Bloggen ist Service‘ kann ich nur entgegenbringen, und hey, ich bin wieder da, ich werde darüber schreiben. Kommt mit.

Ach und Ärsche, natürlich.

 

Sunny fliegt

Plötzlich fuseln die Pappeln im schneidenden Gegenlicht jenseits ihrer Schattengrenze, riesige Baumsilhouetten und davor tausende kleine, weiße, federleichte Etwase driftend im Westwind. 35 Grad heiß. Wir haben uns unterm Vordach auf der Südseite des einsamen Gehöfts verkrochen im halbwegs erträglichen Schatten. Kaltwasserbad für die Füße. Katzen liegen versteckt unter halbmeterhohen Lilien. Ich sage „plötzlich“, weil die Pappeln tatsächlich vor etwa zwei Stunden mirnichts dirnichts mit diesem Seelenregen angefangen haben. Morgens noch war die Luft klar. Dann diese Invasion aus feinstem Gefieder, das mit ein bisschen Phantasie und in einem Disney-Fantasy-Schmachtfetzen gut und gerne als die Seelen aller Verstorbenen durchginge, denen man irgendwann in der Vergangenheit zu deren Lebzeiten jemals begegnete; was wollen sie einem sagen?

Natürlich sind wir nicht im Disney-Schmachtfetzen, sondern wieder hat sich eine Woche Realität über all die anderen Wochen Realität gelegt. Seit etwa Dienstag hat sich die Grippe vollständig zurückgezogen. Im Atelier und Hof gab es etliche Arbeit, Rasenmähen, Pflanzengießen oder etwa am Holzvorrat für den kommenden Winter schuften. Schon lange liegen dürre Fichtenstämme im Hof, die ich im Frühjahr aus dem Wald gezerrt hatte, käfergefällte Baumriesen, naturgetrocknet, nun werden sie in ofengerechte Stücke geschnitten und ins Holzlager verfrachtet. Etwa 20 bis 25 Ster brauchen wir und wenn ich richtig gerechnet habe, dürfte das bald hier liegen. Den ein oder anderen Stamm werde ich mit der Carvingsäge in eine Skulptur verwandeln. Irgendwas mit Osterinsel vielleicht, oder ein Hund, eine Schildkröte oder eine Eule … Wenn die Schnitzerei misslingt, verbrenne ich es einfach.

Gestern erster Tag am Badesee, 25 Kilometer weit drüben in Frankreich, ein zweigeteiltes Idyll, oder sagen wir besser dreigeteilt. Durch den länglichen kleinen Stausee führt eine Barriere, die den Truppenübungsplatz des Camps Bitche von der Spaßsektion trennt und die Spaßsektion ist wiederum zweigeteilt: auf der sonnigen Ostseite ist der Badestrand, auf der schattigen Westseite sind die Angler. Obschon es sich auch hier etwas mischt: Einige baden zwischen den stoischen, meist deutschen Anglern, die im bleiernen Takt die Ruten zwanzig dreißig Meter weit ins Gewässer werfen. Es gibt keinen Streit. Hinter uns klackt das plastikene Geräusch einer Kinderspielzeugwaffe, solch eine Wumme, gut siebzig Zentimeter groß. Ein Typ schießt damit einen tennisballgroßen Ball und sein Hund hechelt dem  Rund hinterher, apportiert, bringt es zurück und so weiter und so fort, bis der Typ den Ball ins Wasser feuert und der Hund, er heißt Sunny, am Ufer stehen bleibt, sich nicht so recht traut. Armer kleiner Terrier. Die Kinder feuern das Hundchen an, los Sunny, hol den Ball! Sitz Sunny! Apport! Hol den Ball, und so weiter, was den Terrier ganz irre macht und er wie ein Weberschiffchen am Ufer auf und ab rennt, bis der Typ mit der Wumme den Hund schnappt und ihn in hohem Bogen ins Wasser wirft.

Sicher wäre es schön, auch heute wieder zum See zu fahren, aber die Hitze lähmt und zwingt einen ins Sofa, aufs Bett, in den Schatten, überall hin, nur nicht ins Auto. Wir haben einen Bottich mit kaltem Wasser aufgestellt, in dem wir die Füße kühlen, aufgeschlagenen Buches und mit klappernder Tastatur passiert der Tag und die Seelen der Verstorbenen rieseln von den Pappeln und versammeln sich in kleinen verwirbelten Ecken zu Knäueln.

Ein gewisser Jochen blutet im Zug

Todsterbensgrippekrank, Montag, Dienstag, Fieberwahn, Termine im Nacken, sich irgendwie nach Mainz gequält und auch noch Spaß dabei, die erste Ausstellung seit zwei Jahren in „echt“ darf man nicht verpassen und, puuuh, auf den letzten Drücker das Bild für die Gemeinschaftsausstellung abgegeben, erst mittwochs zaghafte Besserung dieser fiesesten Grippe seit über einem Jahrzehnt, elender Schnupfen geht und geht nicht weg, donnerstags in die Zweitheimat per Zug, ellenlange Rheintalfahrt und im Blick aus dem ICE-Fenster, das Klopfen unterm Zug nicht ignorieren könnend, sich eine Zugkatastrophe ausmalend mit zig entgleisten, ineinander verschränkten Wagen, alles nur noch Matsch, Menschen, Zug, Schienen, Gepäck, alles Matsch und herrjeh, wie soll denn da einer überleben und dieses Bild gaukelt, zum Glück ohne zu ängstigen, eher spielerisch katastrophesk, bis nach Basel zum Umstieg, wo in einem Bummelzug ein verwirrter Kerl dein Handy will, du es ihm nicht gibst, weil er alles zubluten und -rotzen würde, aus dem Mund kommt Schleim, aus der Nase Blut, schlecht rasiert, vernarbt, mit sich selbst brabbelnd, jemand gab ihm ein Taschentuch und du bist versucht zu sagen, drück’s gut drauf, bleib ruhig, lehne dich zurück, aber er diktiert halb hängend im schaukelnden Zug eine Nummer einer diakonischen Anstalt irgendwo, beinahe hätte ich gesagt, diabolische Anstalt, wo tatsächlich jemand rangeht und als man sagt, ein gewisser Jochen blutet im Zug, nicht schlimm, er will zu ihnen, was soll ich tun, kommt nur die Antwort, nichts tun, das macht er immer so, wälzt seine Dinge auf Passanten ab, die dann hier anrufen, sag ihm, er soll nach Bad Krotzingen, denn da gehört er hin, herrjeh, was für eine verflixte Woche voller Leere, Trauer, Krankheit, Spinner, kalter Herzen, despotischer Idioten und das soll man dann alles noch irgendwie zusammenbringen im eigenen kleinen Kopf, am besten in einem einzigen Satz.

Wie man ein Bundesland archiviert – die Rheinland-Pfalz-Radroute im Memory of Mankind | #umsLand

Das Dorf Niederfischbach geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Beziehungsweise das, was davon übrig ist. Westlich von Katzenelnbogen steht in einer Mulde eine einsame Pickninckbank, eine kleine Linde und ein gelbes Schild mit ein paar Zeilen: Niederfischbach 1329 bis 1853. Im Stil einer Grabinschrift liest man vom Schicksal des Dorfes, dessen Einwohner am 15. Mai 1853 nach Milwaukee in den USA auswanderten, um dort ein besseres Leben zu finden. Die Gebäude des Dorfes wurden verkauft und abgerissen, das Gemeindegebiet den Nachbargemeinden Katzenelnbogen und Mittelfischbach zugeschlagen. Was wohl aus den 85 Menschen geworden ist, die in die Neue Welt übersiedelten? Ob sie Ihr Glück fanden? Vielleicht gründeten sie ein Neu-Niederfischbach, sprich’s mit amerikanischem Akzent, New Neiderfisback … oder sie gingen im Mahlstrom der Industrialisierung in irgendeinem Stahlwerk als gut ausbeutbare Arbeiter unter. Als ich vor der Mulde stehe, in der sich einst das Dorf befand, wird mir die Blauäugigkeit klar, mit der wir Menschen uns eine Ewigkeitsvermutung zurechtdenken, die nie und nimmer standhaft ist. Wir ahnen ja gar nicht, wie zerbrechlich unser weltweit globalisierter Gesellschaftskomplex ist und wie wenig davon in ein paarhundert Jahren übrig sein wird, sollte er einmal in Gänze zusammenbrechen. Die Natur holt sich in Windeseile alles zurück, was der Mensch je betoniert und hochgemauert hat.

Ein alter Steinbruch. Irgendwo im Wald. Daneben ein paar Betongebäude, eine Waage, Wege, schon halb überwuchert von jungen Fichten. Der Zaun, der es umgibt, verrostet. Ich überquere drei kleinere Berge, nachdem ich das 440 Meter hoch gelegene Rettert am gestrigen Morgen verlassen habe. Ab dem Dorf Bogel geht es nur noch bergab bis zum Rhein. Ein wunderbarer Teerweg führt durch den Wald in eine sich mehr und mehr verengende Taunusschlucht. Vielleicht war das mal eine Bahntrasse? Ich sehe keine Tunnel und Brücken, die darauf hindeuten. Ich wäre wohl ein ziemlich mieser Archäologe.

Natürlich können wir in Dimensionen von Jahrhunderten prima denken und planen, aber unser menschlicher Planungshorizont ist doch sehr beschränkt im Vergleich zu den immensen Zeitspannen mit denen wir es tatsächlich zu tun haben. Wenn schon nur 150 Jahre nach dem Bau einer Bahnlinie kaum noch zu erkennen ist, ob es einmal eine Bahnlinie war, wie brüchig ist dann erst unsere digitale Welt?

Alles was ich hier schreibe, landet auf einer rotierenden Metallplatte in einem klimatisierten Serverraum. Man kann es ohne technische Hilfe nicht lesen wie etwa ein Buch oder eine gemeißelte Steintafel. Wenn das technische System einmal zusammenbricht, ist die Information, die auf den Festplatten unserer Server binär gespeichert ist, verloren. Archäologen der Zukunft werden diese Metallplatten sicher einmal finden, vielleicht können sie auch die Technik nachbauen, um sie zu entziffern, so wie die Archäologinnen unserer Zeit lernten, Hieroglyphen und längst vergessene Schriften zu lesen. Aber die Festplatten verlieren im Vergleich zu Steintafeln und Büchern viel schneller ihre Information. In vermutlich weniger als hundert Jahren ist jede heute beschriebene Festplatte unlesbar.

Der Rhein fließt ruhig. Für etliche Kilometer flussaufwärts begleitet mich ein schwer beladenes Schiff namens Atlas. Auf einer Steintafel am Flussufer lese ich, dass Feldmarschall Blücher einst an dieser Stelle den Rhein überschritten hatte und Preußen zu neuem Glanz verhalf. Man nannte den Feldherrn auch bei seinem Spitznamen „Vorwärts“.

2013 bin ich beim Surfen im Web auf das Langzeitarchiv Memory of Mankind gestoßen. Dort werden Informationen über unsere Zeit in einem Salzbergwerk in den Salzwelten in Hallstatt in den österreichischen Alpen gesammelt. Das Memory of Mankind hat zum Ziel, Informationen aus unserer heutigen Zeit möglichst lange und möglichst sicher zu archivieren.

„Niemals zuvor wurde Information in solch einer Dichte ausgetauscht. Quer über den Planeten und in Echtzeit teilen wir Ideen und Emotionen. Doch was wird von all den Tweets, Shares, Likes und Postings überigbleiben?“

Jeder kann mitmachen. Die Intention ist, unsere Art wie wir jetzt Leben und was uns antreibt, für eine zukünftige Generation so lange wie möglich haltbar zu machen. Die heutigen Archäologen lernen sehr viel aus alten Müllhalden und sie lernen an Hand des Alltäglichen, das zufällig und ungeplant von unseren Vorfahren hinterlassen wurde, sich ein Bild von ihrem Leben zu machen. Deshalb setzt das Memory of Mankind explizit auch darauf, ganz normale Informationen von ganz normalen Menschen zu sammeln. Wie feiern wir eine Hochzeit, eine Kindstaufe, Begräbnisrituale und so weiter.

Im Memory of Mankind werden jedoch auch andere Informationen gesammelt. Wissenschaftliches und Hochkulturelles ergänzen das allgemeine Angebot.

Das Projekt „Ums Land“ wird auf einer Mikrofilm-Tafel in Schrift auf Keramik gebrannt, sowie auf fünf Tafeln mit ausgewählten Bildern der Reise – die 20×20 Zentimeter großen Datenträger halten tausende Jahre und sie sind im Bergwerk gegen jegliche Umwelteinflüsse geschützt.

Man könnte sagen, ich archiviere ein Bundesland.

Während ich endlich im Flachland auf den schmalen Radwegen rheinaufwärts radele, stelle ich mir vor, wie die Gegend hier in fünftausend Jahren aussieht. Wenn der Mensch einmal gegangen ist, wird sich der Fluss Radwege, Straßen und Schienen innerhalb weniger Jahrzehnte geholt haben. Die Städte Bingen, Ingelheim und Mainz und all die kleinen Dörfchen dazwischen werden überwuchert von Pflanzen unter zig Meter hohen Schwemmlandschichten begraben sein – wohlgemerkt nur, wenn der Mensch einmal nicht mehr Hand an seine Umwelt legt. Kurzum, es bleibt nichts. Vielleicht gibt es außerirdisches Leben, das den Planeten besucht, vielleicht entwickeln sich kraft der Evolution neue intelligente Lebewesen, vielleicht werden künftige Archäologinnen den Weg in die steinernen Kammern des Memory of Mankind finden. Das Projekt hat vorgesorgt. Mit jeder neuen Keramik, die eingelagert wird, wird auch eine tönerne Plakette an denjenigen verschickt, der die Information lieferte. Auf der Plakette ist der Standort des Archivs grafisch dargestellt. So verteilt sich die Information über das „Gedächtnis unserer Zeit“ nach und nach über den gesamten Globus.

In einer fernen Zukunft, in der es uns nicht mehr gibt, wird man vielleicht irgendwann die Keramik finden, auf der die Umrisslinie der Rheinland-Pfalz-Radroute zu sehen ist und man kann im zugehörigen Text einen ziemlich persönlichen Reisebericht eines Bewohners dieses Ländchens lesen und sich durch die Beschreibung der Berge und anderer Landmarken ungefähr vorstellen, wo auf dem Planeten dieses Ländchen einmal gewesen sein muss. Vielleicht steht eine Picknickbank am nördlichen Zipfel des Landes unter einer uralten Eiche, die Sonne scheint und in einem Tümpel in der Nähe keimt das Leben wie eh und je.