Die Geschichte vom Mann, der einen Hunsrück-Bach bezwingt | #UmsLand

Ein Bach, ein Waldweg, ein Mann, ein Fahrrad. Sonne streicht durch lichten Vorfrühlingswald. Buchen blecken weiß. Der Mann schiebt. Er schwitzt. Der Weg ist steil und schmutzig. Ab und zu bleibt der Mann stehen, beobachtet den Bach, holt tief Luft. Stoßweiser Atem. Der Bach fällt über zahlreiche Kaskaden mühelos immermahlend. Es scheint, als fiele er ihm entgegen. Na warte, dir werde ich es zeigen, denkt der Mann. Höher und höher ächzt er, durchwatet andere Rinnsale, die dem Bach zuströmen. Je höher der Mann klettert, desto leiser wird der Bach, desto schwächer, so scheint es. Das beflügelt den Mann. Der Weg ist nicht mehr so steil. Der Wald lichtet sich. Wiesen tun sich auf. Oben jenseits der Quelle auf der Wasserscheide überkommt den Mann ein heroisches Gefühl. Ich habe den Bach bezwungen, denkt er innerlich jubilierend, eine imaginäre Siegerpose einnehmend.Ist das schon Hunsrück? Ich habe völlig die Orientierung verloren. Seit Kusel kenne ich die Dörfer und Städtchen nicht mehr. Die Gegend ist ohnehin kaum besiedelt. Die Rheinland-Pfalz Radroute führt abseits des Fritz-Wunderlich Radwegs, der mich auf einer alten Bahntrasse von Kusel nach Thallichtenberg brachte, nun über schmale Sträßchen, Feld- und Waldwege. Und es ist ziemlich bergig hier. Mein Hirn bettelt innerlich, gib mir Bahntrassen bis Hermeskeil und einen Ruwertalweg bis zur Saar, ich will Tunnels und Viadukte. Aber die Gegend kennt kein Erbarmen, so dass ich oft schiebe.

Zwischen dem Breitsesterhof und dem Eschelbacherhof erreiche ich den höchsten Punkt der gestrigen Etappe. Irgendwo steht ein Schild 550 m NN. Ein Mann erklärt mir, dass man auf dem Breitsesterhof sieht, wann der Winter kommt. Es sei hier oben immer drei vier Grad kälter als in Thallichtenberg. Windräder. Ziegenherde. Endlich ein touristisches Schild. Ich bin im Gebiet der oberen Nahe. Hier gibt es mediterrane Pflanzen. Über den Saarlandradweg, den ich bis in diese Gegend schon erkundet habe, wäre ich weit schmerzloser hier angelangt. Er führt durch Täler mit sanften Steigungen. Hier habe ich Sägezahnprofil.

Aber wie ich schon gestern erwähnte, die Auf- und Abschinderei lohnt sich. Sei es nur wegen der kleinen Bäckerei in Heimbach, wo ich am einzigen Kaffeetisch mit zwei alten Damen schwadroniere, ob der Bach hinter den Häusern nun der Unnerbach ist oder der Reichenbach. Ein Dorf weiter liegt immerhin Reichenbach. Dort gibt es zwar ein Ofenmuseum, aber weder Laden, noch Pension. Ich solle es im Oldenburger Hof in Birkenfeld probieren, sagen mir zwei Leutchen. Dreizehn Kilometer. Im Kopf schneidet die Sägezahnerinnerung. Es dämmert schon. Wenn ich nochmal auf 550 Meter hoch muss, schaffe ich das nie. Wieder eine Brrr Grad kalte Zeltnacht. Wieviele Sägezähne passen auf dreizehn Kilometer? Viele, fürchte ich, als ich einen Serpentinenweg abwärts radele nach Kronweiler im Nahetal. Bahnlinie. Bed & Breakfast. Zu. In der Hauptstraße stehen welche neben einem brennenden Fass. Wie in der Bronx, nur mit viel mehr Stil. Das Fass scheint ein Designergrill zu sein. Ich bin versucht, stehenzubleiben, mir die Finger aufzuwärmen, aber ich muss eine Unterkundt suchen. Vorm Dorfladen zwei Männer. Ist der noch auf, frage ich. Einer macht die Tür auf und ruft, Marina, ist noch auf? Na gut, komm rein. Ich kaufe ein Kirner Pils und vier Brötchen für den Fall, dass ich zelten muss. Kronweiler gefällt mir. Frau Marina sucht mir ein paar Telefonnummern raus von Ferienwohnungen in der Nähe. Kein Erfolg. Also weiter weiter weiter, die schmale Straße entlang eines Hunsrückbächleins aufwärts. Oldenburger-Hof-Sehnsuchtsgedanken. In Niederbrombach frage ich weiter nach Pensionen und siehe da, im alten Gasthaus an der Straßenkreuzung verrät man mir Familie Hagemeister. Die knappe Wegbeschreibung lautet: zum Schulhaus, Fußweg rechts, zweites oder drittes Haus auf der rechten Seite. Das ist sicher eine gewöhnungsbedürftige Methode, eine Unterkunft zu finden, mit echten Menschen reden, sich den Weg erklären lassen, statt wie normale Menschen, im Internet danach zu suchen, du solltest mal einen Artikel über Internet schreiben und was wir bei all dem Guten, das es uns bringt auch verlieren, denke ich auf dem Weg zur Pension, die ich auf Anhieb ohne Navi finde.

Nun sitze ich im Schneidersitz auf dem schönen weichen Bett, Tastatur und Handy vor mir, diese Zeilen tippend – eine eigenartige Geschichte habe ich mir ausgedacht von einem Mann, der einen Hunsrückbach bezwingt und in tausenden von Jahen wird der Bach die Geschichte erzählen von dem Mann, der einst neben ihm spazierte und sein Fahrrad zur Quelle schob.

In einem zeitfreien Land jenseits der Hopplahopp-Gesellschaft – #Umsland

In den 1980er und 1990er Jahren gab es eine Legende von einem Indianervolk, die man sich erzählte. Die Menschen arbeiteten in kleinen Gruppen zusammen auf ihren Feldern. Einzelne Familien lebten, Tagesmärsche voneinander entfernt, in unwegsamem Gelände. Wenn eine Familie eine andere besuchen wollte, machte sie sich irgendwann auf den Weg über Stock und Stein, bis sie am Ziel war, wo die Freunde auf den Feldern arbeiteten. Die Ankömmlinge setzten sich am Rande der Felder auf Baumstämme und warteten, bis die Arbeitenden mit ihrer Arbeit fertig waren. Erst dann begrüßten sich die Menschen. Das Fest begann.
Die Legende hatte mir ein Gefühl des in sich Ruhens vermittelt. Des so sollte es seins. Des du befindest dich in einem schönen, zeitfreien Land jenseits der Hopplahopp-Gesellschaft, in der man immer und überall für jeden verfügbar sein muss. Menschen, die andere Menschen in ihrem Kontinuum bestehen lassen, ohne sie zu überfallen und aus ihrer natürlichen Tätigkeit herauszureißen. Genauso muss Schaffen sein. Einswerden mit dem Moment, dachte ich mir.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist. Mit dem Abstand jahrzehntelangen westlich zivilisierten Gesellschaftsgebarens kommt sie mir mittlerweile ziemlich hanebüchen vor. Wir leben in einer streng getakteten Hopplahopp-Welt, in der alles und jedes gezählt wird, berechnet, vergolten, und in der es eigentlich kein einziges unbezahltes Ding mehr gibt und auch keine einzige unterminierte Lebensminute. Wir sind kollektiv eingebunden in ein Zeitkorsett, aus dem es kein Entrinnen gibt. Immer wenn ein Ereignis stattfindet, ist in einer Bedingungsschleife schon das nächste Ereignis vorprogrammiert. Der Lebensfahrplan im Streckennetz der Gesellschaft ist streng getaktet und erlaubt keine Verspätung.
Irgendwann früh am heutigen Tag gibt es Komplikationen und ich muss den Tagesplan ändern, ein paar Pufferminuten habe ich, aber um 14 Uhr bin ich verabredet. Ein Team des Südwestrundfunks hat sich angesagt, um mehr über meine Reise – per Fahrrad rund um Rheinland-Pfalz – zu erfahren und eigentlich sollte die Reise ja heute starten, so will es mein selbst auferlegter Plan, zu sehen zwei Blogartikel zuvor.
Dann kommt alles anders. Morgens muss ich zwei Mal runter in die Stadt, rennen, takten, telefonieren, hetzen, aber es gelingt mir, Ruhe zu bewahren und die Erinnerung an die alte Legende wird plötzlich wach. Bildlich sehe ich die beiden Indianerfamilien, wie sie sich besuchen und ganz behutsam ihre Zeittaktungen einander angleichen, bis sie beide ähnliche Geschwindigkeiten haben, bereit sind füreinander. Ja, so sollte es sein, sage ich mir, stelle die Parkscheibe, verlasse das Auto, erledige etwas und fahre wieder nach Hause. Gerade so schaffe ich es, ins Atelier zurückzukehren und das Fernsehteam hat sich auch ein paar Minuten verspätet. Unser Zeittakt ist synchron. Purer Zufall. Glück.

Es regnet. Ohnehin kein gutes Omen, um mit dem Fahrrad aufzubrechen. Der Termin mit dem Fernsehteam dauert länger als erwartet. Plötzlich ist es fünf Uhr nachmittags, viel zu spät, um noch loszuradeln und eigentlich auch gerade recht. Überall spritzt Wasser. Bei überall spritzendem Wasser eine Radreise zu beginnen, wäre pure Selbstkasteiung.
Den lieben langen Tag schwingt die Legende mit vom indigenen Volk, das sich die Zeitblasen ihrer jeweiligen Kontinuen beobachtend (ist das richtig, Mehrzahl von Kontinuum?) Baumstamm sitzend, einander angleichend wartet. Ich habe gar kein so schlechtes Gewissen, dass das richtige Leben vom insgeheim geplanten Leben ein bisschen abweicht.
Der Fernsehdreh war ungemein entspannt – an dieser Stelle herzlichen Dank Euch drei Rackern und Rackerinnen, H. und A. und E. aus Mainz. Es hat mir große Freude gemacht und ich habe viel gelernt.

Der Spülmaschinenkommunist, seine geschirrtechnische Identitätslosigkeit

2012 gastierte der Mainzer Kunstverein in meinem Atelier. Sie organisierten ein Festival für Performance und ziemlich schräge Musik. Die Veranstaltung war so eine Art Barcamp mit Teilnehmern weltweit, sogar aus den USA und Taiwan waren Künstlerinnen und Künstler angereist. Die Unterbringung war spartanisch in Zelten im Garten oder auf der Bühne im Atelier. Alltagsleben und Kunstschaffen und ‚irgendwas mit Musik‘ machen fanden in mehreren vielschichtig miteinander verwobenen Parallelwelten statt, man könnte es Leben im Allgemeinen nennen.

Die Versorgung war selbstorganisiert und wegen der hohen Teilnehmerzahl brachte der Kunstverein sein eigenes Geschirr mit. Ich erinnere mich gut an den Moment, als jemand eine Kiste voller Besteck in meine eigene Besteckkiste kippte. Gabeln, Messer und Löffel aus zig Haushaltsauflösungen ergossen sich in mein eigenes Bestecksortiment, das aber ebensowenig lupenrein war, die das Sortiment des Vereins. Nie wieder würde ich die eigenen Bestecke aus den fremden Bestecken heraussortieren können. Ich bin ein verdammter Geschirrkommunist, der überhaupt keinen Plan hat, was von dem, das in seinem Schrank steht ihm selbst gehört und was jemand anderem gehört.

Hin und wieder kommt es vor, dass jemand mit einem schön geordneten Haushalt mir etwas zu Essen mit nach Hause gibt, vielleicht ein Stück Kuchen. Er oder sie packen es auf einen Teller oder in eine Tupperschüssel. Normale Menschen sagen im Fall danke, nehmen das Essen mit, essen es, spülen das Geschirr und geben es irgendwann zurück.

Nicht so wir Haushaltskommunisten. Durch die Unzahl durchmischten Geschirrs, das mittlerweile bei weitem nicht mehr nur aus Haushaltsauflösungen stammt oder von Landeshauptstadtskunstvereinen, habe ich geschirrtechnisch keine Identität. Ich bin sozusagen eine Sowchose des Kaffeekränzchens oder eine Kolchose  weltweiter Suppenkellen. Sobald ein fremder Gegenstand in meinen Haushalt gerät, verliert er seine kapitalistische Identität und wird in eine Kommune bunter, vielfältiger Tassen, Teller und Töpfe integriert.

Seit jenem Tag im Jahr 2012 warne ich diejenigen, die mit mir ‚irgendwas mit Geschirr‘ machen, dass es höchstwahrscheinlich niemals zurückkehrt. Wie sollte ich, ein Mensch ohne geschirrtechnische Identität, jemals erkennen können, was mir gehört und was nicht? Oder besser gesagt, ich erkenne ganz klar, was mir gehört, nämlich nichts und alles andere in meinem Geschirrbestand gehört entweder niemandem mehr, oder jemandem, der es arglos hat liegen lassen. Erst kürzlich fand ich ein Messer in meinem Besteckkasten, auf dem der verwaschene Name eines Freundes geschrieben stand; vier Jahre her, dass er zum Grillen da war und nichtsahnend eine Nudelsalatschüssel und ein paar Satz Bestecke einbüßte.

Eigentlich kann man ja immer nur hinterher wissen, was war, wie es sich auswirkte, was es veränderte, zerstörte, verbesserte, heilte und selbst das ist trügerisch, so dass es einen geradezu irre machen kann, wenn man sich vorstellt, dass überhaupt nichts so ist wie es ist, dass es weder Fakten, noch Postfakten gibt, stattdessen jede Menge Alternativen, die sich, je nachdem wie man es sehen will oder muss, zu einer Art Wahrheit formuliert, die neben vielen anderen Wahrheiten durch Zeit und Raum mäandriert, ohne jede Chance (zumindest für einen ganz normalen kleinen Menschen) diesen gebündelten, zum Kabel verdrillten Strang aus Wahrheiten einmal aus allwissender, göttlicher Perspektive zu sehen.

756 k

Es gibt keinen Internettarif mehr ohne ‚Entertain‘-TV. Zumindest war im Backend des Anbieters unter der Rubrik Tarifänderung nichts zu finden. Wochen zuvor war ein technischer Mitarbeiter im Haus wegen irgendeines Defekts, der sich wie eine Grippeerkrankung letztlich ganz von selbst löste. Der Router sei schuld, hatte der Mitarbeiter gesagt und Tage später kam ein Entschuldigungsschreiben vom Anbieter, die Sache täte ihnen unendlich Leid, so dass ich argwöhnte, sie haben selbst irgendwo Mist gebaut und der Techniker hatte den Router zu Unrecht im Verdacht. Egal, jedenfalls erwähnte der Techniker, das die 756 Kilobyte-Leitung, die unter dem Label DSL 1000 läuft, doch viel schneller wäre, wenn man den Einwahlknoten weit unten in der Stadt wechseln würde, so dass er etwas näher am Haus wäre. Bei dem anderen Knoten wäre ohnehin Glasfaser verfügbar. Der Techniker notierte, dass ein Berater oder eine Beraterin anrufen könne, um uns einen neuen Vertrag aufzuschwätzen, ich sagte ja und als das Telefon klingelte, ignorierte ich es beflissentlich tagelang, bis die Beraterin oder der Berater von selbst aufgaben. Stattdessen durchsuchte ich das Netz nach Möglichkeiten, die Sache online zu erledigen, ganz ohne Menschenkontakt. Da kam mir der Knopf ‚Tarif ändern‘ unter die Finger und ich klickte mich durch die Menüs und Verfügbarkeitschecks bis hin zu den Angeboten, wow, DSL 16000, also ‚bis zu‘ wenigstens, das klingt doch ganz anders, als DSL 1000, bis zu und dabei 756 k zu erhalten. Zudem sei das Angebot viel billiger. Und blieb es auch bis fast zum finalen Tarifwechselknopf, wo dann eine Fehlerseite ausgegeben wurde mit Entschuldigung, dass der Tarif doch nicht geht, aber man habe da eine Alternative, ebenfalls DSL 16000, die Option Entertain TV ließ sich nicht streichen und ich loggte mich aus, schloss die Webseite und fand mich mit der langsamsten Internetverbindung Deutschlands ab, Hauptsache, die lassen mir ihre Ruhe mit dem Gewirre voller Schlangen und Fallen in ihrem düsteren Tarifdschungel.

Gestern stand plötzlich ein Wagen im Hof, der Fahrer hupte und als ich die Tür öffnete, kurbelte er das Fenster runter und fragte, ob der Hund eingesperrt sei, ja, also stieg er aus und fuchtelte mit dem Laptop, sie wollen Glasfaserkabel legen vom schnellen Knoten unten am Stadtrand, der mit dem das Haus hier noch nicht verbunden ist, weil es ja über den anderen, den alten 756 k Knoten viel weiter unten in der Stadt verdrahtet ist, Glasfaserkabel über die Landstraße, zweieinhalb Kilometer bis direkt vor die Haustür und weiter, vorbei am Nachbarhof bis hinauf zum Funkmast, der neben den neuen Windrädern aussieht wie ein Wicht. Wem gehört das Grundstück, fragte der Mann, weiß nicht. Und das, zeigte er auf seinem Laptop, weiß ich auch nicht. Und der Weg? Gehört der Stadt. Und er streichelte den Monitor und sagte, sie würden demnächst alles aufgraben und das Glasfaserkabel verlegen. Seltsam, dass er sonntags um die Mittagszeit hier auftaucht, sein Name sei Spietz, aha und er arbeite für den anderen Telefongiganten. Ob sie sich denn nicht mittels Grunddienstbarkeiten und notariellem Zeug absichern wollten, bevor sie die Kabel legten, fragte ich, was er irgendwie unbeantwortet umschiffte. Und dass da auch Gasleitungen und Stromleitungen vergraben sind, sagte ich, aber sein Auftritt war so definitiv, dass ich fast schon die Baukolonne vor mir sah, wie sie sich Meter um Meter von der Stadt bis hier hoch gräbt und ihre Glasfaser legt, hey, das wäre prima, dann könnte man ja auch hier so eine Art Business-Internet haben mit Schnell und Alles. Vielleicht war der Mann ein Hochstapler, der sich nur ein bisschen umschauen wollte, ob es etwas zu stehlen gibt?