Wie ich einen Palast betrat und aus einer schäbigen Hütte hervor kroch

Bilderrahmen. Ich brauche Bilderrahmen. Schöne, wertige Alurahmen mit echtem Glas. Wenn ich Glück habe, verkaufen sie sie mit passendem Passepartout und ich habe keine Arbeit. Einfach Bild rein, zuklipsen, fertig.

Nicht zu teuer sollten sie sein, aber der Preis spielt keine Rolle, wenn die Qualität stimmt. Ich kenne die Rahmen mit den klangvollen schwedischen Namen von früher. Es war ein Fest, vor zehn, fünfzehn Jahren in den Laden zu gehen, den Einkaufswagen vollzupacken mit durchaus wertigen Bilderrahmen. Echtes Holz oder Alu und echtes Glas. Sauber geputzt, entgratet.

So mache ich mich auf eines morgens zur Ausstellung, die ich aufbauen will, mit einem Schwenk vorbei am Rahmendealer. Dauert nicht lange. Ein en Passent Kauf. In Gedanken war alles ausgeklügelt: Pickup Bilderrahmen, rüber zur Ausstellungshalle, Bilder in Rahmen. Aufhängen. Fertig.

Trister Tag, zehn Uhr früh. Leerer Parkplatz vor riesigem Palast, in dem es neben Rahmen auch allmöglichen Tand zu kaufen gibt. Teelichte, Kaffeekannen, Handtücher, Bettlaken, einfach alles, was das Konsumentenherz begehrt. Auch Möbel. Man kann sich das Interieur seines kompletten Einfamilienhauses in diesem Laden zusammenstellen. Ein Paradies, das auf den unvoreingenommenen Fremden wirkt wie aus purem Gold gebaut.

Auto parkt direkt vorm Eingang. Ist noch nicht viel los. Der Laden öffnet erst um zehn.

Wo, bitteschön geht es zu den Rahmen, frage ich an der Info. Von früheren Besuchen weiß ich, dass man als braver Besucher eigentlich sämtliche Abteilungen des Geschäfts in labyrinthischer Querulanz durchlaufen muss, um zur Kasse zu kommen. Aber ich weiß auch, dass es geheime Abkürzungen gibt. Unscheinbare Türen zwischen den Abteilungen für Ehebetten und Küchen, die man nur mit scharfem Blick erkennt und an denen warnende Schilder hängen: Durchgang verboten. Nur für Mitarbeiter.

Die Frau an der Info sieht sich ängstlich um und es ist wohl der Frühe der Stunde geschuldet, dass sie eine Ausnahme macht und das Geheimnis verrät: Bis zu den Küchen, dann  die Tür zur Caféteria nehmen und dann …

Ich tigere los. Hab ja kaum Zeit. Im Kopf rahme ich ohnehin schon die Bilder in feinstem Alu hinter Kristallglas. Bei den Teelichten widerstehe ich, obschon es sie in grün, rot, blau und allen anderen Farben im Hunderterpack zu kaufen gibt. Unverschämt billig.

Die Rahmenabteilung hat die gefühlte Größe eines Fußballfelds. Fein sortierte Regale. Unheimliche Preise, bei denen man sich fragt, wie ist das denn möglich!? Sooo billig! Kaufrausch. Musste zugreifen, Mann. Jetzt!

Ich lade die benötigte Menge in den Einkaufswagen und noch ein paar mehr. Man weiß ja nie. Werde stutzig. Die Dinger fühlen sich leicht an. Glas ist schwer. Mit dem Fingernagel kratze ich die Folie auf und unter der Folie die Schutzfolie, bis ich auf Acryl stoße. Ich unglücklicher Golddigger, ich. Meine Goldader ist ein schäbiger Scheiß aus Irgendwas. Ganz bestimmt kein Glas. Dabei sehen die Dinger genauso aus wie die Glasrahmen, die ich vor fünfzehn Jahren gekauft habe. Auch die Namen sind gleich wie früher. Der Preis sogar günstiger. Auch das Alu fühlt sich im Tasten komisch an. So warm. So weich. Der Klopftest ergibt, es ist Kunststoff. Ich habe den Wagen mit fabrikneuem Müll beladen. Angewidert stelle ich alles wieder zurück in die Rahmenständer, schaue nach anderen Modellen, finde keine. Auf der gefühlt mehr als zwei Hektar großen Bilderrahmenabteilung gibt es keinen einzigen Bilderrahmen mit echtem Glas oder echtem Holz oder echtem Alu.

Ein drei Kubikmeter großer innerer Müllcontainer im Kopf tut sich auf und am liebsten würde ich den ganzen Schrott hineinwerfen und entsorgen.

Wenn sie am Material sparen, sparen sie auch an den Menschen! Ein Schauer läuft mir über den Rücken. In diesen Produkten steckt kein Funken Lebensglück. Nur Frust und Ausbeutung und Menschen, die in grausamer Zwangslebenslage ihre kostbare Lebenszeit vergeuden, um irgendwie mit der Arbeit, die sie in die Produktion Minderwertstens stecken, über die Runden zu kommen. Um schließlich Minderwertstes zu kaufen. Es ist zum Heulen.

Den Wagen lasse ich provokativ mitten im Labyrinth stehen, haste entlang des Parkours zur Kasse, widerstehe allem Billigen, krauche, innerlich auf Knien, vorbei an der Kasse, die für selbstscannende Kreditkartenzahler vorgesehen ist, ignoriere die Köttbullar- (Fleischklößchen) und Softeisteria, werfe mich wie ein Held aus einem Roland-Emmerich-Film, in Zeitlupe fliegend, durch die unheimlich behäbig drehende Ausgangstür, hinter mir der imaginäre Feuersturm einer lebensbedrohlichen Explosion.

Draußen. Blanker nasser Teer. Halb elf. Immer noch nur wenige Autos auf dem Parkplatz. Der All-German-Konsument schläft noch. Oder muss arbeiten.

Auf zum Auto. Regisseurwechsel. Emmerich hab ich überlebt. Nun Spielberg in Interpretation eines absolut scary Steven-King-Romans. Der Himmel blutet. Verzerrte, kahle Bäume. Krähen. Unheimlicher Wind aus dritter Dimension. Nackenhaarsträubende Stille. Hinter mir eine schäbige Hütte, in der was weiß denn ich für eine gottverdammte teuflisch unerklärbare Schandtat stattgefunden hat. Der Palast, den ich betrat hat sich in eine windschiefe Kaschemme verwandelt. Irgendwo dreht ein quietschendes Windrad. Ich bin allein. Der Wagen will nicht anspringen …

Schnitt.

Die Bilder hänge ich ungerahmt auf schneeweißen Nägeln an die Wände der Galerie. Ohne DIESE Rahmen wirken sie ohnehin besser. (Kaufen Sie meinen Horrorthriller ‚DIESE‘).

Schreibe in mein ledernes Notizbuch: ‚Der Kapitalismus ist die fragezeichenste Form des Niedergangs‘.

Was sich für eine Eigenschaft hinter dem ‚fragezeichenste‘ verbirgt? Schönste? Beste? Schlimmste? Ich weiß es nicht. Ich überlasse es Euch, liebe Leserinnen und Leser.

 

Bahngleisgossenhamlet

‚Schlechte Werbung! Jetzt wollt ich mir mal den neuen Zug ansehen …‘, so steigt er die Treppe des ICE herunter. Hinter ihm die Schaffnerin, die so ganz und gar nicht amüsiert schien, ihn zum Verlassen des Zugs auffordern zu müssen. ‚Schlechchte Werrbung!‘ intoniert er erneut unter seinem grauem Moustache. Als ob das hier ein Theaterstück wäre. Er der Hauptdarsteller mit imaginärem, hamletesken Totenschädel weihevoll vor sich. Perfekte Neonröhrenausleuchtung an digitaler Anzeigetafel. Spärliches Publikum: nur ich mit meinem schweren Europenner-Rucksack und eine feine Frau von irgendwo aus der Südsee mit Rollköfferchen. Und die arme Schaffnerin, deren Tag er macht, indem er sie als Statistin in sein Bühnenstück einbaut. Wir blicken dem Bahngleisgossenhamlet hinterher wie er am hunderte Meter langen ICE entlang streicht. Zwanzig Minuten bis zur Abfahrt. Alle Türen sind offen und im Zug werkeln die Putzleute in ihren orangenen Uniformen mit riesigen blauen Säcken. Neben jeder Tür leuchtet rot ein Display ‚Endstation. Nicht einsteigen‘ auf Deutsch und Englisch. Im Epizentrum des Unrats, dem Bordrestaurant, tummeln sie sich – womöglich – wie Elektronen, die ein superschweres radioaktives Element umschwirren. Auf dem Bahnsteig durchwühlt ein heruntergekommener Kerl die Rollcontainer, in die sie die Müllsäcke werfen, nach Essbarem. Der Bahngleishamlet nutzt die volle Länge der ellenlangen Gleisbühne. Sein ‚Schlechchchte Werrrbung‘-Geschnattere verliert sich in der Länge des Zugs und mit jedem Meter werden es mehr CHs und Rs. Der Typ wäre sicher ein guter Laienschauspieler auf klamaukesker Dorfbühne in der Provinz (obschon dieser die nötige Länge fehlt). Hier vor den Türen des ICE namens Ingolstadt wirkt er eher wie ein Panther. Als gäb‘ es tausend ICE-Tür’n, aber hinter tausend ICE-Tür’n keine Welt.

Höhe 226,325 – der Rotz läuft

Spuckt mich der junge Morgen am Zweibrücker Bahnhof aus. ZW-HBF, titele ich eine Geschichte. Gesprochen ‚Zwuhubf‘ mit ganz grausam verstümmelten Us.

Viertel Stunde zu früh. Auf Gleis zwei brummt der Diesel eines Triebwagens. Fast verwaister Bahnsteig. Ein schlacksiger Typ mit orangener Warnweste schließt die Aushängekästen auf und tauscht die Fahrpläne. Er hat einen Karton bei sich, in dem die gelben Poster gerollt Seite an Seite stehen. Die Ampel für meinen Zug steht schon auf grün. Gutes Zeichen. Keine Verspätung, hoffentlich. Dennoch muss ich die Minuten totschlagen. Schwerer Reiserucksack auf dem Rücken.

Das uralte, vermackte Emailleschild am Bahnhof in Zweibrücken zeigt die Höhe über Normal Null. An den meisten alten Bahnhöfen hängen solche Höhenangaben.

Die Fahrt aus der Pfalz zur Hauptlinie bei Karlsruhe dauert länger als die restliche Strecke mit dem ICE. Der Bahnhof hat weiß Gott schon bessere Tage gesehen. An der Wand bei Gleis Eins hängt ein Höhenschild. 226,325 Meter über Normal Null. Wenn ich ein so tiefes Loch in den Bahnsteig bohre, bin ich auf Meereshöhe. Ungefähr so weit wie bis zur grünen Bahngleisampel. Nur, um es mir bildlich vorzustellen. Wobei die Angabe vielleicht gar nicht mehr stimmt. Der Meeresspiegel steigt ja. Und noch mehr stimmt nicht mit diesem Bahnhof. Zum Beispiel ist das Kiosk verschwunden. Hinter zwei Meter hohen Scheiben klafft ein leerer Raum. Das wäre eine schöne Galerie. Jetzt ist es nur ein öder Raum. Überhaupt ist der Bahnhof in einem erbarmenswerten Zustand. Dort wo früher die Fahrkartenschalter waren, sind Bretter vernagelt. Gegenüber des ehemaligen Schalters könnten vor langer Zeit auch einmal Läden gewesen sein. Nun leere Räume. Nur noch ein Versicherungsbüro kauert hinter Milchglasscheiben. Welch‘ Signal Iduna. Der Taxidienst hat zu. Niemand will so früh mit dem Taxi fahren. Ein ‚zues‘ Restaurant ohne Öffnungszeiten namens Tender. Die Fleischgerichte sind gar nicht mal so teuer. In der Wartehalle tummeln sich einige Schüler. Besonders warm ist es auch hier in dem unheimlich schmutzigen Raum nicht. Klebriger Boden. Als habe die halbe Stadt gekotzt, gespuckt, aus elenden Wunden geblutet. Was für ein grausamer Tatort des Zerfalls. Ich rufe mir andere Bilder des Zerfalls vor Augen aus Frankreich und Spanien. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Provinz in ihrer Abgelegenheit langsam ausblutet, dass Menschen und Arbeitsplätze und der Komfort und das Miteinander und die Zwischenmenschlichkeit in die Städte fliehen. Was habe ich verwaiste Dörfer erlebt in den Cevennen, im Zentralmassiv, in Katalonien und Andalusien. Überall wirkte der Zerfall eleganter als hier vor der eigenen Haustür. Manchmal durchquerte ich Dörfer, in denen nur noch ein Haus bewohnt war, in denen nie ein Bus halten würde, in denen eigenbrötlerische Typen ihren kleinen Traum von Abgeschiedenheit und Ruhe lebten. Aber mit so viel mehr Würde.

In der Wartehalle saß ein dick eingemummelter Typ, schäbige Klamotten, uralte Sneakers, Koffer und Tüten neben sich. Nein, er saß nicht, er hing wie ein Klappmesser auf einem der austernförmigen Drahtmaschensitze. Das sind keine Sitze, das sind Verbrechen. Das ist ein Tatort. Jugendliche im Schmutz des Massakers. Jawohl: Tatort. Die Gesellschaft stirbt ab wie ein Lebewesenkörper. Zuerst die Extremitäten, Füße, Beine, Arme. Dann der Rest. Zuerst die Provinz. Was bleibt, ist Gerippe. Zerfallende Bauten. Und wenn der letzte Mensch die Provinz verlassen hat/gegangen ist, ist es auch sauber. Keine Spur mehr von Tatort, Spucke, Kaugummi und womöglich sogar Blut.

Seichtgrauer Winterhimmel hinter verwahrlosten Scheiben. Wie zum Hohn lacht der dreckigste Fußboden der Welt gen Decke. Der arme Teufel muss in Klappmesserchenstellung schlafen. Immer wieder klappt sein Oberkörper zwischen die Knie. Leise schnarcht er. Wie eine Wurst sieht er aus in der dicken, schmierigen, olivgrünen Pelle seines Parkas. Eine Wurst namens Klappmesser.

Fünf Minuten noch. Das Display am Gleis zeigt keine Verspätung an. Erleichternd. Ich krame einen Euro aus dem Geldbeutel und lege ihn dem Schlafenden auf den Koffer. Hoffe, dass ihn niemand bestiehlt, denn wenn dir jemand unbemerkt einen Euro hinlegen kann, kann ihn jemand anderes dir auch unbemerkt wegnehmen. Alles könnte man dem Mann nehmen.

Der Zug nimmt mich und die Schüler auf. Heizung defekt. Im imaginären Abschiedswinken sehe ich den Fahrplanwechsler, wie er an Gleis Zwei sein Werk fotografiert. Langsam setzen wir uns in Bewegung, das Schwarzbachtal hinauf. Man hat wohl eine Schleuse geöffnet. Der Bach hat wenig Wasser. Halbmeterhoch braun bleckt die Wasserfraßnarbe. Bäume liegen quer. Eigentlich ein Idyll, dieser nur etwa fünfzig Kilometer lange Wiesenfluss.  Thaleischweiler Fröschen. Ausstieg links. Bald Pirmasens-Nord, schlimmster aller Bahnhöfe. Verwahrlosung in Reinkultur.

Schaffner pyknisch behäbig nett. Mit Frühmorgencharme kitzele ich ein Lächeln aus ihm.

Der wachsende Wasserfall nahe Niederehe konnte erst entstehen, als durch den Bau der Bahnlinie viele Quellen vereint wurden. Moos und Kalk bilden seine stetigwachsende Grundlage. Die Bahnlinie ist heute ein Radweg.
Der wachsende Wasserfall nahe Niederehe konnte erst entstehen, als durch den Bau der Bahnlinie viele Quellen vereint wurden. Moos und Kalk bilden seine stetigwachsende Grundlage. Die Bahnlinie ist heute ein Radweg.

Umstieg in Landau. Dieser Bahnhof ist ein bisschen belebter, ein Tick weniger schäbig als Zweibrücken oder der Molloch Pirmasens-Nord. Auf dem Gleis bettelt ein etwa fünfzigjähriger Mann. Schmutzig. Laut und deutlich und ohne uns ’normalen‘ Wartenden zu nahe zu treten geht er auf und ab: ‚Habt ihr fuffzich Cent? Habt ihr fuffzich Cehent?‘ Unermüdlicher Münzenharvester. Sein ganzes Antlitz ist ein nikotinöser Exzess. Insgeheim taufe ich ihn ‚Der beige Mann‘. Unter seiner Nase hat ein gelb-bräunlicher Fluss aus Rotz und Nikotin Lauf genommen, der auch nicht vor der Oberlippe, der plappernden Mundöffnung, Unterlippe und Kinn halt macht. Ich fühle mich an den wachsenden Wasserfall in der Eifel erinnert. Dort fließt seit einigen Zig Jahren, durch die Vereinigung einiger Quellen zu einem Rinnsal gebündelt, ein kleiner Bach. Moos und Kalk des harten Wassers schichten eine erkleckliche grün-braun-gelbe Nase unterhalb eines ehemaligen Bahndamms. Was, wenn der Mann für immer hier auf dem Umsteigegleis in Landau auf und abläuft und ‚Habt ihr fuffzich Cent‘ plappert? Und Nikotin und Rotz schichten einen Wasserfall. Ich scherze bitter in mir selbst. Dabei ist es so traurig. Wie eine Aufziehpuppe aus den Siebzigern klingt seine Stimme, nur dass das 50-Cent-Geleiere der Puppe ein herzzerreißendes ‚Mama‘ war.

Bald bin ich auf der Hauptstrecke. Karlsruhe. ICE. Hochgeschwindigkeit. ‚Normale‘ Reisende, denen ein paar Münzen weniger überhaupt keine Schmerzen bereiten.
Rückblickend im weichen warmen Abteil fabuliere ich: Eine Welt wie das letzte Schütteln eines verflohten Hundes. Wie Schweißausbruch. Aus allen Poren kommt Blut. Oder Bettler. Oder Verzweifelte. Oder Kranke.

Nachtrag 2023-05-27: Ein T-Shirt mit Höhencode Zweibrücken Bahnhof gibt es in im Irgendlink Seedshirt-Shop.

Lieferwagenumdrehmaschine

Zwei Apfelbäume. Zwei andere Bäume mit für Menschen nicht essbaren Früchten. Eine auf Halbwüchsigkeit gestutzte Ligusterhecke. Drei Autos der Nachbarn vorm Gärtchen. Blau, silber-grün, weiß. Das Mietshaus gegenüber ist seicht-blau. Grauer Himmel deckelt das Bild. Die Dachrinne zur Rechten, zum Greifen nah, Wasser plätschert im Kupferrohr. Zwischen dem Mietshaus und dem, vor dem ich sitze, weitet sich die Welt, führt über ein ‚beidseits Parken verboten‘-Schild und die Mülltonnen auf fernere Häuser, die sich am Horizont im Nieselgrau verlieren. Fichte, Bettlaken, Schnick-Schnack, drei zur Unkenntlichkeit winterverpackte Koniferen. Neben dem Kreisverkehr lugt ein Dorfbrunnen. Ein Lieferwagen schleicht durchs Bild, verschwindet hinterm Haus, kehrt ‚umgedreht‘ zurück. Noch ein Lieferwagen, der ebenso umgedreht zurückkehrt. Da stimmt doch was nicht.
Wenn dies alles wäre, was ich von der Welt zu sehen bekomme, wenn ich stundenlang den tristen Weltenausschnitt zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern beobachten würde, tagelang, wochenlang, für immer, wenn weitere Lieferwagen durchs Bild führen und nach kurzer Zeit umgedreht in die andere Richtung zurückkehrten, läge es dann nicht nahe, irgendwo im Dorfdschungel hinter dem Häusern eine Lieferwagenumdrehmaschine zu vermuten. Vielleicht ein drehbares Stück Teer, ähnlich wie man es von Lokrangierschuppen kennt, auf das die Lieferwagen fahren. Dann setzt sich der Mechanismus in Bewegung und dreht um hundertachtzig Grad und sie kehren zurück auf ihrem Weg vom Woher nach Wohin.
Ich sollte einen Dorfspaziergang machen.

Vom virtuellen Kampf Bestie gegen Bestie

70 mal 365 mal 20, optimistisch geschätzt, wenn ich nur noch radeln würde und die Welt erkunden und darüber schreiben und mein Leben ändern, utopisch, ich weiß, aber mit der Vorstellung, auf den Sattel zu steigen, sich treiben zu lassen und seinem ‚Kerngeschäft‘, reisend zu bloggen nachzugehen, darf man ja mal spielen. Okay 70 Kilometer am Tag ist auch schon Phantasie. Man wird älter und müder und bequemer und man wird grundsätzlich aufgehalten. Im Fahrradsattel, unterwegs. Vielleicht nur 50 pro Tag? Es gibt ja so viel zu sehen unterwegs.

Das Wunder Welt als Antagonist der Bestie Mensch.

Ich muss mich sputen in meinem Bestreben, absolute Langsamkeit zu erfahren. Absolute Langsamkeit ist Gegenwärtigkeit. Und Gegenwärtigkeit ist Ewigkeit. Und das ist ein elendes Paradox. Wenn es dir nicht gelingt, die nötige Langsamkeit zu erlangen, um Glück wahrzunehmen, bist du gescheitert. Wenn du dich beeilen musst, langsam zu werden, so langsam, wie du es für nötig erachtest, setzt du diese elenden Gegenkräfte in Bewegung, die genau das, was du erreichen willst, vereiteln.

Das Jahr 2017 hat mir so bitter eingeschenkt, wie kein anderes Jahr je zuvor. Seit Monaten denke ich, wo ist endlich unten, ganz unten, wann bin ich endlich da. Wann kann ich mir die Wände des Lochs anschauen und nach Ritzen und Tritt- und Griffpunkten suchen, um wieder hinaufzusteigen?

Bestie Mensch, Antagonist im Protagonistenmantel.

Die Bestie Mensch manifestierte sich Anfang des Jahres mit der Wahl des Unsäglichen in den USA, legte konsequent nach mit dem Unschuldige-Journalisten-Einknaster vom Bosporus, zeigte sich in etlichen, vermeintlichen Freunden, ganz klein und im Privaten, in denen ich mich massiv getäuscht hatte und ging auf die Zielgerade mit einer diffusen Erkenntnis von einer Art Gesinnungsströmung, in der sich die weltweite menschliche Gesellschaft befindet, die sich darin äußert, dass die Starken die Schwachen mit allen Mitteln klein halten, drangsalieren, niedermetzeln, ausrotten.

Das perfide Glyphosat, das derzeit in den Medien ist, schien mir heute Morgen ein gutes Symbol, wie es läuft. Völlig abgekoppelt von den nackten Tatsachen, dass es ein Vernichtungsmittel für jedwedes Grünzeug ist, sehe ich es als das, was es ist, ein Bild für den Umgang der Bestie Mensch mit der Umwelt und mit anderen Mitgliedern der Bestie Mensch. Auch ich bin ja ein Mitglied der Spezies Bestie Mensch. Nur dass ich nachdenke und mir überlege, wie kann ich Bestie möglichst schonend und ohne anderen Bestien auf die Füße zu treten, koexistieren auf dem Planet der Bestien.

Naiv. Ich weiß. Wenn ich in meine Vergangenheit zurückdenke, merke ich, wie naiv ich schon immer war, wie blümchenträumend, das Miteinander zu etwas Schönem zurecht denkend, ich immer handelte. Da sind Kleinigkeiten wie, sich im Laden an der Kasse hinten anstellen. Nicht nach vorne rempeln und auf seinen Profit hecheln. In den letzten Tagen habe ich mehrere Vordrängelsituationen erlebt. Nichts gesagt. Nur darüber nachgedacht und mich gewundert, dass es früher, vor zehn, zwanzig Jahren doch anders war, dass derjenige, der an der Kasse fälschlicherweise vor einem früher Dagewesenen bedient wurde entschuldigend sagte, äh, ich glaube, der Mann, die Frau war früher da. Nun Fehlanzeige.

Ich sollte drängeln und die Ellenbogen auspacken. Aber das ist nicht mein Ding. Für die heutige Welt bin ich eine Fehlkonstruktion, zum Untergang verdammt.

Sie haben alle ihre Mittel und sie verwenden sie. Sei es greifbares Gift, das man in der Gärtnerei kaufen kann, oder sei es das Gift in ihnen, das sie Kraft des Miteinanders (welch Hohn, Miteinander. Wer? Wir? Wir gibt es nicht mehr, es gibt nur noch die, die und die und die sind sich mit denen spinnefeind …), Gift, das sie (oder wir alle) in uns selbst herstellen und es gegeneinander einsetzen.

Die deutsche Autobahn ist ein Gemetzel. Ich glaube, Autobahnfahren lässt einen den Umgang miteinander am intensivsten erfahren. Da gibt es keine Gerechtigkeit. Da herrscht das Gesetz der Wut, des Affekts, Feindschaft in Reinkultur.

Ende 2016 gab es zwei Bilder, die sich mir eingeprägt haben. Der Wahlkampf in den USA wurde bis aufs Messer geführt. Das eine Bild zeigt den jetzigen Präsidenten, wie er während einer Wahlkampfveranstaltung einen beeinträchtigten Journalisten vor tausenden seiner Anhänger blamierte, ihn nachäffte, sich lustig machte über dessen Sprachfehler – wie so ein Kind im Kindergarten, das sich über ein anderes Kind lustig macht und die dröge Masse auf seiner Seite weiß. Nur eine Situation, die aber ähnlich wie das derzeit in den Medien geisternde Pflanzengift zeigt, wie viele unserer Spezies Bestie Mensch ticken. Dem Bild gegenüber steht das seines Amtsvorgängers, der in einer vergleichbaren Situation – Rede vor vielen Menschen – mit einem querelenden Kerl konfrontiert wurde, der seine Rede störte. Schon hatten einige seiner Anhänger den Typen, einen Veteranen, in die Mangel genommen und wollten ihn rüde aus dem Saal werfen, da gebot er Einhalt und sagte, lasst ihn, lasst den Mann reden, tut ihm nicht weh, hört ihm zu. Großartig. So geht souverän. So ist erwachsen. Es aushalten, es sachlich angehen, deeskalieren, Frieden stiften.

Ich weiß nicht, ob ich die beiden Bilder richtig wiedergebe. Ich war nicht dabei. Ich kenne sie nur aus den Medien und ich habe sicher bei beiden Beispielen meine eigene Interpretation einbezogen. Aber ich denke, dieses Bildpaar ist ein Hinweis, wie die Welt derzeit tickt und wie, mit besonnenen, reifen, intelligenten Gewählten die Welt ticken könnte.

Deprimierend, dass alle Zeichen dafür stehen, dass sich die unreife, gewalttätige, eskalierende Form durchzusetzen scheint.

La Bête et moi

Zurück ins kleine Ich. Hilflos beobachte ich das Wirrwarr der Welt und stehe völlig machtlos den großen Mechanismen, die auf uns alle und auf mich einwirken gegenüber. Vieles ist nicht in Ordnung. Die Grundströmungen habe ich in den beiden Bildern grob skizziert. Sie sind da. Und die gemeine, menschenverachtende ist definitiv im Voranschreiten und mit jedem Meter, den sie gutmacht, schwächt sie die besonneneren, feinfühligeren Typen, die sich nicht an Supermarktkassen vordrängeln, Leute, die nicht die schwächeren oder unachtsameren Verkehrsteilnehmer auf den Straßen wegrüpeln – ich könnte ja auch anders, ich könnte mein Recht einfordern an den Kassen dieser Welt. Wenn mich jemand rempelt, könnte ich zurückrempeln, aber dann müsste ich ja auch andere rempeln, die das nicht können, die unterliegen. Die weltweite Rempelei kennt keine Gnade. Sie erzeugt Schwache und Starke und wer stark sein will, muss manchmal Schwache unterdrücken, auch wenn es ihm noch so gegen den Strich geht. Die anderen ‚Starken‘ machen ihn zum Verlierer unter vermeintlichen Gewinnern, wenn er nicht mitspielt. Stark sein unter einem Gemenge aus Starken und weniger Starken und der Schwäche widerstehen, sie niederzumetzeln: so verdammt schwer.

Es herrscht vermutlich Krieg. Auch wenn diese Behauptung sicher etwas zynisch wirkt. Die Gewalt ist nicht offen. Sie ist nicht so gewalttätig wie in einem echten Krieg mit Schusswaffen. Aber sie ist da. Durch die Erfindung der großen Meinungsmaschine mit den wuchtigen Waffen von Shitstorms und der Desinformation haben wir eine Art virtuelle Kriegsszenerie ins Leben gerufen. Es sind nur Worte und Schmutz, aber in unseren Köpfen wirken diese Worte und vernebeln den Blick auf die Realität.

Vielleicht könnte ich in den nächsten zwanzig Lebensjahren noch ein paar mal rund um den Planten radeln und drüber schreiben. Schizophrener Weise könnte ich auch daheim am PC sitzen und mir den virtuellen Planeten betrachten, mir ein Bild von der Welt machen, es glauben, danach handeln. Ich könnte vom heimischen PC aus ermitteln, wie die Inder so drauf sind, die Chinesen, die Perser, die Muslime, die Christen, Juden, Buddhisten. Aber was für ein Bild erhalte ich, geschützt durch den Monitor? Die Elsässer zum Beispiel, erfuhr ich vor anderthalb Jahren, wählen stark den Front National. Das heißt, wenn ich als Fremder ins Elsass reise, muss ich damit rechnen, dass man mich argwöhnisch beäugt, mir missgünstig gegenübersteht, mich bei der Polizei anzeigt, wenn ich in einem Bushäuschen übernachte, weil ein Gewitter über dem Land liegt, ha, wenn ich Glück habe, wenn ich Pech habe, greift mich meine imaginäre, auf Basis meines Webwissens zusammen geschusterte Bürgerwehr auf und verprügelt mich. So läuft das im Elsass. So und nicht anders. Genauso ist es auch mit den arabisch aussehenden Typen, die sich in kleinen Gruppen auf den Plätzen meiner Stadt zusammenrotten. Die berauben mich und vergewaltigen meine Frauen. So will es das Internet. So glauben wir das, ohne uns auf unsere Gegenübers einzulassen.

Anfang 2016 durchradelte ich das Elsass und begegnete keiner einzigen Bürgerwehr. Die Menschen waren durchwegs nett, luden mich zum Übernachten bei sich ein, richteten mir ein Bett, gaben mir Essen und trotz sprachlicher Komplikationen redeten wir über dies und das, ganz normal und ohne Argwohn. Ich war ein Fremder, der in Teilen wie ein Penner aussah, aber aus der Situation geboren doch vertrauenswürdig genug, dass man ihn in seinem Haus beherbergte und ihn speiste. Fast christlich das. Und nicht nur einmal.

So wünsche ich mir die Welt. Eine Welt voller Individuen, die einander vorurteilsfrei begegnen, herausfinden, ob die ‚Chemie‘ stimmt, sich aufeinander einlassen, einander bedingungslos helfen, am nächsten Tag Tschüss, gute Reise wünschen und vielleicht noch fragen, darf ich dir ein Butterbrot mit auf den Weg geben. Und dafür wären diese 70 mal 365 mal 20 Kilometer gut, die ich – bei guter Lebensführung und Gesundheit – noch reisen könnte. Darüber zu berichten und den Molloch aus Argwohn zu bekämpfen, der sich im virtuellen Kampf Bestie gegen Bestie zusammenmobt.