Straße nach Gibraltar 012

anfang (Bild, Link entfernt 2016-11-26)

Und also schrieb ich in mein Tagebuch

19. 4. 00, Dijon Talant

Die Rue de Mayance ist eine hässliche Industriestraße. Sie ist nach Dijons Partnerstadt Mainz benannt und ähnelt der Mombacher Straße dort. Nur der ewige Duft industriell gerösteten Kaffees fehlt. Wenn man hier nach dem Weg fragt, wird man ignoriert wie der Punkt in einer prämathematischen Welt. Eine Dame mit Hündchen starrte konsequent in die Luft, bis ich schließlich so laut mit ihr redete, dass es schon fast ein Schreien war. Ich muss wohl nicht sehr vertrauenerweckend gewirkt haben. Vorhin im Gewimmel der großen Straße wurde mir bewusst, wie skurril meine Erscheinung doch sein mochte. Ein schweißriechender vollbepackter Radler, der mit fremdem Akzent spricht, in einer Gegend, die man am Besten nur mit dem Auto durchquert.

Dann die Kreditkarten weg. Vorm Bankautomat sämtliche Taschen durchwühlt. Keine Ahnung, ob ich sie zu Hause auf dem Boden habe liegen lassen, oder unterwegs, vielleicht in Bayon auf dem Campingplatz, verloren habe? Somit auch keine Ahnung, wieviel bzw. ob überhaupt noch Geld auf dem Konto ist. Vielleicht wurde es geplündert? Mit einem Schlag zum Penner mutiert.

Nun hier auf dem Campingplatz am Lac de Kir. Meine Vermutung scheint sich zu bestätigen: ein Radweg führt entlang des Canal de Bourgogne, welcher direkt hier am Lac de Kir zu beginnen scheint.

Trotzdem keine große Lust, weiter zu fahren. Mein Geld könnte gerade noch reichen, um, in allen Genüssen schwelgend, die man sich als Reisender nur vorzustellen vermag, zurück zu radeln. Mit dem Zug wäre ich noch heute Abend wieder zu Hause. Was kommt heute im Fernsehen?

Ich muss nachdenken.

Ich muss telefonieren.

Straße nach Gibraltar 011

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Mittwoch, 19. April 2000, Dijon oder: wie man mit dem Fahrrad große Städte durchquert

Es liegt auf der Hand, dass man als Radler in großen Städten mehr oder weniger auf verlorenem Posten steht, vor allem in Frankreich. Die einzige Ausnahme auf der Welt dürfte Amsterdam sein, ein Paradies für Radler, mehr noch, Radler besitzen dort alle Macht der Erde. Nicht so in Dijon. Auf der stark befahrenen D 28 überquerte ich bei Ruffey den äußeren Stadtring, nichtsahnend, welche Hatz und Hektik mich in Dijon erwarten würde. Bei einem Supermarkt kaufte ich Lebensmittel, ein neues Tagebuch und die Michelinkarte Nummer 69, durch welche mich die nächsten beiden Tage mein Weg führen sollte. Ich folgte den Schildern Richtung Centre Ville, denn das ist stets meine Taktik bei der Durchquerung von Städten. Ich betrachte sie als Knoten, wobei die einzelnen Straßen ein willkürlich verknüpftes Gewirre darstellen. Der Gordische Knoten des Verkehrswesens lag in Form von Dijon vor mir. Ein Ende des Seils war die D 28, das andere der Canal de Bourgogne. Inbegriff des Südens, die Pforte ins Glück. Dort würde die Sonne lachen und das Radeln nur so eine Freude sein. Mein einfaches Stadtdurchquerungskredo lautete: Richtung Centre Ville, bis keine Centre Ville Schilder mehr zu sehen sind. Dann befände man sich logischer Weise im Zentrum. Der Kern des Knotens. Dort müsste ich nur noch die Richtung nach Draußen finden.

Bei einem Bankautomaten stoppte ich, denn meine Barvorräte waren bis auf 150 Franc verbraucht (ca. 20 Euro). Ich muss wohl ziemlich abgerissen gewirkt haben, denn die Passanten beäugten mich argwöhnisch: „Was will der? Den Automaten knacken, oder was?“ Ich zückte meinen Geldbeutel, fummelte nach der Kreditkarte, doch da war sie nicht. Im Pack-Chaos zu Hause musste ich sie wohl in irgendeine meiner Packtaschen geworfen haben. Zunächst durchforstete ich die Fronttasche, dort waren fein säuberlich in einem Umschlag Reiseschecks (mein Rettungsanker für die Rückreise) im Wert von 500 DM (250 Euro). Gut möglich, dass sich darin auch die Kreditkarte befände. Fehlanzeige. Ich filzte den Kulturbeutel und weitere Orte, an denen sich kleine Gegenstände wie Kreditkarten verstecken könnten. Ohne Erfolg. Langsam dämmerte mir, dass ich die Kreditkarte womöglich verloren haben könnte. Das wäre fatal. Nicht auszudenken, wer in der Zwischenzeit mein Konto geplündert haben könnte. Um sicher zu gehen, breitete ich sämtliches Hab und Gut auf dem Gehweg aus, zerlegte den Kocher, entrollte den Schlafsack, schüttelte das Zelt aus. Wie eine Explosionszeichnung lag nun mein gesamter Haushalt auf einer großen Straße in Dijon vor einem Geldautomaten. Das Fahrrad lehnte an einer Laterne. Die Passanten beäugten mich verwundert, doch das machte mir nichts aus. Ich wollte nur wissen, wo meine Kreditkarte ist. Nachdem ich alles mehrfach gecheckt hatte, war klar, die Karte ist irgendwo, nur nicht hier. Ich erinnerte mich, dass ich sie vor der Abreise auf den Fußboden geworfen hatte, dort wo sie hingehörte, zu allen für die Reise wichtigen Dingen. Sollte mir im verkaterten Zustand des Packens am Reisebeginn etwas entgangen sein?

Mittlerweile war es nach 18 Uhr. Hatte ich ursprünglich die Absicht, Dijon noch an diesem Tag zu verlassen, änderte ich nun meinen Plan und fuhr hinüber zum Campingplatz Dijon Talant. Dort würde ich nach Hause telefonieren, die Kreditkarte sperren und entscheiden, ob es überhaupt Sinn macht, die Tour fort zu setzen, mit nunmehr nur noch 500 DM in der Tasche.

Unterwegs durch die wunderschöne Altstadt murmelte ich einen Spruch, aus Jack Kerouacs On The Road: „Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer.“

Jazzer können länger

Wieder so spät. Bin nicht müde. Jazzfestival zweiter Tag. Die üblichen Backstageverrichtungen. Diesmal mit Englisch und Französisch- Einlagen. Die berühmte amerikanische Band kam viel zu spät. Ohne Soundcheck auf die Bühne. Das macht die Profis aus. Sie stellen sich hin, spielen und hören nicht mehr auf. Zwischendruch kam der Trompeter herunter in die Graderobe, um sich eine neue Flasche Rotwein zu holen. Retour ins Rampenlicht zur zweiten, dritten oder vierten Zugabe. Das Publikum war begeistert. Der Preis der Kunst ist hoch. Die Techniker und Serviceleute zahlen ihn. Nicht auszudenken, wie der Tontechniker im Blindflug abgemischt haben mochte. Er hat seine Sache gut gemacht. Die Chefin hing erschöpft auf einem Stuhl hinter der Bühne. Vermutlich betete sie bei jeder Zugabe, dass es die Letzte sei (versteht mich nicht falsch, sie spielten nicht schlecht, sondern lang). Später setzten sich die Musiker im Backstage fest wie Cholesterin in verhärteten Adern. Die Hausmeister lauerten auf dem Flur. Der Koch ging an Krücken. ich hatte den Kopf in die Hände gestützt, lauschte den abenteuerlichen Berichten des roten Tourmangers. Ein redseliger Schwabe mit dunkler Brille, der die halbe Welt gesehen hat. Der Trompeter verlangte nach einem Suppenteller und vergaß Suppe einzufüllen. Energisch schwätzte er mit dem Pianisten. Gegen Zwei räumten die Hausmeister mit Gepolter das Leergut vom Tisch, klapperten mit dem Schlüssel. Ich tat es ihnen gleich, räumte Dinge von A nach B und wieder zurück, um eine ungemütliche Athmosphäre zu erzeugen. Dann sprach sich herum, es werde gejammt in einem Club nebenan. Der Trompeter nahm sich eine Flasche Wein und alle Musiker eilten dorthin. Ich rede von über siebzigjährigen kernigen Typen. Man sagt, einer von ihnen müsse nach jeder Vorstellung zur Dialyse.

Straße nach Gibraltar 010

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Mittwoch, 19. April 2000

In der Kleinstadt Champlitte setzte Regen ein. Ich beschloss, trotzdem weiter zu fahren. Der Radreisende kennt unzählige verschiedene Arten von Regen. Die Intensität des Regens lässt sich am besten an den Scheibenwischern der entgegen kommenden Autos ablesen. Wenn sie auf Intervall geschaltet sind, kann man getrost weiter radeln. Die Hitze, die der Körper abstrahlt verdunstet die wenigen Spritzer in Windeseile. Der eigene Schweiß nässt mehr als die Außenwelt. Es macht also keinen Sinn, Regenklamotten überzustreifen und somit die Verdunstung der körpereigenen Ausdünstungen zu verhindern. Selbst bei langsam geschalteten Auto-Scheibenwischern ist das Radfahren oft noch erträglich. Ich kurbelte einen Berg hinauf. Der Regen wurde stärker. Mit der allgemeinen Parole: „Was nass wird, wird auch wieder trocken“, hielt ich mich bei Laune. Fräulein Smillas Gepür für Schnee kam mir in den Sinn. In diesem Buch von Peter Hoeg gibt es eine Passage, die sich ausschließlich mit Schnee beschäftigt. Die Grönländer kennen hundert verschiedene Arten von Schnee. Genau wie ich hundert verschiedene Arten von Regen kenne.

Mittlerweile waren meine Hosenbeine bis zum Knie nass. Die Jacke beförderte das Wasser auf den Beckenbereich. Die Hose leitete auf die, an sich wasserdichten, Schuhe ab. Das Wichtigste ist: warme Füße. Ich stoppte bei einem Unterstand an einer Überland Bushaltestelle, die wohl einige verborgene einsame Gehöfte an den öffentlichen Nahverkehr anschloss. Aß ein Stück Baguette, trank einen Schluck. Das Wasser war eiskalt. Ich fror. Da es leicht bergan ging und der Regen nachzulassen schien, fuhr ich weiter. In Chazeuil war der Spuk dann vorbei. Die Gegend unmittelbar nördlich von Dijon wird intensiv landwirtschaftlich genutzt, was ihr im Frühling kaum bis gar keinen Charme verleiht. Ein Geschwader Tiefflieger raste mit Überschallgeschwindigkeit über mich hinweg. Der Gegenwind zerrte an den Nerven. Die Aussicht, schon bald in die doch recht große Stadt Dijon einzureiten machte mich nervös. Als Ortsunkundiger ist es schwer, eine geeignete Fahrradroute zu finden. Einige Jahre zuvor war ich schon einmal mit dem Fahrrad in Dijon. Ein einziges hektische Grauen. Um mich zu beruhigen, dachte ich an Paris, welches ich 1996 mit dem Fahrrad durchquerte. Von der Kleinstadt Meaux führt über 60 km ein prima Radweg entlang des Canal de l’Ourcq bis hinein in die Stadt.

Auf meiner Michelinkarte, Maßstab 1:200000, konnte ich einen ähnlichen Weg für Dijon erkennen, nur führte der in die falsche Richtung: Der Canal de Bourgogne verlässt nach Westen die Stadt. Es wäre also anzunehmen, dass es dort auch einen Radweg gibt. Ich befand mich Nordöstlich, als ich nach 392 Kilometern das Ortsschild von Dijon passierte. Stark befahrene Einfallstraße, weshalb ich mächtig reintrat und mit über 30 Sachen stets den Schildern Richtung Centre Ville folgte.

Der Spirit des Jazz

Schon spät. Der Ofen ist aus. 9 Grad. Komme soeben vom Jazzfestival in der Nachbarstadt S. zurück, wo ich die letzten 12 Stunden den Backstageraum bewacht habe und den Künstlern beim Zurechtfinden behilflich war. Kein übler Job, auch wenn er recht anstrengend ist. Servicekraft sein ist immer anstrengend. Gegen Ende machte sich ein Rudel Alphasaarländer zum gemütlichen Plausch im Backstageraum breit, was nicht weiter schlimm wäre, doch ausgerechnet der Bassist, welcher zuvor durch unflätiges Benehmen meinen Unmut auf sich gezogen hatte, verlangte spät um 1 noch nach Bier. Er sagte: „Im Kühlschrank ist nur noch Kinderbier, Bier mit Cola, das trinke ich nicht, gebt mir Bier für über Zwnazig.“ Ich ignorierte ihn, doch die Chefin, welche sich bei den offensichtlichen Alphamusikern liebkind machen wollte, fragte: „Bier über Zwanzig, Bier über Zwanzig, was meint er denn?“ Der schwedische Trompeter erklärte: „Richtiges Bier.“ Also orderte die Chefin: „Irgendlink, ordere doch noch eine Kiste Bier beim Caterer.“ Ich verließ den Backstageraum. Im Flur standen die Hausmeister und schauten auf die Uhr. Sie fragten, ob sie bald zuschließen dürften. Ich sagte, „die Chefin will trinken“, und orderte beim Caterer eine Kiste Bier auf Kosten des Steuerzahlers. Zurück im Backstageraum löschte ich demonstrativ die Teelichte unter den warmen Platten. Brandschutz muss ein. Dann kam der Wirt und sortierte das Bier in den Kühlschrank. Sofort bestellten sie noch eine Flasche Wein, es soll uns an nichts mangeln. Ich überlegte, ob es gut sei, auf Kosten des Steuerzahlers den Alphatrinkern beim Besaufen zuzusehen, immerhin redeten sie über die männliche Brust, Östrogen und wie schlimm es doch sei, dass wir Menschen nicht wie die Hunde an unseren eigenen Geschlechtsteilen lecken können. Im allgemeinen Gelächter nutzte ich die Chance zur Flucht..