Kneift mich … | #zwand20

Ein grünlich schimmerndes verglastes Hochaus in städischer Szene am Ufer eines Flusses, gesehen von der anderen Flussseite

Ran an den Feind. Rein in den Blogstollen. Geld ist das heutige Thema. Im Jahr 2000 erwachte ich nach dem gestrigen siebten Reisetag auf dem Campingplatz Villerest an einem Loire-Stausee südlich der Industriestadt Roanne. Nieselregen tippelte aufs Zeltdach. Ich war von einer Woche ununterbrochenen Radfahrens mit Etappen teils über hundert Kilometern und zwischendurch Kunstfotografieren und Schreiben ziemlich erschöpft. Ich erinnere mich, dass ich mich im Schlafsack immer wieder umdrehte, in die Morgendämmerung hinein döste und der Tag von Kurzschlaf zu Kurzschlaf langsam seinen Lauf nahm. Es wurde und wurde nicht heller. Ich kochte Kaffee, las in einem Buch. Ich müsste recherchieren, ob es Erich Fromms ‚Haben und Sein‘ war.

Campingplatz Villerest. Die Kirchturmuhr schlägt gerade zum zweiten Mal 9 Uhr [die meisten französischen Turmuhren schlagen im Abstand von etwa einer Minute die Zeit zwei Mal hintereinander, wohl für diejenigen, die nicht mitgezählt haben]. Seit etwa zwei Stunden regnet es. Momentan nur noch Niesel, also Regen, der auf der Haut verdunstet, wenn man sich […] genug bewegt. Trotzdem keine große Motivation, aufzustehen. Alleine, das Zelt zusammenzupacken wird eine Überwindung – nass einpacken. Brrr. […] Es sieht nach ewig grau aus. […] Statistik gestern 56,79 km, Durchschnitt 14,7. Mein Abendessen wird immer besser. Ich bin auch lockerer, froher geworden. Sinn der Reise!

An diesem 23. April 2000 notierte ich ins Tagebuch, dass ich gegen 16:30 zusammenpacke und nach Feurs weiterradele, etwa 40 Kilometer Loire aufwärts. Keine Notiz, welches Buch ich gelesen habe. Ich erinnere mich aber, dass ich den Tag lesend im Europenner-Zelt verbrachte.

„Geld Geld Geld“ war eine Werbung in den Taschenbüchern der 1980er Jahre. Das hat sich mir eingebrannt. Irgendwo mitten im Roman eine Seite, auf der oben diese drei Worte standen und der Name der Firma, irgendwelcher Anleihen, die die Seite bezahlt hatte. Mit Geld hatte ich immer Berührungsängste. Ich nehme es nicht gern. Ich nehme es. Ich brauche es nicht. Ich brauche es. Es zerbricht mir den Kopf, dieses merkwürdige, abstrakte, von Menschen für Menschen gemachte Kreislaufsystem; mehr noch als mir das Phänomen Zeit den Kopf zerbricht. Beides, Geld und Zeit in Kombination und die menschliche Arbeitskraft, der messbare Wert einer Person ist für mich ein undurchdringliches Dickicht, in dem es geheimnisvolle Zusammenhänge gibt, einerseits ein Segen, dass wir etwas hervorgebracht haben, das uns auf Gedeih und Verderb – schreibs groß, GEDEIH UND VERDERB – zu einer Gesellschaft wachsen lässt, die dazu im Stande ist, wirklich große Dinge hervorzubringen. Ragwegenetze, Gesundheitssysteme, Weltraumflüge, Traumschifffahrt … Gerechtigkeit für alle? Vergiss es. Des einen Gedeih ist des anderen Verderb.

Eine verspielte, bunte Malerei auf einem Brunnensockel. Schräg wie fliegend trägt eine Frau mit rotem und grünem Gewand eine Teekanne vor sich her und gießt in den Brunnen.
Reliefmalerei am Brunnen des Klosters der 1000 Buddhas in Boulay/Frankreich. Das Buddhistische Zentrum war Besuchsort beider Reisen nach Andorra, 2000 und 2010. Das Bild ist aus dem Jahr 2010.

27. April 2010. Nacht in Toulon-sur-Arroux. Was für eine exorbitante Silhouette, die hellerleuchtete Arroux-Brücke … wassen Stuss! Das Licht ist aus. Es ist eiskalt. Der Mond, fast voll, liegt hinter Schleierwolken. Ich habe unruhig geträumt und nun surren die Gedanken. […] Gestern Abend überquerte ich den Boule-Platz, um mit D. zu telefonieren. Auf dem großen Platz unweit des Campings gibt es eine öffentliche Toilette und eine Telefonzelle. Ein Trucker parkt […] macht offenbar die vorgeschriebene Ruhepause. Renault-Werkstatt, schöne alte Häuser mit schweren Fensterläden, die in der Dämmerung geschlossen werden. Zwei Mädchen überqueren den Platz. Jede Menge Autos rauschen an der Telefonzelle vorbei, dass man manchmal nichts versteht. […] Gestern hielt ich mich im Tempel der 1000 Buddhas (Wikipedia, französisch) länger auf als geplant. Besichtigte dieses Mal [entgegen des Besuchs vor zehn Jahren] auch das Innere. Hin und weg! Ein Wunder! Ich inhalierte die Stille, das Mantrische. Vor dem Tempel steht ein halbkreisförmiger Brunnen, dessen Plätschern sich am Gebäude reflektiert und somit ein starkes Rauschen erzeugt, das sehr belebend ist. […] Ein [weiteres Gebäude], rundum verglast rechts neben dem Brunnen, enthält eine drei Meter hohe Gebetsmühle. Erst als ich die Hand anlege und ein paar Runden drehe, merke ich, wie träge das Ding ist. Es muss aus Beton sein, oder aus purem Gold :-). Aber wenn man es einmal angestoßen hat, läuft es ganz leicht.

Am siebten Reisetag 2010, dem 27. April, bin ich im Vergleich zur Radtour 2000 Luftlinie etwa 85 Kilometer ‚hinterher‘. Ich bin nicht langsamer. Ich halte mehr inne. Ich fotografiere intensiver, ich möchte nicht sagen ganzheitlicher, obwohl es der Entwicklung, die sich bis ins Jetzt fortzusetzen scheint, sicher nahekommt. Entweder wirst Du immer mehr eins mit dir und deiner Umgebung als kleiner Mensch, oder du zersplitterst im ewig mahlenden Wahn der Gier, die Dich bedroht.

Einst krochen zwei Gegen aus dem Nichts und formten das Ganz, indem sie sich teilten in Gegen und Für, die sich teilten und Gegen und  Für hervorbrachten und so weiter und so fort. Zerrissen, sich vereinen zu wollen, teilten sie sich bis in alle Ewigkeit und wuchsen weiter weiter weiter. Auseinander.

Im Jahr 2000 passierte etwas Schlimmes. In Dijon, nach vier Tagen unterwegs, bemerkte ich, dass ich die Bankkarte verloren hatte. Auf einen Schlag hatte ich nur noch etwa 200 Franc (30 €) im Geldbeutel, sowie drei Reiseschecks, die ich als Reserve für einen Rückflug hatte. Mein angepeiltes Ziel, Gibraltar, würde ich mit den Schecks im Wert von, ich meine 300 DM (150 €), nie und nimmer erreichen. Ich bin froh, dass ich trotzdem weiter radelte und das Beste aus der Situation machte. Dieses Buch würde nie geschrieben, wenn ich damals auf die Stimme des Geldes gehört hätte.

Jetzt. Der gestrige Reisetag sieben der Fahrradreise nach Andorra ist auch ungefähr der siebte Tag, an dem die sogenannte Corona-Krise (verstärkt) ihren Lauf nahm. Von Tag zu Tag wird das öffentliche Leben mehr eingeschränkt. Die Grenzen sind mittlerweile europaweit, wenn nicht weltweit, dicht. Der öffentliche Verkehr ist stark eingeschränkt. Die Maßnahmen der Regierungen laufen bedrohlich nahe auf Ausgangssperren hin. Seit heute darf man nur noch höchstens zu zweit unterwegs sein, sollte das Haus nur noch für elementare Dinge verlassen: Arbeit in systemrelevanten Jobs, Arztbesuche, Einkaufen. Zum Glück darf man noch Sport treiben. Alleine. Ich schreibe diese Zeilen nicht fürs Jetzt, sondern für die Chronik. Falls ich in zehn Jahren wieder nach Andorra radele, bin ich froh um jeden nebenbei dahin gesagten Hinweis auf die Umstände.

Die Börsenkurse fallen rasant. Die Weltwirtschaft bricht zusammen. Insgeheim habe ich Sorge, dass es der Beginn einer schrecklichen Kettenreaktion ist, die in Revolutionen und Kriege mündet, in Mord und Totschlag, in Willkür und Restriktion. In der Zerschlagung von Staaten und Zivilgesellschaften. Hin zu einer Regentschaft der Konzerne und rebellischer Kriegsherren. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Wenn ich das Geld beobachte und die, die es besitzen wollen, kann ich mir schwer vorstellen, dass sie ihre Felle einfach so den Bach runter gehen lassen. Es fliegen fast nur noch Militärflugzeuge. Ich wohne nahe der US-Airbase Ramstein. Man munkelt, die wenige Industrie, die noch mit voller Kraft arbeitet, sei die Waffenindustrie. Vielleicht ist das nur ein verschwörerisches Gerücht. Ich hoffe es. Es herrscht eine unheimliche Stille hier in der Pfalz. Kaum noch das alltägliche Hintergrundrauschen des Pendlerverkehrs, das verzweifelte Jaulen aufgemotzter Karren jungspritzender Männleinbübchen auf dem Parkplatz am Stadtrand (ich weine dem keine Träne nach). Der Stillstand aller Auspuffe. Bei der vorgestrigen Radtour in der Abenddämmerung durch die Vororte der Stadt fragte ich mich, wo all die Menschen sind. Kaum ein Fenster beleuchtet. Haben in diesen Häusern je Menschen gelebt? Für einen Moment des Wahns dachte ich, ich bin vielleicht tot, träume das alles nur, befinde mich nun in einer selbst erzeugten Innenwelt, während man meinen Körper verbrennt, die Asche in eine Urne füllt und sie neben der Urne meines Vaters unter dem Familienbaum auf dem Waldfriedhof im Pfälzer Wald versenkt. Wo hätte ich gedacht, dass ich der zweite bin, der in dem schönen Grab versenkt wird. Kneift mich! Weckt mich! Versichert mir glaubhaft, dass das, was ich träume alles nicht wahr ist und kneift mich weiter, bis das, was wohl kollektive, weltweite Realität ist, auch nicht wahr ist, nie wahr gewesen sein wird. Kneift mich weiter, so lange, bis die Welt in Ordnung ist und alle Menschen ein glückliches Leben im Einklang mit der Natur leben dürfen.

Träume weiter, Kunstbübchen, träume weiter!

Einige Artikel zuvor löschte ich einen Satz aus einem Artikel, der etwa so ging: „Geld hat keine Bedeutung …“; ich ließ mich etwas verächtlich über Geld aus und behauptete, ich brauche kein Geld. Eine gewisse Europenner-Überheblichkeit, die das Handeln vieler lieber und braver Menschen vielleicht verächtlich machen würde und ich wollte ja niemanden beleidigen damit, nur weil es mir in dem Moment nicht möglich war, zu erklären, warum Geld bedeutungslos ist. Klar, man kann sich klassisch rausreden: Geld ist nur ein Scheinwert. Von Unmenschen für Menschen gemacht. Du kannst es nicht essen. Es pappt voller Viren … ich scherze … jenseits dieser oberflächlichen, klassischen Ausrede, muss ich sagen, Geld ist eine mächtige Waffe. Es zwingt uns in die Unselbständigkeit, macht uns jenseits seiner eigentlichen Funktion zu den Tausend Sklaven der Freiheit Einzelner. Wir werden von Kindsbeinen in dieser Konsumgesellschaft auf Unselbständigkeit getrimmt. Man füttert uns mit den Erzeugnissen aus Saatgutpatenten. Wir lernen, dass wir unbedingt dieses oder jenes Produkt benutzen müssen. Eigene Ideen sind unerwünscht, was uns letztlich das Genick brechen wird, wenn wir jetzt tonnenweise Klopapier in unseren Vorratskammern horten müssen und die Heferegale leerkaufen, in der Hoffnung, zu den Wenigen gehören zu dürfen, die der möglicherweise bevorstehenden Apokalypse entrinnen.

Vielleicht aber bietet der derzeitige Zustand einen Ausweg? Vielleicht besinnen wir uns rück? Vielleicht erkennen wird, dass wir in unseren Köpfen kein Klopapier haben, sondern ein Hirn, ein vorzügliches Organ, das einem Möglichkeiten ungeahnten Ausmaßes eröffnet. Was, wenn wir alle unsere Hintern mit Zeitungspapier wischen würden, wie es unsere Großmütter noch bis in die 1970er Jahre getan hatten auf dem alten Plumpsklo überm Hof. Kleingeschnitten und auf Fleischerhaken hing immer ein guter Vorrat in dem zugigen Kabäuschen meiner Oma. Was, wenn wir alle unsere Hefe selbst herstellen aus ein paar getrockneten Früchten, einem Löffel Zucker und ein bisschen Wasser? Wenn unser Strom, den wir nur spärlich nutzen, weil wir zur Einsicht gekommen sind, aus Solarzellen auf dem heimischen Balkon kommt? All die Möglichkeiten zu nennen, die wir, mit dem Gesicht einfallslos zu einer Wand stehend hinter unserem Rücken haben, würde den Blogartikel sprengen.

Wir treten vielleicht gerade den Rückweg an. Wir hören auf zu wachsen. Wir bringen Opfer. Wir büßen ein. Der Rückweg und der Stillstand haben eine ungeahnte Kraft. Wir wissen das nur nicht, weil die Angst es überlagert.

Der heutige Marker in der Landkarte meiner Reisen nach Andorra befindet sich in Frankfurt, obschon der Ortsname in diesem Artikel niemals gefallen ist.

Geld Geld Geld!

 

 

 

 

Von Sehnsuchtsorten und zeitlichen Wirren | #zwand20 #anskap

Vor einer hellblauen Umkleidehütte aus Brettern sitzt ein junger Mann, die Arme hinter dem Kopf verschränkt an der Wand lehnend, die nackten Füße hochgelegt auf einen Stuhl. An der Hütte sind die dredimensionalen Lettern BAD in roter Farbe festgeschraubt.

Okay, Junge, jetzt bloß nicht durcheinander kommen mit den Daten. Nach einer gewissen Zeit auf Reisen stellt sich ein Zeitverlustgefühl ein. Du weißt dann nicht mehr, welcher Wochentag ist, welches Datum, wie lange du schon unterwegs bist, wo du vorgestern warst, wo vorvorgestern. Jegliches gesellschaftlich anerzogene Maß verliert sich, wird bedeutungslos. Die Zeit bedeutet nur noch, wenn es darum geht, vor Ladenschluss eine Einkaufsmöglichkeit zu finden. Kilometer ticken nur noch auf dem Fahrradtacho und takten allenfalls das Kunstprojekt. Alle zehn Kilometer stoppe ich im Jahr 2000 und schieße ein Foto der Straße. Man kann sich die Bilder in der Karte ansehen, indem man die Ebene ‚Bildstandorte 2000‘ einblendet (links auf der Karte befindet sich ein Ebenensymbol). Seit 1994 mache ich auf meinen Konzeptkunstreisen alle zehn Kilometer ein Foto der bereisten Strecke. Egal wie es an der Stelle aussieht. Egal, ob das Bild den Ansprüchen auf guten Bildaufbau genügt. Der Tacho bestimmt, wann das Bild fällig ist. Stets vom rechten Straßenrand aus. Stets in Richtung Reiseziel. So spule ich einen Film um den anderen durch die Spiegelreflexkamera und horte die vollen Pélicules, so heißt Kleinbildfilm auf französisch, tief unten in den Packtaschen. Eine Geschichte dieser sogenannten Kunststraßen kannst du auf dieser Seite anschauen.

Ich bin ein wenig wirr heute Morgen, weiß nicht, welcher Reisetag ist, blättere konfus in den alten Tagebüchern. Wo war ich 2000? Autun? Bei erstmals angenehmen Nachttemperaturen erwachte ich auf dem von dichten Thuja-Hecken umrankten Parzellen des Campingplatzes. Beim Aufbruch setzte Regen ein. 2010 lag ich mit meiner ‚Leistung‘ genau einen Tag zurück. Bei strahlendem Sonnenschein verließ ich den Campingplatz Lac-Kir. Der Kanalradweg am Canal de Bourgogne war in den zehn Jahren, die zwischen den beiden Touren liegen weiter ausgebaut worden und ich konnte dem schön geteerten Treidelpfad folgen bis Pont d’Ouche. Dort zweigt die Route südwärts ab vom Kanal, dem Fluss Ouche folgend über Bligny in die hügelige Gegend um Autun.

2020. Die Nacht war gräßlich. Ich hatte einen Alptraum. Eine Panikattacke mit Atemnot. Zu viele Menschen auf zu engem Raum. In dem Traum sollte ich zwei Worte einsprechen für eine Vertonung von irgendwas. Als sich die Menschen mir bedrohlich näherten, sprang ich aus dem Fenster, landete auf einem Balkon, lief davon in eine menschenleere, von Industrie und Gewerbe und kahlen Wohnblocks durchdrungene Stadt. Eben läuft ein Schatten durchs Büro. Ich bilde mir das nicht ein. Fahler Dämmerungshimmel hinter schmutziger Scheibe und kahlen Hainbuchen, Blick gen Osten. Ich zucke zusammen. Warum bin ich so schreckhaft? Erst nach einer Weile realisiere ich, dass die Sonne über den Horizont kommt und wohl ein LKW auf der Landstraße, hundert Meter entfernt durch die jungen Strahlen fuhr und einen Schatten ins Zimmer warf. Erklärung gefunden. Angst weg.

Die Sonne, ach die Sonne, die wunderbar schrägstehende, skandinavisch anmutende Sonne vor klarem ungetrübtem Blau. Es gibt Sehnsuchtsorte. Einge wenige wohl wie in jdem Menschenleben für jeden individuell mal hier mal dort, wo es einen eben hingespült hat in den Windungen des Schicksals. Da sind für immer festgeschriebene Orte in deiner Erinnerung, an die du dich zurücksehnst, an der du dir vielleicht wünschst, die Zeit wäre setehen geblieben. Die Britische Science Fiction Serie Doctor Who hält eine Bild dafür parat. Der Doctor ist ein Zeitreisender, der in gewissem Rahmen die Möglichkeit hat, Unheil von den Menschen abzuwenden. Die Erde ist sein Lieblingsplanet. Die Menschen seine Lieblingsspezies. Seit den 1960er Jahren rettet Doctor Who die Welt vor den unvorstellbarsten Katastrophen. Aber seine Macht hat Grenzen. Er nennt es Fixpunkte in der Zeit. Punkte, an denen selbst er nicht das Schicksal einzelner wenden kann. Dinge, die einfach passieren müssen, sonst würde das ganze Gefüge des Universums aus den Fugen geraten und jegliches Sein hörte auf.

Vielleicht sind diese Sehsuchtsorte Fixpunkte in unseren eigenen Werdegängen?

Ein Radweg kurz nach einer Straßenunterführung führt entlang eines Sees. Zwei Radlerinnen kommen entgegen. Rechts sitzt ein junger Mann in kurzen Hosen und T-Shirt in der Hocke, an die Betonmauer der Unterführung gelehnt.
Sehnsuchtsort in Lycksele. Kurz vor einem Wetterumschwung im Jahr 1995. Auf der Straße, unter der der Radweg hindurchführt, findet in den Sommermonaten die allabendliche, sogenannte Pilluralley statt. Junge Männer, die quietschenden Reifens mit aufgemotzten Karren die Hauptstraße am Fluss auf und ab fahren, um Mädchen zu imponieren.

Der gestrige Tag. Tag sechs meiner nicht stattfindenden Reise nach Andorra. Morgens schreibe ich am heimischen PC. Nachmittags hecke ich mit meinem Freund Marc Kuhn ein Col-Art-Malprojekt aus, das vielleicht das größte Col-Art-Kunstwerk aller Zeiten hervorbringt. Dann ein wenig Holzhacken. Das Radfahren des kleinen Mannes und als mir abends noch nicht genug davon ist, breche ich eine Stunde vor Sonnenuntergang mit dem Ebike auf zu einer kleinen Tour. Das benachbarte Dorf ist fast menschenleer. Begegnungen, abzählbar an einer Hand: drei Mädchen auf der Landstraße. Überholender SUV. Radler voraus, zwei grobschlächtige Kerle ausbaldowern etwas an einer Häuserecke. Spazierendes Pärchen. Über die L 462 keuche ich hinauf zur Sickinger Höhe, wo mich die schräg stehende Abendsonne mit aller Wucht als langen Schattenradeler auf die Felder klatscht und mit einem Mal ist er da. Mein Sehnsuchtsort. Mit aller Kraft kommt mir ein Bild in den Sinn, Freund QQlka und ich im Jahr 1995 im lappländischen Lycksele. Wir unterqueren auf dem Radweg eine Hauptstraße und steuern auf einen See zu, an dessen gegenüberliegenden Ufer ein riesiges Hotel steht. Die Luft ist kalt. Es ist schon sehr spät, vielleicht 22 Uhr. Noch immer hell. Unsere langen Schatten züngeln im See. Das Wetter wird umschlagen, sagen die Leute. Der Sommer ist vorbei. Ihr seid zu spät. Fröstelnd lehnen wir an einem Geländer und schmatzen ein paar Süßigkeiten. Bald wird es dunkel. Wir müssen einen Lagerplatz finden. Morgen wird alles anders sein. Morgen wird Lappland uns das zu schmecken geben, was es für immer für alle bereithält. Dies ist unser letzter schöner Tag auf der Reise ans Nordkap. Vielleicht ist diese Szene deshalb einer meiner Sehnsuchtsorte geworden? Fixpunkt meiner individuellen Vergangenheit?

Ich erinnere mich wieder an das Zeitkonstrukt meiner beiden Zweibrücken-Andorras. Heute ist der siebte Reisetag. Ein Tag fehlt. Ich bin konfus. Wie kann ich es korrigieren? Hier im Buch, das wie alle meine Bücher am offenen Herzen der Literatur geschrieben wird? Es würde die geneigten Leserinnen und Leser nur verwirren, denke ich.

Lest nicht weiter. Der Rest des Artikels ist für die Akten. Schaut Euch gerne die Tourkarte an, in der der heutige Artikel als Marker an meinem Sehnsuchtsort in Lycksele als orangener Marker mit Buchsymbol zu finden ist.

Über einen See schaut man auf zwei große Gebäude im schrägen Licht der Abendsonne
Hotel und Campingplatzrezeption in Lycksele
Vor einer hellblauen Umkleidehütte aus Brettern sitzt ein junger Mann, die Arme hinter dem Kopf verschränkt an der Wand lehnend, die nackten Füße hochgelegt auf einen Stuhl. An der Hütte sind die dredimensionalen Lettern BAD in roter Farbe festgeschraubt.
Nördlich von Lycksele befindet sich der kleine Badplats (Strandbad) der Gemeinde Ruskträsk, der sowohl 1995 (im Bild), als auch 2015 ‚Sehnsuchtsort‘ der Reisen zum Nordkap war.

Für die Akten. Nachtrag Korrekturen. Tag sieben der Reise 2020 nach Nacht Nummer sechs beginnt gerade. Ein strahlender Montag mit beißend kaltem Ostwind. Die Läden der Stallungen klappern. Ich fürchte um das marode Dach auf der Künstlerbude. Tag sieben der Reise 2000 beginnt nach Nachtlager Nummer sechs auf dem Camping La Motte-aux-Merles nahe Chambilly. Tag sieben der Reise im Jahr 2010 beginnt in Autun, im Nachtlager Nummer sechs auf dem Campingplatz. Darüber wird morgen zu berichten sein.

Col-Art-Collage in Corona-Zeiten

Gemeinsam mit Marc Kuhn, dem Begründer der Kunstbewegung Col-Art  und Rossana Duran haben wir ein Kunstprojekt gestartet, von dem wir hoffen, dass weltweit viele Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, jeglicher Nation teilnehmen. Ziel ist es ein großes, gemeinsames Kunstwerk aus 20×20 cm großen Leinwänden zu gestalten, das in Biel in der Schweiz zusammengenäht wird zu einer großen Leinwand. Hier geht es zur Projektseite.

Zwischen Tisch und Hoffnung | #zwand20 #umsmeer #anskap

Weiß blühende Obstbäume stehen in Reih und Glied am Horizont einer grün-gelb blühenden Wiese. Blauer Himmel mit seichten Höhenwolkenschleiern.

Das einsame Gehöft ist bei Sturm ein unheimlicher Ort. Die schlechte Isolierung der Künstlerbude und die zugigen Ritzen zwischen Türen und Fenstern bescheren einem ein wahrhaft orchestrales Erlebnis, wenn der Wind etwas stärker wird. Ich lebe in einer Ruine, wenn man die Deutung für Normalität heran zieht, die noch bis vor Kurzem als Standard herrschte. Strenger Nordwind klatscht gegen das Fenster, drückt Regen durch Ritzen, die an der Tapete herunter laufen, vorbei am Drucker bis ins kleine Regal, in dem ich dem Druckerpapier vorsorglich mit alten CD-Hüllen etwas Abstand zum Untergrund verschafft habe, damit das Wasser darunter durchfließt. Ein nachmittägliches Decke-auf-den-Kopf-Gefühl macht mich unruhig und ich überlege, eine Runde zu radeln. Der Wind sagt nein. Sagt er das wirklich? Ich muss an das Crask Inn denken, ein einsames Haus im Norden Schottlands an der A 836. A-Straßen sind in England und Schottland so eine Art Bundesstraße. Mindestens. Wenn nicht sogar vom Charakter her wie Autobahnen, also nicht radelbar. Im Norden Schottlands sieht das etwas anders aus. Manchmal sind die A-Straßen dort nur einspurig mit Ausweichstellen, wenig befahren und prima Radelstrecken. Das nationale Radwegnetz Sustrans verzeichnet etliche Radrouten in Großbritannien auf verschlafenen schottischen Hauptstraßen.

Ein atemberaubender Sturm tobt über Schottlands Nordküste. Der Barkeeper des Ben Loyal Hotel, in dem ich mich heute Nachmittag um vier Uhr einquartiert habe, sagt, das sei ein ganz normaler Durchschnittssturm für diese Gegend. Die Bäume auf dem Friedhof haben einen Großteil ihres jungen, Laubs verloren. Hellgrün glänzt die Gosse. Regen prasselt gegen die Glasfront der Hotellounge und kalte Luft dringt durch die Ritzen. Zu Hause hätte ich mich heute nie und nimmer auf die Straße gewagt. So herzlich die Wirtsleute, Kay (Kate) und Mike, im Crask Inn sind, heute morgen war es schwer vorstellbar, dass ich noch einen weiteren Tag dort oben in der Einöde verbringe. Ich hätte nur das kleine Zimmer, das einmal dem Sohn des Hauses gehört hat. Das Hofschild baumelte kontinulierlich gen Norden, in meine Richtung, so dass ich wenigstens keinen expliziten Gegenwind haben würde. Gegen elf schufte ich mich einen halben Kilometer berghoch bei Seitenwind, bis die Straße Richtung Nordost dreht und ich unerwartet durch die Einöde geblasen werde, begegne einem völlig durchnässten holländischen Radler, vollgepacktes Rad, guter Dinge. Ich weiß nicht, ob ich diese Demut aufbringen würde. Er entpuppt sich als Schottlandprofi, hat gewiss schon ganz andere Situationen ausgestanden. Nur kurz schwätzen wir, sonst würden wir auskühlen. Ich überhole einen Marathonläufer, der als Teil einer Staffel einen Weltrekord brechen will: Von Landsend in Cornwall, ganz im Südwesten Englands joggen sie nach John O’Groats und wieder zurück. Begleitet von Wohnmobilen und verfolgt von einem Auto, das mit Warnblinkern vor dem 15 km pro Stunde schnellen Hindernis warnt.

Als selber ein Spinner, darf ich mutmaßen, dass es in der Gegend vor Spinnern nur so wimmelt. Vier klatschnasse Radler kriechen mir auf einer Steigung, die ich gemütlich, den Sturm im Rücken 20 km/h hinauf kurbele mit Schrittgeschwindigkeit entgegen. Ihr hättet ihre strahlenden Gesichter sehen sollen, als ich nach hinten auf ein weißes Häuschen deute, kaum fünf Minuten her, dass ich daran vorbei gesaust bin, und ihnen sage, dass dort ein Pub ist.

Zwischen Tongue und Hope, zwischen Zunge und Hoffnung, schrieb ich diese Zeilen am 14. Mai 2012 während der Liveblogreise rund um die Nordsee.

Einsames Gehöft, Pfalz. Nieselregen fast den ganzen Tag. Das Mieswetter ist perfekt, damit die Leute daheim bleiben. Hasardeur, der ich bin, lege ich die Regenkleider an und sattele das Ebike. Der halbvolle Akku sollte noch genug Saft haben, um eine Runde zu drehen. Schlimmer als Schottland kann es nicht werden und als alter Radeltaktiker starte ich gegen den Wind, um am Ende nach Hause gepustet zu werden. Die Landstraße auf der Sickinger Höhe ist kaum befahren. Jenseits dieses Hauptverkehrsstrangs begegnen mir fast gar keine Autofahrer. Vereinzelte Hundegassigänger im Liebestal, eine vierköpfige Familie. Apnoe-Begegnungen mit freundlich bescheidenem Nickgruß. Allenfalls ein ‚Allo‘ ohne H gesprochen rutscht einem hie und da raus. Und so nähere ich mich der Stadt von Norden, werde, des kaumen Verkehrs sei dank, tollkühn. Biege auf die längste Straße der Stadt ein, die von Ost nach West führt. So wenig Autoverkehr tagsüber habe ich hier noch nie erlebt. Die Parkplätze vor den Lebensmittelläden sind mäßig belegt, viel ruhiger als sonst.

Eigentlich hätte ich längst wieder nach Norden abbiegen müssen, um zurück nach Hause zu gelangen, aber die längste Straße der Stadt bereitet mir in ihrem unbefahrensten Moment solch eine Freude, dass ich einfach weiterbrause, großzügig überholt von einigen wackeren Klopapierjägern auf der Suche nach dem knapp gewordenen, schneeweißen Wild.

Geisterbusse drehen die Runde. Null Fahrgäste in rauschenden Ungetümen. Hier ein Taxi, das einen jungen Mann ausspuckt, dort ein Hipster im Kombi, geschlossenen Fensters E-Zigarette qualmend.

Zweibrücken-Andorra ist in diesem Moment unendlich weit weg. Kaum erinnerbar. Tag fünf der Reise führte mich 2000 von Dijon nach Autun. Zunächst ab Campingplatz Lac Kir auf dem Kanalradweg raus aus der Stadt bis Velars-sur-Ouche. Anschließend auf der Landstraße noch ein Gutstück durchs Ouche-Tal und weiter südwärts. In Bligny, wo ich hoffte einkaufen zu können, ändere ich die Richtung, um vor Karfreitag noch ein paar Lebensmittel einkaufen zu können. Arnay-le-Duc, Partnerstadt von Worms ist das Ziel, das man mir empfiehlt, wenn ich denn noch einen offenen Laden finden möchte. 40 Kilometer Nationalstraße nehme ich dafür in Kauf. Man sieht, wir Menschen würden einfach jede Grenze überschreiten, um unsere Gier nach Kaufbarem zu stillen. Zugegeben, das ist als Radler etwas anderes. Aber dennoch, ich glaube, ich hätte damals prima mit meinen Bordlebensmitteln weiterradeln können. Das Osterwochenende wäre halt kulinarisch recht karg gewesen.

Radler mit bepacktem Reiserad hält den Fotoapparat vors Gesicht und fotografiert in eine spiegelverglaste Tür vor einem Hotel. Auf der hellblauen Fassade sind Schilder befestigt, die die Qualität des Hotels auszeichnen.
In (vermutlich) Champlitte entstand dieses Selbstportrait in der spiegelnden Tür eines Hotels.

2010 liege ich einen Tag zurück auf meiner Radeltour und steuere von Nordosten auf Burgund zu. Nahe Orain passiere ich die ‚Ancienne Porte de Bourgogne‘. Wahrscheinlich liegt dieses alte Pforte im Städtchen Champlitte, das alte Tagebuch gibt da nicht so viel her, hält nur den Namen vor und dass die Gegend die ‚ergiebigste Goldader ist‘. Viele Fotos von Gebäuden und Denkmälern und jungen Getreide- und Rapsfeldern finden sich in meinem Bildarchiv.

Am ‚Canal de Bourgogne vers Champagne‘. Rauschende Schleuse. Ich sitze im [Wind]Schatten eines kleinen Häuschens. Leichter Sonnenbrand auf Nase und Händen, trotz Schutzfaktor 30. Zum Fahren ziehe ich Socken über die Hände [so kalt ist es]. Immer noch fasziniert, was ich 2000 alles habe links liegen lassen: Champlitte zum Beispiel. Aber 2000 war das Wetter schlecht, ich hatte noch Illusionen, kannte die Langsamkeit nicht […]

Die Langsamkeit kannte ich auch auf der Reise 2010 noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie jetzt kenne. Der Stillstand, wie ich ihn drei Artikel zuvor beschrieben habe … 2015 auf dem Weg zum Nordkap, kam ich ihm wohl ziemlich nahe. Und erreichte trotzdem mein Ziel.

Die längste Straße der Stadt führt einmal quer durch Zweibrücken bis zur saarländischen Grenze. Bei einer Bushaltestelle vor einem Wohnhaus steht ein kleiner Beistelltisch. Die schön gedrechselten Beine gefallen mir. Die Resopalvertäfelung mit Mühlenmotiven ist noch gut in Schuss. Sperrmüll? Sonst steht nichts vor der Türe. Ich bin unsicher. Normalerweise würde ich klingeln und nachfragen. Aber in der Pandemie? Eine Weile lümmele ich vor dem Haus und beäuge das Fenster im Parterre, ob vielleicht jemand im Haus ist, mich bemerkt, ich auf den Tisch deuten kann und eine Diebstahl-Handbewegung machen kann und drinnen wird dann mit Daumen hoch signalisiert, nimm’s mit, ist Müll. Nichts. Es scheint logisch, dass ein kleiner Tisch neben einer Bushaltestelle vor einem Haus Sperrmüll sein muss, oder? Passt er überhaupt aufs Radel. Oder muss ich ihn mir um den Hals hängen und vom Tisch gewürgt den steilen Berg zum einsamen Gehöft hinauf ächzen? Er Passt. Gerade so. Mit dem Spanngummi gut verschnürt. Ein Mann ein Tisch, ich empfinde Glück. Die Jagd war erfolgreich. Die letzten zwei Kilometer muss ich denn doch gegen den Wind ankämpfen. Auf der weißen Triesch ist er besonders stark. Windmühlen drehen unermüdlich, erzeugen den Strom für unsere Computer, mit denen wir in dieser schweren Zeit in Kontakt bleiben. Der Bordcomputer zeigt einen Kilometer Reichweite, als ich zurück im Atelier bin.

Dieser Artikel wird in der Karte beim Crask Inn in Schottland als Marker auftauchen.

 

Kontaktlos. Fern. | #zwand20

Straßenfoto vom rechten Straßenrand. Verkehrsreich mit entgegenkommendem LKW neben dem Ortsschild von Dijon.

Ergänzung 11:54. Der ursprüngliche Titel des Artikels wurde geändert. Danke an @bahnhofsoma@fimidi.com für den Hinweis, dass der ursprüngliche Titel unangebracht reißerisch tönte. Stimmt.

Weinend aufgewacht … nein, das ist nicht richtig … aufgewacht aus konfusen Träumen von Gliederheizkörpern, die geometrische Flächen bildeten. Kurze Zeit später schon erinnerte ich mich an überhaupt nichts mehr in diesem diffusen Alptraum. Wie weggeblasen, der Wahn der Nacht. Gliederheizkörper sehen aus wie Gitter und das legt die Assoziation zu dem Rilke-Gedicht ‚Der Panther‘ nahe. Tausend Stäbe, keine Welt.

Geweint habe ich erst, als mir die dramatische Grenzschließung zur Schweiz bewusst wurde und dass Ausländer nur noch ins Land dürfen, wenn sie einen roten Pass haben, eine Bewilligung, wie die Schweizer so schön sagen. Oder wenn sie mit einem Schweizer oder einer Schweizerin verheiratet sind. Selbiges gilt wohl auch umgekehrt. Kurzum, Frau SoSo und ich dürfen uns nicht mehr sehen. Lass‘ uns schnell heiraten, hatte ich gesagt, letzten Sonntag. Wie denn in so kurzer Frist, fragte Frau SoSo. Der wohl unromantischste Heiratsantrag aller Zeiten. Wir spazierten durch von Stürmen gräßlich verwüsteten Wald.

Der gestrige Reisetag, Tag 4 der Reise, führte mich im Jahr 2000 nach Dijon, im Jahr 2010 nur bis nach Preigney, einem kleinen Dorf im Norden Burgunds und heuer, im Jahr 2020, kreiste ich wie ein Panther auf dem einsamen Gehöft zwischen Schuppen und Garage, Holzstapel und Garten, Atelier und Künstlerbude. Tausend Wege auf engstem Raum und als ich versuchte, den Rasenmäher zu reparieren, geriet ich in ein kleines Labyrinth aus Werkzeugsuche-Irrwegen, Schmieröl-Sehnsüchten, Mann ist das hier unordentlich auf dem Hof. Als hätte ein Gletscher ein Geschiebe aus Werkzeugen, Maschinen und Verbrauchsstoffen in chaotischer Endmoräne hierher gebracht und sich schnell schmelzend davon gemacht.

Ich habe gut geschlafen inmitten des städtischen Hintergrundrauschens. War wohl müde genug. Das Vogelzwitschern nimmt man hier nur wahr, wenn man die  Stöpsel aus den Ohren zieht. In solch‘ eine Großstadt hineinzuradeln, ist nervig. Die Rue de Mayence ist eine hässliche Industriestraße ähnlich der Mombacher Straße in Mainz [Dijons Partnerstadt]. Durch eine Großstadt hindurch irren ist nervig.

Im Jahr 2000 war der Radwanderweg, der dem Canal de Bourgogne von Besancon über Dijon westwärts folgt wohl noch nicht so gut ausgebaut. In Dijon stieß ich erst am Ortsende beim Campingplatz am Lac Kir auf den Radweg auf dem ehemaligen Treidelpfad.

Schnitt. Das Fallen der Masken des Kapitals, schießt es mir in den Sinn. 21. 3. 2020. Die Pandemie-Krise spitzt sich mehr und mehr zu. Die Nachrichten vernebeln meinen Sinn. Ich weiß nicht mehr was echt ist, was gekünstelt, was wahr, was falsch. Täglich rufe ich die Landkarte mit den roten Markern ab, die die Fallzahlen weltweit zeigen, klicke Deutschland, die Schweiz, Frankreich, Italien, Schweden, Andorra, USA. In dieser Reihenfolge. Was ist das für eine verrückte Grafik. Todesvoyeurismus? Fallzahlenwettlauf? Die Pandemie saugt mich förmlich auf, nagt das Mark aus meinen Knochen, okkupiert das Gehirn. Schürt die Angst vor Türklinken, Husten, Atmen. Lebensapnoe, Alltagsapnoe. Apnoe soweit das Auge reicht.

Ein wichtiges Paket erwarte ich am gestrigen Tag. Ausgerechnet mit DPD. Der Logistiker machte in der Vergangenheit lästige Probleme hier am Hof, so dass ich für gewöhnlich die Paktete in die Filiale in der Stadt umleitete und sie selbst abholte. Aber die Filiale ist zu. Die ganze Stadt ist zu. Ich war lange nicht dort. Es muss eine Geisterstadt geworden sein. Morgens noch zeigt das Tracking einen möglichen Shop an, in den ich liefern lassen könnte. In Nürnberg. Mittags sind alle Möglichkeiten ausgegraut, nicht mehr anklickbar. Nur noch die Abstellerlaubnis kann man wählen. Die aber will ich nicht geben, wegen der Unzuverlässigkeit. Als der Zusteller völlig erschöpft am späten Nachmittag kommt, scannt er das Paket und reicht es mit langen Armen, nehmen sie einfach. Kontaktlos. Fern. Ich muss, ich darf, nicht unterschreiben. Der arme Kerl. Das Trinkgeld, frage ich, soll ich es ins Auto werfen? Er nickt ängstlich. Fast als ob man eine Münze in einen Glücksbrunnen wirft. Es ist echt zum Heulen, so grotesk, so bizarr, so bis vor Kurzem unvorstellbar wie noch was. Als er die Kurve kratzt im staubigen Hof, reue ich, dass ich ihm nicht einen Schein ins Auto geworfen habe.

Ein handgemaltes Campingplatz-Hinweisschild mit Wohnmobilsymbol und Symbolen für Schwimmbad, WC und Steckdose, dazu die Preisauszeichnung 3 € und ein Pfeil nach rechts. Weiß auf blau.
Hinweisschild auf den Campingplatz nahe Preigney, Übernachtungsplatz Nummer vier der Radreise nach Andorra im Jahr 2010.

Hier ist noch Platz für die Frage, die mir den ganzen Tag schon im Kopf herum geht: Kann ich Gibraltar, oder gar nur Andorra, [gelegen auf halber Strecke], überhaupt erreichen, wenn ich weiterhin so viel fotografiere und so viele Umwege mache und ständig irgendwo verharre? Egal. Diese Strecke will von mir fotografiert werden […] 23. 4. 2010. Preigney, Kirchplatz. Eigentlich wollte ich vorbeifahren, liege ich doch mit der Kilometerleistung (im Vergleich zu 2000) weit zurück. Ha! Leistungsdenken. Langsamkeit ist […] viel besser.

Leistungsdenken. Schon 2010 hatte ich dieses Thema auf dem Schirm, war es Teil des Gedankenkonglomerats, das ich streng kurbelnd durch Burgund mit mir herum schleppte. Mit der Vorlage der Reise aus dem Jahr 2000 als groben Leitfaden hatte ich mir eine Messlatte gelegt. Und wie das so ist mit Messlatten, sie wollen überwunden werden und beim nächsten Lauf höher gelegt werden und wieder überwunden werden und so weiter und so fort. Totale Erschöpfung hin oder her. Verdammt zum ewigen Wachstum. Genau wie die menschliche Wirtschaftsgemeinschaft, in der man aufwuchs. Tugenden und wie es denn bitteschön zu laufen hat in der großen Herde sind mächtige Faktoren, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann. Müßigang? Ein Skandal. Stehen bleiben? Eine Revolution.  Sagen, es ist genug, mehr muss nicht? Eine Katastrophe. Wenn einer stehen bleibt in der sich wie Schlamm durch den Weltmarkt bewegenden Herde, wird er zu Fall gebracht und tot getrampelt. Wenn einer diejenigen, die nicht so schnell sind wie der kollektiv dahintreibende Schlamm, stützt, ihnen ein Teil seiner Kraft spendet, selbst langsamer wird, droht ihm das gleiche Schicksal. Den großen Strom hält keiner auf und auch keine zehn und keinen hundert.

Am wunderschönen gestrigen Tag machte ich einen kleinen Spaziergang auf den Feldern hinter dem Haus. Der Sturm im Februar hatte einen Baum zu Fall gebracht, der nun auf des Nachbars Feld quer lag. Eigentlich hätte ich den Baum schon längst zerkleinert und abtransportiert, aber die Regenfälle hatten den Pfälzer Lehm so sehr aufgeweicht, dass ich es mit dem uralten Porsche-Traktor wahrscheinlich nicht mehr aus dem abschüssigen Gelände zurück geschafft hätte. Der Nachbar kreiste seit Nachmittag auf dem Feld und brachte mit einem Monstrum von Maschine Dünger aus. Er stoppte das Ungetüm, als er mich sah und wir hielten ein Schwätzchen. Steig‘ ein, fahr ein Stück mit. Nein, lieber nicht. Ach sooo, hast ja recht. So redeten wir über den Baum und dass ich ihn bald zerkleinern würde. Freie Fahrt für gutes Wachstum. Und über den zerzausten Wald, wobei mir das Ansichtsgefälle bewusst wurde, das zwischen uns herrscht. Er mokierte sich über die vielen Schäden in unserer Parzelle und dass man doch etwas machen sollte und ich sagte, das geht nicht, ich habe kein Geld, um die Arbeiter zu bezahlen. Plötzlich wurde mir klar, was schief gelaufen ist in den letzten Jahrzehnten. Ich bin nicht mitgewachsen. Ich bin der, der in der Schlammlawine den dummen Mut hatte, zu sagen, es ist genug. Mir reicht das Wenige, das ich habe. Ich bin ja so dumm. Ein dummer kleiner Europenner, der die Not des ewigen Wachsens ignoriert hat. Nun stehe ich da, winzig in Gummistiefeln vor dem Traktor mit den riesigen, mannshohen Reifen, aus dem mein Nachbar mir erklärt, wie das damals lief, als sein Wald zu verkommen drohte und er zwei Fuhren schönstes Buchenholz hatte fällen lassen, nach Wiebke, und die Preise dermaßen im Keller waren, dass am Ende nur 200 Mark hängen geblieben waren. Aber er hatte das gute Gewissen, seinen Wald fein aufgeräumt zu haben. Eine schallende Ohrfeige irgendwie; ein an die Schultafel des Kapitalismus zerren des kleinen verträumten Kunstbübchens durch den gestrengen Herrn Lehrer.

Abenddämmerung. Ich muss, sagt der Nachbar, es wird mir dunkel. Und ich stelle mir vor, er ist ich auf Radeltour und die Dämmerung zwingt ihn, endlich nach einem Lagerplatz für das Zelt zu suchen. Die Scheinwerfer der gigantischen Düngemaschine verlieren sich am südlichen Horizont, zwischen längst angezählten riesigen Pappeln, die irgendwann auf das Feld fallen werden.

Mit Gedanken über die Vorstellung, wie ein Wald auszusehen hat, laufe ich zurück zum einsamen Gehöft. Aus menschlicher Sicht sind schön flach gelegene Wälder mit gesunden, schnell wachsenden Bäumen, durchzogen von einem guten System breiter Waldwege zweifellos vorzuziehen. Das da hinter mir ist alles andere. Eine unzugängliche Schlucht, die man nicht mit modernen Forstmaschinen befahren kann. Am besten würde man den kleinen Fetzen Land mit dem Hubschrauber bewirtschaften. Seil an Baum, unten abschneiden, zum Holzlager fliegen und so weiter und so fort. Der Naturpark Bayerischer Wald kommt mir in den Sinn, den ich letztes Jahr auf dem zweiten Abschnitt des noch immer nicht abgeschlossenen Projekts UmsLand/Bayern sehen durfte. Was für eine Wildnis. Er wird nicht bewirtschaftet. Genau wie unser kleines Stückchen Land. Der einzige Unterschied ist, dass der Bayerische Wald per Gesetz nicht bewirtschaftet werden darf und der Irgendlink’sche per Gesetz eigentlich bewirtschaftet werden müsste. Eigentum verpflichtet, flüstert es in mir. Musst doch was tun, Junge. Schaffen, ranklotzen, wachsen. Da kannst du noch so sehr jammern  – ‚es ist genug, es ist genug, mehr will ich gar nicht. Da, nehmt, ist sogar noch etwas übrig‘ – fern wird das Getrappel der Herde leiser und leiser, während sie dich und ein paar wenige halbtot in einer verwüsteten Gegend zurücklassen.

Ich habe nun am vierten Tag schon mehr Fotos gemacht als auf der gesamten 2000er Tour.

Vielleicht irre ich. Nicht wachsen kann gar nicht funktionieren. 2000 fotografierte ich mit analoger Kamera auf Schwarz-weiß-Filmen. 2010 mit iPhone und DSLR.

Jeder wächst irgendwie irgendwohin. In der Herde jedoch nur dahin, wo es den Leithammeln beliebt.

Lassen wir das.

Zwei etwa vierjährige Knider sitzen auf einer Treppe
Bild aus glücklichen Kindertagen. Irgendlink (links) und seine Cousine.

Abends kam die Cousine vorbei, um ein Hasenklo abzuholen. Irgendwie grotesk. Vor der Tür des Haupthauses standen wir auf der Treppe und redeten. Es gibt eine Fotoserie von uns beiden wie wir als drei-vierjährige nebeneinander auf der Treppe sitzen und in die Kamera lachen. Ein Bild zeigt uns, wie ich ihr einen Schmatzer auf die Backe gebe. Daran muss ich denken, fünfzig Jahre später und muss beinahe weinen. Während wir über das Hasenklo sinnieren und über den Bofrost-Mann, der zu ihnen ins Haus kam und der Cousin, ihr Bruder, habe deshalb die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, lass, um Himmels Willen den Bofrost-Mann nicht ins Haus. Und sie weiters erzählte, der Cousin habe einen leichten Schlag erlitten, nicht schlimm, zum Gück, er habe keinen Schaden davon getragen, stehe aber unter blutverdünnenden Mitteln.

Der Blogartikel ist in der Karte heute beim toten Baum neben dem urwüchsigen Wald eingetragen.

Nachtrag. Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel veröffentliche. Der Nachbar könnte mitlesen und die Worte könnten zu Missverständnissen führen. Es ist nur ein Bild. Wie alle Protagonistinnen und Protagonisten dieses Blogs, dieser Geschichte sind wir Schattenrisse unserer selbst, die dem Hergang der Geschichte dienen müssen. Auch die werte Cousine möge verzeihen, dass ich sie da mit hineinziehe. Ganz dicker Schmatzer auf die Backe!

Und mir selbst sei gesagt: Noch vor nicht allzu langer Zeit hättest du dich nicht getraut, einen solch intimen Artikel zu publizieren. Wenn du nun mit beklommenem Herzen den Publizieren-Knopf drückst, sei stolz! Du hast eine weitere, höherliegende Messlatte übersprungen auf dem nie endenden Immermehr deines Künstler- und Literatenwerdegangs.