Vogesen-Jura-Alpen Radtour 09, Tag 3

Notizbuch verloren? Zumindest kann ich das kleine, lederne, braune Teil mit den wichtigen Worten nicht mehr finden. Es wäre tragisch, wenn ich es im Büro hätte liegen lassen und es in die falschen Hände gekommen wäre. Brisantes Zeug steht drin. Bin immer noch vollkommen KO. Das darf eigentlich nicht sein. Im Büro hab ich ja eigentlich nichts zu tun. Trotzdem muss ich mich, sobald ich heimkomme, hinlegen. Ora et Labora, sagten schon die Lateiner: schlafe und arbeite ;-)

Ich kann ja viel erzählen, gell?

27. Juli. Sah verdammt nach Regen aus am dritten Tag der Radeltour – der Abstieg vom Col de Prayé ist grandios – ich möchte die lange, gerade Strecke nicht hinaufradeln müssen.

Das Bild zeigt den Aufzug einer Gewitterwand in La Petite Raon. Kein gutes Gefühl für einen Radler, wenn nach Tagen des Lichts die Dunkelheit über einen hereinbricht. Doch ich war gewappnet mit Regenhose, Jacke und sogar Gamaschen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatte es über 30 Grad, extreme Schwüle, ich sehnte mich nach einem klimatisierten Supermarkt und fand in Raon und später in Senones eine seltsame, zerfallende Westvogesenwelt. Einst musste hier das christliche Leben geblüht haben, aber heute … zerfallene Gebäude, Häuser zum Verkauf –  Schilder von Vosges Immobilieres, riesige Kirchen, Klöster in Senones und Moyermoutiers. Ein Geruch von Pilgerei, verlasse das Land, lauf dir die Füße wund, lag in der Luft. Seichte Orgelmusik irgendwo. Ein leeres Straßencafé, geöffnet, waghalsige Motorradfahrer zerreißen die Stille, an den Ecken liegt Müll. Hoffnungslosigkeit. Die Gewitterwand vermittelte mir ein beklommenes Gefühl. „Musste eignetlich nur noch das Tal bis zum Ende rollen, dann abbiegen nach links, nach Südosten, im nächsten Tal zurück in die Vogesen und du hast die Sonne wieder im Blickfeld“. Es ist erstaunlich, wie wahr der Klamauk des großen Flann O Brien (Der dritte Polizist) doch ist: jede Straße hat ihre Richtung und bereist du sie in die falsche Richtung, widersetzt sich der Weg wie eine angestochene Sau. Drehst du dich aber in die richtige Richtung, fliegt dir der Weg geradezu entgegen. Ich durchquerte Senones bei ersten Donnerschlägen und einem Hauch von frischem Wind. Für den Moment eines Regenschauers duckte ich mich unter hunderte Jahre alten Torbögen, Blick auf den großen Platz, Blick zur Kirche, aber sobald der Regen nachließ, kurbelte ich wie verrückt die D424 hinunter, um ins Tal der Meurthe zu gelangen. Erst dort könnte ich halbwegs schmerzfrei in Richtung Sonne schwenken, in Richtung Berge. Das würde zwar wieder aufwärtsradeln bedeuten, aber, so glaubte ich, wenigstens in die richtige Richtung.

Tatsächlich ließ das Gewitter am Nachmittag nach. In Clairefontaine schliefe ich zwei Stunden in einer schönen offenen Fischerhütte vor einem kleinen Tümpel. Direkt nebenan Friedhof und Kirche.

Weiter nach Saint Remy. Dort irrietierte mich ein Schild, auf dem ein See angekündigt wurde. Ich folgte leider steil bergauf, fand nichts, träumte von kühlem klarem Gebirgswasser und verirrte mich. Ein betrunkener Förster erklärte mir den Weg zurück: Ein See? Gibts hier nicht.

Auf ruhigen, schönen, kaum befahrenen Sträßchen könnte ich bis ans Ende der Welt radeln. Kein Wunder also, dass ich in La Salle den Weg nach Les Rouges Eaux einschlug. Eine Epiceriebesitzerin erklärte, es ginge ein wenig bergauf, aber dann auch wieder abwärts. Orakulös wie die Schweizer, wie ich noch erfahren sollte. Ich kaufte Wein und drappierte die Flasche im Trinkflaschenhalter. So sieht jeder, dass ich ein Europenner bin. Kurbelte los. Das Gewitter meldete sich zurück, seichtes Grollen von Nordwest, ein kleines Bachtal, welches sich in dunklem Fichtenwald auflöste und nienienie enden wollte. Kurz vor der Passhöhe holte mich das Gewitter ein. Dicke Tropfen, Vorboten, kamen, sahen, gingen, ich kurbelte weiter und verfluchte den Straßenbauer, dass er nicht wie beim Col du Donon ab und zu ein Höhenschild aufgestellt hatte. Nun war ich umschlossen von Wolken und hatte, oben angekommen, die Möglichkeit, mich in der Kapelle am Col de Mon Repos zu verkriechen. Aber das Ding war so unheimlich. Jungfrau Maria glotzte mich an, ich kenne meine Psyche, die dreht durch nachts. Wenn ich hier bleibe, finde ich nicht viel Schlaf. Wenn ich abrolle, kann ich in Les Rouges Eaux ein Zimmer nehmen. Bevor es richtig losgeht, beschließe ich abzurollen. Die Szene ist um 18 Uhr stockendüster und von Westen nähert sich eine unüberschaubare Wolkenwand. Im Glauben an ein Hotel oder eine Pension rolle ich ab, erreiche halbwegs trocken ein längliches Dorf, in dem nur wenige Häuser bewohnt sind. Eine Mairie (Rathaus) gibt es, eine Kirche, eine Bushaltestelle, irgendwo wohnen Deutsche. Insgesamt scheinen nur 30 Prozent der Häuser bewohnt, keine Pension und der Besitzer einer Gite (Ferienwohnung) schickt mich ins 8 km entfernte Bruyeres). Scheiße. Geisterdorf. Kurzerhand richtete ich mich in der Bushaltestelle ein und verbrachte eine sehr sehr sehr ruhige Nacht. Niemand hat mich bemerkt.

PS: Notizbuch wieder gefunden: für die dritte Etappe der Vogesen-Jura-Alpentour liegen keine Notizen vor. Nur kurze Zahlenketten, die mir zeigen, wo die Fotos in ungefähr aufgenommen habe. Dies deutet auf einen sehr anstrengenden Tag hin.

PPS: Der Wein brachte auch keine Bewusstseinserweiterung.

Packliste Radeltour zwei Wochen, Europa, Sommer

Packliste für die VogesenJuraRadeltour:

  • Fahrrad, Luftpumpe, Schweizer Messer mit Imbusschlüsseln, Flickzeug, Batterielichter Vorne Hinten.
  • Zelt, Tagesrucksack unterwegs kaufen, falls man mal Offbike unterwegs ist.
  • Kocher (Trangia), Essbesteck, 1 l Spiritus
  • Isomatte Schlafsack
  • Je 2 Paar Socken, Unterhosen, T-Shirts, 1 Pullover, Regenklamotten, 1 Leggins, Handtuch
  • Am Leib: T-Shirt, bequeme Hose, Unterhose, Socken, Schuhe, Helm.
  • Handy, Digital SLR, Objektive, Ladegeräte
  • Zahncreme, Shampoo (dient auch als Waschmittel), Zahnbürste, Rasierzeug
  • 200 g Kaffee, Salz, Pfeffer – alle anderen lebensmittel nach Bedarf kaufen.

Alles passt in zwei Hecktaschen, Gepäckrolle und Fronttasche.

Optimierte Packliste für Spartaner:

Handy erweist sich als überflüssigster und lästigster Ausrüstungsgegenstand. Nikon D300 Ladegerät kann man getrost zu Hause lassen, wenn man nicht mehr als 1000 Bilder macht und auch nicht mit dem Display herumspielt. Halbierte Wäscheration, kein Zelt, weil man ja auch prima in Picknickhäuschen pennen kann, stattdessen Moskitonetz. Kocher zu Hause lassen bzw. nur 200 ml Spiritus. 400 g Kaffee.

Somit wäre Ankes Frage in einem Artikel zuvor beantwortet.

Ohne Bequemlichkeiten und maßlose Exzesse, hätte ich die Tour mit 230 Euro bezahlen können.

Habe natürlich etwas mehr Geld verprasst.

Demnächst weitere Bilder, weitere Reisetage, sowie eine Geschichte, sagen wir einen Beruf, den mir Freund B., der mich eben spontan besuchte, erzählte: Vorhautzüchter (nein, das stammt im Gegensatz zum Kußhandvorwärmer nicht meinem kranken Hirn) ;-)

Heute die Galerie-Funktion von WordPress entdeckt und im Artikel über die Reggaerockers am Ohmbachsee eine kleine Galerie addiert. Werde unter diesen neuen Erkenntnissen entgegen aller Unlust noch einen Artikel über die zweiwöchige Radeltour addieren.

Kusshandvorwärmer

Im Dunst der feuchten Nacht – riesen-Sternschnuppe gesehen und Riesenwunsch gedacht, „boa“, sag ich zu Journalist F., „was für ein Fetzer, der klatscht auf, so groß ist er. Hoffentlich trifft der nicht den Tackerhof“, denn genau dort im Nordwesten ging der Sternbrocken nieder. Es ist ohnehin erstaunlich, dass die Leo-Dingsda außerhalb der Kasiopeia runtergehen.

Einerlei. Unruhig wälzte ich spätnachts hin und her. Die Uhr war auf zwanzig vor Neun stehen geblieben. Der feuerrote Schlafanzug juckte, als lebten tausend wilde Wanzen darin. Ich beschloss, wieder Nacktschläfer zu werden. Es geht mir ja auch besser. Ich muss nicht mehr befürchten, dass sie mich nachts abholen und ins Krankenhaus, in den Knast oder in die Irrenanstalt einliefern.

Im Halbschlaf dachte ich abstruses Zeug wie etwa, ich habe einst als Kusshandaufwärmer gearbeitet am Hof Ludwigs des 14., denn – das wusste damals jeder – bei korsettierten Damen sammelt sich alles Blut im Unterkörper, der junge Newton hat es mathematisch bewiesen. Kein Tropfen Blut mehr im Oberkörper der Mätressen und Hofdamen, so dass insbesondere die Kusshände eine Temperatur von bis zu Minus 14 Grad erreichen konnten. Das versursacht auf den feinen Lippen meiner adligen Auftraggeber Gefrierbrand, welcher (wie jedes Kind weiß) zur Siphyllis auswächst. Nicht mehr und nicht weniger. Deshalb war ich von 1476 bis 1618 bei Ludwig XIV. als Kusshandaufwärmer angestellt, just bis zu jenem Tag, als ein Gesetz erlassen wurde, dass man beim Handkuss die Hand nicht mehr mit den Lippen berühren darf – allsolches Zeug träumte ich heute nacht, entledigte mich meines feuerroten Schlafanzugs, meine Hände waren durch seine korsettartige Enge auf Minus XIV Grad ausgekühlt, ich schwörs, Mein Eid, so ist das wirklich gewesen.

Etwas Halbwaches in mir wollte noch schnell einen Artikel schreiben über all die abstrusen Berufe, die ich im Laufe der Jahrhunderte ausgeübt habe, aber bin ja leider kein Nacktblogger, ließ sein, schlief ein, vergaß; einzig geblieben ist der Kusshandvorwärmer.